Samstag, 19. Dezember 2015

Nobodys Memories

Montag, 8. Juli 2013

Nobody Memories (PDF-Format)


Donnerstag, 14. August 2014

Nobodys Memories




Ein Memoiren-Versuch, mit dem ich mich in die Reihe derjenigen stelle, die absolut keine Memoiren schreiben sollten.  Wie es doch dazu kam, schildere ich in den folgenden Zeilen. Es geschah als Zeitvertreib, nicht, weil ich mich wichtig nehme. Und es hat Spaß gemacht - das war wichtig.
Ganz ehrlich gesagt, ist die Idee zu diesem Buch nicht auf meinem Mist gewachsen. Mein Freund Kalle Hägglund aus den 60-er Jahren in Stockholm besuchte mich hier in Motril. Wir sprachen wie immer über Politik, Gott und die Welt und natürlich erzählten er und ich auch aus unserem Leben. Da meinte er plötzlich: Jävlar, detta måste du skriva upp. Zum Teufel, das musst du aufschreiben. Ich habe das als eine Schnapsidee beiseitegewischt. Aber als dann die mir vom Luchterhand felsenfest versprochenen Aufträge nicht eintrafen, fing ich etwas unentschlossen und eher zerstreut an, Notizen zu machen. Bis es mir Spaß zu machen begann. Schreiben können, ohne auf irgendwen Rücksicht nehmen zu müssen. Als ich dann die ersten Seiten durchlas, war mir auch klar, dass das kein Schwein jemals drucken würde. Habe es auch nie versucht. Doch - vor kurzem fragte ein Verlag an. Ich schickte es 
los - insgeheim denkend, dass die sich wundern werden. Naja, sie lehnten dann auch sehr schnell ab. 
Einige Jahre später - inzwischen war ich hierher nach Klavreström in Småland im Süden Schwedens gezogen - besorgte ich Kalle Hägglund hier Büro, Lagerraum und ein Haus für seinen Verlag, weil in Stockholm die Preise ins Endlose stiegen. Und irgendwann wollte er wissen, was aus den Memoiren geworden ist. Da er kein Deutsch konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als ein paar Kapitel zu übersetzen. Sie gefielen ihm und er war entschlossen, sie zu drucken. Also übersetzte ich weiter und er redigierte. Und dann starb er Knall auf Fall. 
Damit war für mich der Fall endgültig erledigt. Dachte ich, denn das Klinkenputzen habe ich um 1998 endgültig aufgegeben. Bis ich nun nach zwei Jahren ernster Arbeit mit meinen Blogs den Gedanken hatte, für meine nicht gedruckten Bücher einen Blog zu schaffen. Denn mit einigen Büchern hatte ich nicht so viel Glück. Die wurden mir geklaut, raubgedruckt, Verlage gingen bankrott oder die Verleger starben. Nun denn, hier der erste Versuch. Vielleicht hat ja der eine oder andere Spaß dran.
Ach ja, noch eine Anmerkung dazu. Da ich oft beim Lesen von Memoiren das Gefühl hatte: 'Nun spinnt der aber oder phantasiert', habe ich mir vorgenommen, Fakten und keine Phantasien zu erzählen (da ich über 60 Tagebücher mit was weiß ich wievielen tausend Seiten hier liegen habe, ist es auch leicht, Kontrollen zu machen). Und da ich auch an diesem Text nichts ändern wollte, selbst wenn ich zu anderen Auffassungen kam, stellte ich mir ein 'Work in progress' vor, in dem ich unter Angabe des Datums neue Texte eingab. Das tat ich einige Jahre, bis das Vorhaben einschlief und das Manu zu verstauben begann. Bis jetzt.

