Donnerstag, 14. August 2014

WELCH EINE ZEIT

Aufgelegt am 

Mittwoch, den 13. August 2014


WELCH EINE ZEIT
Einar Schlereth
Hier stehst du
zwischen Glas und Asphalt und Beton
und deine Tränen 
gerinnen zu Glysantin
du willst zurückweichen
auf einen Steinwurf
wenigstens
aber du stehst 
festgegossen
und deine Ohmacht
brüllt mit eisern zusammengebissenen Zähnen
A M O K
du versuchst
Zeit und Stunde zu bestimmen
des GROSSEN AUFRUHRS
und denkst
es muss JETZT sein - GLEICH
wo doch die Flüsse sich schon wehren
einfach kippen
nur noch stinken
ganze Stadtviertel verpesten
fragend schaust du 
in die Gesichter der Menschen
den HEILIGEN ZORN zu finden
und stößt auf Leere
wo doch die Bäume sich schon wehren
mutlos im Sommer
die Bätter abwerfen
wo doch die Vögel sich schon wehren
erschöpft hinsinken
 um zu sterben
und die Tiere im Wald
und die alten Menschen schon
mitten im Satz 
nach dem Herzen greifen
und umfallen
Und du wartest auf die EMPÖRUNG
wie auf die Geliebte
Zeichen und Schritte deutend
inmitten
steingewordener Unmenschlichkeit
Was früher nur Götter vermochten
Menschen in Stein zu verwandeln
schaffen heute eine Handvoll Menschen
und du denkst
an die barbarischen Verbrechen der Cäsaren
an die perverse Grausamkeit
der Hexenprozesse und Scheiterhaufen
an die dumpfe Gefühllosigkeit
der hunnischen Reiterscharen
an das große Bauernschlachten
der Fürsten und Fugger
an die Ermordung und Verschleppung
der 150 Millionen Afrikaner
an die Hekatomben bei Verdun und Stalingrad
an die große Fratze dahinter
Und du sträubst dich
dies alles harmlos zu finden
im Vergleich zu HEUTE
unterm Joch der vergangenen 100 Jahre
die nicht zählen
Und du fühlst der Zeit den Zahn
und findest das Loch
und bohrst
und wartest auf den AUFSCHREI
Aber die Zeit
sie gähnt nur
Welch ein Zahn
Welch eine Zeit.

25. August 1975
Glaubt jemand, dass man so etwas damals veröffentlichen konnte?

IN DER SCHULE

Samstag, 9. August 2014


IN DER SCHULE
Einar Schlereth
In der Schule lernt man
still zu sitzen
weder rechts noch links
sondern geradeaus
auf den Lehrer zu schaun
auf unsern Staat 
und die Religion zu baun
zwei mal zwei war schon immer vier 
man übt auf dem verstimmten Klavier
man lernt
dass unrecht Gut nur schlecht gedeiht
Napoleon war ein großer Mann
natürlich kommt auch Goethe dran
und Marx der war nicht recht gescheit
man lernt
dass manchmal tödlich ist ein Schlangenbiss
und dass der liebe Gott allmächtig ist
man vergisst viel schneller 
als man lernt
doch darauf kommt es gar nicht an
das Pensum wird bewältigt
zuweilen vergewaltigt
besonders die neure Geschichte
da der Lehrer ein ältrer Jahrgang ist
und die jüngsten Ereignisse
schnell vergisst
und fragt einer wie man Kinder kriegt
ist die ganze Stunde versiebt
es gibt hinter die Ohren und Strafarbeit
das entspricht immer wieder 
dem Geist der Zeit
nur immer geradeaus geschaut
nicht links noch rechts
zum Nebenmann und Fenster hin
denn dort - dort geht das Leben
und hier - hier lebt man schön daneben.
Freiburg im Breisgau
1966

DER DONNER DER AURORA

Freitag, 1. August 2014


DER DONNER DER AURORA


Einar Schlereth
Noch ist der Donner der Aurora nicht verhallt
als in Gdansk und unter'm Hradschin
Qualm und Rauch  das rosa Antlitz 
der Eos, zornrot, tränenrot in Dunkel hüllt.
Schon breitet winterliche Kälte der Palast
neuerlich, wo der Proleten
Macht ganz kürzlich noch in Werken
der Menschen Hoffnung erstmals genial gefasst.
Doch mächt'ger Wind erhebt sich fern im Osten. Rot
peitscht er frei den Himmel. Feuer-
zungen an dem Ungeheuer
gefräßig zehren. Welten sind nicht mehr im Lot.
Schon hat auf roten Fetzen Tuch sich festgekrallt 
- Eos Trauer - die Zikade,
zirpt die Internationale,
die drohend jetzt den Mächt'gen in den Ohren schallt.
Noch ist der Donner der Aurora nicht verhallt.