Einar Schlereth
MOTRIL/Spanien
1994 - fortlaufend
 

Drei Monate lang kein Wort geschrieben - doch, Briefe, Tage­buch und sowas. Belanglos. Oder nicht, was weiß ich. Eigent­lich möchte ich andere Dinge schreiben. Ich möchte Worte schreiben können wie Hammerschläge, wie Peitschenschläge, aber die gibt es nicht mehr. Alle Worte haben ihre Bedeutung und ihren Biß verloren, seit Luther seine Thesen an das Tor schlug - jeder Hammerschlag ein Wort und jedes Wort ein Hammerschlag. Mit demselben Hammer hätte man ihn erschlagen müssen, als er zu dem fetten Schwein wurde, das die Scheiße der Fürsten fraß. Gab es jemals wieder in Deutschland einen solchen Furor, wie ihn jene Worte bewirkt hatten? Ich bezweifle es. Nicht einmal das Manifest von Marx und Engels. Das war eine Bombe mit Lang­zeitwirkung, deren schmorgelnde Zündschnur lange niemand be­merkte.
Also Worte wie Hammerschläge is' nicht. Nicht nur, daß die Worte ihre Bedeutung und ihren Inhalt verloren haben, sondern auch - gäbe es sie denn - die Unmöglichkeit, sie irgendwo an­zuschlagen. Wo man hinhaut, nichts als der zähe Schleim der Lüge, die stinkende Kotze der Medien, die Kloake der Regie­rungsscheißer und Industrieabzocker. Und doch können wir ohne Wörter nicht leben und nicht denken, auch nicht ohne das ge­schriebene Wort. Wir, die wir die Worte lieben, können nur immer wieder versuchen, ihnen gerecht zu werden, sie ehrlich und ohne Schminke auftreten zu lassen.

Ich gehe hinunter in das Städtchen Motril, am Fuße der Sierra de Lujar. Wie immer Concerto grosso der Vögel in den beiden Pinien unterhalb des Krankenhauses. Warum geht einem beim Ge­sang der Vögel das Herz auf? Weil er nicht Lüge ist wie das Gezwitscher der Menschen. Nicht wie da hinter mir im Hospital. Madre mia, quien va ayudarte en morir? Niemand, niemand, meine Alte, wird dir beim Sterben helfen, das mußt du alleine besor­gen. Deine ganze Brut, der du das Leben geschenkt hast, flat­tert um dich herum und belügt dich. Besonders die eine, die du nie besonders leiden konntest, weil sie verlogen und frömmelnd ist - die, die kommt natürlich besonders oft. Und warum wirfst du sie nicht alle hinaus und stirbst mit Anstand und ohne Lü­ge? Aber lügen sie nicht alle, vom Chefarzt bis zur kleinen Krankenschwester? Erzählen einem, daß alles wieder gut wird, wenn man doch genau weiß, daß man sterben wird, daß ihre ganze Kunst nichts helfen wird?




 Eine Frau hat kürz­lich ein Buch veröffentlicht, das diese These stützt und die Mutterliebe als grandiose Lüge entlarvt, all die Frauen auf's Korn nimmt - und seien es Intellektuelle (die besonders) - die gleich nach dem Akt des Gebärens sich in Mütterkühe verwan­deln. Die Kinder in Instrumente ihrer Macht und die Männer in Hanswürste ummodeln. Was ich immer gesagt habe. Ich glaube, nirgendwo wird so penetrant, so impertinent und so permanent gelogen wie in der Mutter - Kind - Beziehung. Ja, ich weiß, es hat irgendwann und irgendwo mal eine Ausnahme gegeben, aber davon rede ich nicht. Ich rede von der REGEL, die jeder mit offenem Blick überall beobachten kann.

Mit der Geburt geht doch das ganze Elend schon los. All die Erwach­senen, die in die Wiege glotzen und kein vernünftiges Wort rausbringen, nur tätätä und tütütü und ach wie süß, und wenn die Süßen so häßlich wie Kanalratten sind. Was die mei­sten sind. Im Suff und ohne Liebe gezeugt und meist noch niko­tin- und alkohol- und drogengeschädigt.

Und so geht das Lügen munter weiter, unter aktiver Beteiligung der süßen Kleinen, sobald sie den Mund aufmachen können. Denn clever sind die Kurzen, auch wenn sie `ne Klatsche haben. Die merken doch sofort, daß man ohne Lügen nicht weit kommt. Was die wirklich von den Alten halten, kann man an ihren Blicken ablesen, die sie ihnen zuwerfen, sobald sie sich unbeobachtet glauben.

Da, da läuft gerade so eine "Mutterkuh" mit ihrem jüngsten Wurf vorbei. Dieser Balg, was aus dem wird, läßt sich schon jetzt an seinen fünf Jahren ablesen. Dieser Blick auf ihre Worte. Aber sofort das berechnende Grinsen in der Fresse, so­bald sie sich ihm wieder zuwendet. Und es ist dieselbe kalte Berech­nung, die der Alten, die noch keine 25 Jahre hat, im Gesicht steht. Wie sie gekleidet ist, hat sie sich teuer ver­kauft und bezahlt hat sie mit Lustlosigkeit, Lieblosigkeit, Lüge.
 


Doch sie lügt nicht allein. Er genau so. Immer, auch dann, wenn es nicht Not tut, wie eine Freundin sagt. Schaut einem treuherzig in die Augen und lügt. Er lügt und lügt und lügt immer, wenn er das Maul aufmacht.

Vor dem Einschlafen lag ich lange wach und schrieb Seite um Seite weiter. Beispiele über Beispiele. Heute morgen um sechs Uhr aufgewacht und weitergeschrieben. Und so geht das seit Jahren schon. Seit Jahren? Seit Jahrzehnten. Wenn ich es recht überlege, dann sind es mindestens 40 Jahre. Damals, als ich begann zu schreiben oder vielmehr nachzudenken. Über all die Heuchelei und Verlogenheit. Die Eltern, die ihr Zusammenleben auf einer Lebenslüge aufbauten; die Nachbarn, die Bewohner der kleinen Stadt, der Dörfer drumherum, die alle so gut katho­lisch und fromm waren, daß sie uns Flüchtlinge in den tiefsten Grund der Hölle wünschten. Damals, als ich begann, an dieser Welt zu leiden, begann, mich nach einer besseren Welt zu seh­nen. Als mir klar wurde, daß ein gut Teil der Schuld an der Verlogenheit der Welt die Religion trägt, damals, als ich mit einem komplizierten Beinbruch Monate im Bett zubrachte.

Viel später gewann Marx allein schon deshalb meine Sympathie, weil er meine Gedanken schon 100 Jahre früher gedacht hatte. Aber so richtig ich auch den Kampf gegen die Religion in den Ostblockländern fand, so sehr lehnte ich stets die Methoden ab. Denn Gläubigkeit ist eine Krankheit, eine Sucht, die nur mit Fingerspitzengefühl, Geduld und Humanität geheilt werden kann - wenn überhaupt. Aber genau daran mangelte es in allen sogenannten sozialistischen Ländern, weil das zutiefst humane Denken von Marx nicht begriffen wurde. Und wenn einer es ver­stand, wie Mao, dann fehlten ihm die Zeit und die Menschen, um dieses Denken zu verallgemeinern.

Mit dem Schließen der Moscheen und Kirchen, wie in Albanien, ist es ja nicht getan. Oder mit dem Verbot, den Glauben zu praktizieren. Dabei hatten die Kommunisten alle Chancen. Die Pfaffen und Hodschas - dieses ganze faule Gesindel, wie Thomas Morus sie nennt - hatten sich durch ihre Kollaboration mit den alten und neuen Mächten für alle Ewigkeit diskreditiert - so hätte man meinen sollen. Doch dabei vergißt man die maßlose Vergeßlichkeit des Menschen.

Doch was soll's. Nirgends auf der Welt gibt es nur den Ansatz des Willens, die Religion zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil. Man paßt sich lieber an, denn an allen Ecken und Enden werden wie­der Scheiterhaufen angezündet, und man möchte nicht riskieren, ihn besteigen zu müssen. Als hätte es nie eine Aufklärung ge­geben. Aber wen wundert es? Das ist das Wesen einer jeden Re­ligion. Wenn der Wind ihr ins Gesicht bläst, macht sie ein Schafsgesicht, doch sobald sie eine Chance hat, kehrt sie ihr Wolfsgesicht hervor und reißt, was immer ihr in die Quere kommt. Alle Religionen, sage ich. Die Hindus massakrieren die Moslems und die Moslems die Hindus, und die ach so sanften Buddhisten bringen alle Andersgläubigen um, wenn sie die Chan­ce haben, und die Christen jedweder Couleur, na, die waren im Morden und Totschlagen immer besonders gut. Du hast Recht, verehrter Liebermann, man kann unmöglich so viel fressen, wie man kotzen möchte.