Hamburg, den 18. Dezember 1971
Am Abend des 25. Oktober 1917 gab ein Schuss des Panzerkreuzers Aurora das Signal zum Sturm auf den Winterpalast des Zaren, die letzte Festung der Provisorischen Regierung  in Petrograd, dem späteren Leningrad.
Aurora ist der lateinische Name der griechischen Göttin der Morgenröte, Eos, Schwester des Helios und der Selene. Sie liebte Tithonos, für den sie von Zeus die Unsterblichkeit erbittet, wobei sie aber vergisst, auch um ewige Jugend zu bitten; sie selbst verwandelt den gealterten Tithonos in eine Zikade.
Maos allgemeiner Satz, der Ostwind besiegt den Westwind, hat sich nach dem Verrat an Lenins Revolution  im besonderen bewahrheitet. 
Die Aufstände in Danzig und Prag wurden teilweise unter roten Fahnen geführt. 
Vor 43 Jahren schrieb ich an meinem Geburtstag dieses Gedicht, als ich noch jung und voller Hoffnung war.  Nun frage ich mit Villon: "Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?"



Nobodys Memories

Montag, 8. Juli 2013


Nobodys Memories


Ein Memoiren-Versuch, mit dem ich mich in die Reihe derjenigen stelle, die absolut keine Memoiren schreiben sollten.  Wie es doch dazu kam, schildere ich in den folgenden Zeilen. Es geschah als Zeitvertreib, nicht, weil ich mich wichtig nehme. Und es hat Spaß gemacht - das war wichtig.
Ganz ehrlich gesagt, ist die Idee zu diesem Buch nicht auf meinem Mist gewachsen. Mein Freund Kalle Hägglund aus den 60-er Jahren in Stockholm besuchte mich hier in Motril. Wir sprachen wie immer über Politik, Gott und die Welt und natürlich erzählten er und ich auch aus unserem Leben. Da meinte er plötzlich: Jävlar, detta måste du skriva upp. Zum Teufel, das musst du aufschreiben. Ich habe das als eine Schnapsidee beiseitegewischt. Aber als dann die mir vom Luchterhand felsenfest versprochenen Aufträge nicht eintrafen, fing ich etwas unentschlossen und eher zerstreut an, Notizen zu machen. Bis es mir Spaß zu machen begann. Schreiben können, ohne auf irgendwen Rücksicht nehmen zu müssen. Als ich dann die ersten Seiten durchlas, war mir auch klar, dass das kein Schwein jemals drucken würde. Habe es auch nie versucht. Doch - vor kurzem fragte ein Verlag an. Ich schickte es 
los - insgeheim denkend, dass die sich wundern werden. Naja, sie lehnten dann auch sehr schnell ab. 
Einige Jahre später - inzwischen war ich hierher nach Klavreström in Småland im Süden Schwedens gezogen - besorgte ich Kalle Hägglund hier Büro, Lagerraum und ein Haus für seinen Verlag, weil in Stockholm die Preise ins Endlose stiegen. Und irgendwann wollte er wissen, was aus den Memoiren geworden ist. Da er kein Deutsch konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als ein paar Kapitel zu übersetzen. Sie gefielen ihm und er war entschlossen, sie zu drucken. Also übersetzte ich weiter und er redigierte. Und dann starb er Knall auf Fall. 
Damit war für mich der Fall endgültig erledigt. Dachte ich, denn das Klinkenputzen habe ich um 1998 endgültig aufgegeben. Bis ich nun nach zwei Jahren ernster Arbeit mit meinen Blogs den Gedanken hatte, für meine nicht gedruckten Bücher einen Blog zu schaffen. Denn mit einigen Büchern hatte ich nicht so viel Glück. Die wurden mir geklaut, raubgedruckt, Verlage gingen bankrott oder die Verleger starben. Nun denn, hier der erste Versuch. Vielleicht hat ja der eine oder andere Spaß dran.
Ach ja, noch eine Anmerkung dazu. Da ich oft beim Lesen von Memoiren das Gefühl hatte: 'Nun spinnt der aber oder phantasiert', habe ich mir vorgenommen, Fakten und keine Phantasien zu erzählen (da ich über 60 Tagebücher mit was weiß ich wievielen tausend Seiten hier liegen habe, ist es auch leicht, Kontrollen zu machen). Und da ich auch an diesem Text nichts ändern wollte, selbst wenn ich zu anderen Auffassungen kam, stellte ich mir ein 'Work in progress' vor, in dem ich unter Angabe des Datums neue Texte eingab. Das tat ich einige Jahre, bis das Vorhaben einschlief und das Manu zu verstauben begann. Bis jetzt.
Einar Schlereth
MOTRIL/Spanien
1994 - fortlaufend
Drei Monate lang kein Wort geschrieben - doch, Briefe, Tage­buch und sowas. Belanglos. Oder nicht, was weiß ich. Eigent­lich möchte ich andere Dinge schreiben. Ich möchte Worte schreiben können wie Hammerschläge, wie Peitschenschläge, aber die gibt es nicht mehr. Alle Worte haben ihre Bedeutung und ihren Biß verloren, seit Luther seine Thesen an das Tor schlug - jeder Hammerschlag ein Wort und jedes Wort ein Hammerschlag. Mit demselben Hammer hätte man ihn erschlagen müssen, als er zu dem fetten Schwein wurde, das die Scheiße der Fürsten fraß. Gab es jemals wieder in Deutschland einen solchen Furor, wie ihn jene Worte bewirkt hatten? Ich bezweifle es. Nicht einmal das Manifest von Marx und Engels. Das war eine Bombe mit Lang­zeitwirkung, deren schmorgelnde Zündschnur lange niemand be­merkte.