(rot) Eigentlich wollte ich schon lange an (mit) diesem Text weiter­arbeiten, d.h. ihn nicht verändern oder `korrigieren' oder verbessern, sondern vielmehr ergänzen. Mir fallen immer wieder Dinge ein, die ich vergessen habe oder die ich verkürzt wiedergegeben habe. Es sind jetzt ca. zwei Jahre seit der Nie­derschrift (1993) vergangen. Aber ich möchte die `Neuzugänge' kenntlich machen, am besten mit einer anderen Farbe. Also neh­me ich erst einmal rot. Weitere Farben können in späteren Jah­ren fol­gen.(rot)




Ich halte dies für ein übles (nicht das übelste) Beispiel für den Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Durch den Egoismus dieser Frau wird das Kind von vornherein betrogen. Ihm wird ein wesentlicher Bestandteil der Liebe - die Vaterliebe - vorenthalten. Was von der Mutter durch ver­doppelte `Liebe' gutgemacht wird, womit das Kind aber ledig­lich noch mehr verdorben wird. Ich denke, die Liebe zu einem Kind muß vielfältig sein, nicht monolinear. Die Liebe der Mut­ter unterscheidet sich von der Liebe der Großmutter, der Groß­eltern, von der des Vaters, der Geschwister oder Verwandten. Eine Person allein kann das nicht geben. Diese Mutter erteilt sich `aus Liebe' diktatorische Vollmachten. Der arme Paul - er hat gute Chancen, entweder schwul oder zum Tyrannen­mörder zu werden. Wenn alles gut geht, vielleicht ja auch nur ein ge­wöhnlicher Schwach­kopf. (rot)


Gestern bringe ich Carmen die Spritzpistole zurück, die ihr Mann mir geliehen hat. Keine Zeit, keine Zeit, ich muß zum Arzt und vorher noch das Auto putzen, empfängt sie mich. Mit frisch gewaschenen und noch nassen Haaren klopft sie wie wild auf den Sitzkissen herum, so daß der Staub aufgewirbelt und gleichmäßig verteilt wird, natürlich auch auf die frisch ge-waschenen Haare. Welcher Teufel hat der ins Hirn geschissen. Abgesehen vom Irrsinn ihres Tuns, glaubt sie etwa, der Arzt stünde hinter der Gardine, um zu kontrollieren, ob sie den Wagen gewaschen habe? Glaubt sie, der mache das bei allen oder nur bei ihr? Oder will sie den Arzt im Auto ficken? Dann hätte das ja noch einen Sinn. Aber den Traum wagt sie wahrscheinlich nicht einmal leise zu denken. Also nur hirnris­sige Betriebsam­keit, um die Zeit totzuschlagen, über die sie als Mutterkuh allzu reichlich verfügt.








Pedro erzählt mir stolz, daß er schon 40 Jahre verheiratet sei. Aber von morgens bis spät ist er unterwegs. Kommt nur zum Fressen und Pennen nachhause. Welch ein Horror! Anstatt das schamhaft für sich zu behalten. Nein, er brüstet sich damit. Una buena mujer. Eine gute Frau. Das glaub' ich. Hält die Schnauze, kocht ihm sein Fressen und wäscht ihm seine drecki­gen Hosen. Pflichtschuldigst hat er sie sechs Mal be­stiegen, um ihr einen Braten in die Röhre zu schieben. Naja, vielleicht hat er ab und zu ein bißchen lustlos in ihr rumge­stochert. Ab und zu im Puff gewesen und das war sein Sexualle­ben. Jetzt ist er 67 Jahre alt. Für sich genommen ein netter Kerl. Zu Späßen aufgelegt und ein guter Kamerad. Kein Arsch­kriecher. Und ein grand tireur. D.h. er trifft beim Pé­tanque die Kugel auf 10 m Entfernung mit achtzigprozentiger Sicher­heit. Aber natürlich reißt er seine Weiberwitze wie alle ande­ren auch. Bei Männern ein sicheres Zeichen, daß sie herzlich wenig Erfahrung in der Liebe haben oder über­haupt zur Liebe unfähig sind. Aber ir­gendein dummes Luder fin­det jeder, an deren Seite er dann 40 Jahre verbringen kann.
Aus dem Hochnebel gestern abend hat sich in den frühen Morgen­stunden ein Landregen entwickelt, der später in einen Sturzre­gen überging. Ich selber fühlte mich als diese knochentrocke­ne, ausgedürstete Erde, die endlich, endlich trinken konnte. Welch ein Glück. Seit Jahren sind die Niederschläge in Andalu­sien völlig unzureichend. Von Cadiz bis Sevilla und Jaen ist das Wasser rationiert. Die Stauseen sind nur bis zu 15 % ihrer Kapazität gefüllt und die Situation hat sich auch nicht durch die verschiedenen regionalen Regenfälle gebessert. Trotzdem sind die Wasserpreise hier ein Witz. Alles ist fast so teuer wie bei uns, doch das Wasser kostet nur einen Bruchteil. In Marbella hat es einen Aufstand gegeben, als der Wasserpreis auf eine Mark angehoben wurde. In Hamburg zahlt man jetzt ca. 4.80 DM (incl. Abwasser natürlich) und dabei haben wir ver­gleichsweise Wasser im Überfluß.
(rot) Inzwischen sind es sieben Mark und die Wassersituation in Andalusien ist noch dramatischer geworden. Rationierung ist zu einer Dauereinrichtung geworden. Mallorca muß mittlerweile mit Wassertankschiffen versorgt werden. (rot)
Nirgends ein Bewußtsein für das Wasser als das Lebenselexier. Hier wird eine so hemmungslose Verschwendung getrieben, daß man sich wundert, nicht überall schon Wasserrestriktionen ein­geführt zu sehen. Im übrigen frage ich mich seit Jahren, ob nicht der Export von Obst und Gemüse, der ja in die Millionen Tonnen geht und praktisch aus Wasser besteht, nicht auch Aus­wirkungen auf den Wasserhaushalt gerade der Länder hat, die Wasser- und Desertifikationsprobleme haben (noch dramatischer als für Spanien muß das doch für die Länder der Sahelzone sein). Wasser wird also ausgerechnet in die Länder exportiert, die manchmal im Wasser geradezu ersaufen. Und im Austausch erhält der Süden Maschinen und Chemikalien.
A propos Chemikalien. Das ist ein Elend hier. Plastikmüll an jeder Ecke, an den schönsten landschaftlichen Stellen, mitsamt Batterien, Fernsehern, Kühlschränken, Möbeln, Bauschutt. Ge­wiß, es ist in den vergangenen Jahren besser geworden, aber gelöst ist das Problem noch lange nicht. Warum hatte man zu allen Zeiten und noch im Mittelalter das klare Bewußtsein, daß Wasser lebensnotwendig ist, seit Beginn der Industrialisierung aber nicht mehr? Warum wurden Brunnenvergifter zu allen Zeiten mit schwersten und grausamen Strafen belegt und heute ist nicht einmal mehr das geringste Unrechtsbewußtsein übrig ge­blieben? Weder bei den Tätern, noch bei den Betroffenen. Weil sie im Grunde alle Brunnenvergifter sind. Jeder schmeißt doch seinen Dreck in die Gegend. Der kleine Mann hinters Haus oder in den nächsten barranco, die Industrie läßt ihn irgend­wo in die Landschaft kippen oder in den Ozeanen verklappen und die Stadt leitet die Scheiße ins Meer und den Rest auch in den barranco. Wo er von Zeit zu Zeit angezündet wird und die wun­dersamsten Düfte verbreitet. Is was, Doc?
Man versucht, einen Witz darüber zu machen und hat ein schie­fes Grinsen in der Fresse. Weil sich die Wut nicht mit einem Witz zufriedengibt. Dieses ganze kriminelle Pack! Aber das sind ja alle, vom freundlichen Nachbarn bis zum eiskalten bun­desrepublikanischen Unternehmer, der seine Giftproduktion nach Spanien verlegt, wenn sie in Deutschland verboten wird. Und man kann doch nicht neben jeden Baum und hinter jeden Busch einen Bullen stellen.
Und doch funktioniert es im Grunde nur so. Vor Jahrzehnten gab es südlich von Frankfurt einen wunderschönen Baggersee. Es war die 68-er Zeit und wir machten daraus das erste Nacktbad Frankfurts. Es dauerte nicht lange und das ganze Gelände war derart zugemüllt, daß das Betreten geradezu lebensgefährlich wurde. Das Ende vom Lied: Das Terrain wurde von der Stadt ver­pachtet, der Pächter zog einen Zaun darum, kassierte saftige Preise und stellte einen Kuli ein, der regelmäßig am Abend den Dreck der Besucher beseitigte. Die Stadt hatte einen neuen Millionär und die Leute waren's zufrieden. Und das soll nicht eine perverse Gesellschaft sein?
(rot) Kürzlich mit einer Freundin über Kinder im allgemeinen und im besonderen geredet. Sie war mit mir der Meinung, daß maximal fünf Prozent aller Kinder bewußt und aus Liebe gezeugt werden. Die meisten im Suff oder unter Drogen (und dazu rechne ich selbstver­ständlich auch den Alkohol) oder mit dem fal­schen Part­ner oder durch sonstige Zufälle. Das ist die Haupt­ursache da­für, daß es so viele geistige, seeli­sche, körperliche Krüp­pel gibt, daß die Welt voller Aggression ist. (rot)
Im Spiegel die Wehner-Geschichte gelesen. Aus in Moskau jetzt aufgefundenen Akten geht hervor, daß er, um seine Haut zu ret­ten, die eigenen Genossen dem NKWD ans Messer geliefert hat. Da das natürlich kein schöner Zug ist, wird es ganz spitzfin­dig gerechtfertigt: Er habe als ein ganz Schlauer die Stalin­sche Mordmaschine genutzt, um die schlimmsten Typen, nach die­ser Darstellung allesamt ebenfalls Denunzianten, aus der Par­tei hinauszusäubern. Ich habe wahrhaftig nicht viel für die Führungsclique der alten KPD übrig, aber diese Art von Apolo­getik geht mir doch gegen den Strich.
Insgesamt sind es miese Typen gewesen. Brüstete sich der Thäl­mann doch damit, im `Lux' eine Großfürstin für eine Büchse Kondensmilch gefickt zu haben. Der Führer der deutschen Arbei­terpartei und Reichspräsidentenkandidat! Ekelhaft. Aber diese Mentalität herrschte in der gesamten Partei vor, bis hinunter zum einfachen Mitglied. Anfang der 70-er Jahre hat mir doch ein altes, angesoffenes KPD-Mitglied allen Ernstes erklärt, daß nach dem Sieg der Revolution als erstes alle Blankeneser Weiber durchgefickt werden müßten. Statt die Emanzipation der Frau in den eigenen Reihen voranzutreiben (wofür Reich die besten Ansatzpunkte lieferte), hat man diesen Trumpf überhaupt nicht ausgespielt. Ganz im Gegenteil wurden dieselben männli­chen, frauenfeindli­chen und autoritären Denk- und Verhaltens­weisen wie in den bürgerlichen Parteien reprodu­ziert. Und zwar durchgängig.
Ein derartiges proletarisches Klassenbewußtsein hätte sich Marx wahrlich nicht träumen lassen. Das änderte sich auch nicht in der 68-er Generation. Wer redete auf allen Versamm­lungen endlos und wer saß in allen Ausschüssen? Männer. Bis die Frauen die Schnauze voll hatten und ihren eigenen Weiber­rat gründeten. Oder ich erinnere mich, wie sich die Ge­nossen nach den politi­schen Versammlungen oft geschlossen ei­nen ame­rikani­schen Dreckfetzen reinzogen, Krahl, Cohn-Bendit (jetzt für Kulturfragen zuständig - daß ich nicht lache), Schirmbeck und Co. vorneweg. Wie man sich die Massakrierung der Indianer zum Spaß und zur Entspannung anschauen kann, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Wenn sich die Leute zum Spaß Auschwitz-Filme anschauten, wäre das der Sache nach nichts anderes.
Au­schwitz-Filme wohlgemerkt, die erst noch gedreht werden müß­ten, mit den Massenmördern als Hauptdarstellern und Helden. Ich höre richtig den Aufschrei. Das sei ja nun doch etwas ganz anderes. Richtig: In dem einen Fall waren es nur Rote, im an­deren Juden. Selbst die Entrüstung der Leute ist immer verlo­gen. Immer am falschen Ort und zur falschen Zeit. Weil von den Herrschenden vorgegeben wird, wann man sich zu entrüsten habe.
(rot) Wunderbar, daß ich hierfür von berufener Seite eine Be­stätigung erhielt. Kürzlich las die Indianerin Leslie Marmon Silko aus ihrem Roman Almanach der Toten im Amerika-Haus, vie­len Kritikern zufolge der größte Roman Amerikas. Als sie vom Holocaust an den Indianern sprach, empörte sich in der Diskus­sion eine `Dame', eine Weiße, daß "das doch wohl nicht dassel­be sei". L. M. Silko schlug mit Vehemenz zurück: "Warum denn nicht? Weil es Rote waren?" Und sie nannte noch etliche andere Beispiele von Massenmorden der Weißen. Im übrigen kam der Spruch von derselben `Dame', die Silkos frühere Bücher `so schön' gefunden hatte, und bedauerte, daß sie jetzt `so poli­tisch' geworden sei. Pack! (rot)
Habe in meinem Gärtchen gearbeitet und das ist wohltuend und nervenberuhigend. Unten im Barranco schnitt ich mir zuerst Schilfrohrstangen zurecht und bastelte dann das Gerüst, an dem ich die Tomaten anbinden werde. Es ist so stabil geworden, daß es auch dem stärksten Wind standhalten wird. Und der kann hier manchmal mit unglaublicher Härte, mit einer geradezu saugenden Kraft blasen. Liegst du abends im Bett und hörst nichts als die wuchtigen Hammerschläge des Windes, das Stöhnen und Ächzen des Hauses, denkst du, jetzt gleich ist es so weit, und der Sturm trägt dich mitsamt der Hütte hinunter ins Tal.
Und jeden Tag betrachte ich alle Bäume und all die Blumen, die ich gepflanzt habe und ihre Fortschritte im Wachstum. Wie ein Kind freute ich mich, als der Rebensteckling angegangen war und jetzt ausschlägt. Oder über den Holunderzweig, den ich provi­sorisch zum Stützen der jungen Tomatensetzlinge in die Erde gesteckt hatte, und der ausgeschlagen hat. Ich habe ihm nun einen anderen Platz zugewiesen. Der Guavo-Baum streckt die ersten Blattspitzchen heraus und die Knospen der Feige werden­immer dicker. Die Kamille duftet und das Rot des Klatschmohns ist eine wahre Augenfreude. Überall blühen gelber Klee und der rosaviolette Natternkopf. Die Mönchs- und Samtkopfgrasmücken, zwei Pärchen, hüpfen zutraulich im Gebüsch herum, während ich daneben auf der Terrasse meinen Kaffee trinke. Sie inspizieren sorgfältig jeden Zweig wie die Mütter früher die Kinderköpfe nach Läusen.
Ich weiß, was Brecht über den blühenden Pflaumenbaum in seinem Hof gesagt hat. Das ist richtig und falsch zugleich. Könnten wir diese Freude nicht erfahren, würden wir uns in keiner Wei­se von den anderen unterscheiden. Andererseits: Während ich einen Kohlkopf pflanze, haut Holzmann einen ganzen Regenwald um. Und die scheren sich einen Dreck darum, ob dabei 1000 Ar­ten an Flora und Fauna draufgehen, noch ehe sie registriert und klassifiziert wurden. Die verschwinden einfach, als hätte es sie nie gegeben. Allein an einer solchen Tatsache könnte man doch irre oder zum Mörder werden. Aber obwohl sie in allen Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, im Rundfunk und Fernse­hen zu hören und zu sehen war, wird niemand daran irre. Geht kein Aufschrei durch das Land, wird keiner dieser Verbrecher vor Gericht gestellt. Wie denn auch, wo wir doch selbst die Mörder an Millionen Menschen gehätschelt und gepäppelt haben, damit sie friedlich in ihren Betten entschlafen können. Da kann man doch kein Wesen um so ein paar Spinnen und Kräuter machen.
Unterdessen traure ich meinen Geckos nach. Ein Mauergecko, ein dicker Familienvater, ein etwas Schlankerer mit nachwachsendem Schwanz und ein Winzling (ein Scheibenfinger, eine andere Art, wie ich herausfand), hatten sich in meiner Bude eingefunden. Zu meinem Erstaunen zirpten, schnalzten und quakten sie sogar. Ihre Anwesenheit hatte etwas Beruhigendes, und belustigend war es, ihrer Jagd zuzuschauen. Man glaubt gar nicht, wie oft sie danebenschnappen und dann loswatschelten, um die Beute doch noch zu erwischen.
Sie wurden nun ein Opfer meines Kampfes gegen Mäuse, die mich mehr als eine Nacht wachhielten, die meine Nahrungsmittel und meine Decken anfraßen, auch tagsüber auf dem Computer herum­hüpften und sich ganz ungeniert unter meiner Matratze ein Nest zu bauen anfingen. Weder Fallen, noch Gift zeigten Wirkung; Deshalb griff ich auf Empfehlung eines spanischen Gärtners zu einem Superkleber (der in Hamburg auch gegen Tauben eingesetzt wird). Von den Mäusen habe ich seither nichts mehr gesehen und gehört.
Doch eines Morgens fand ich den mittleren Gecko auf dem Rücken liegend festgeklebt an diesem Teufelszeug. Ich konnte ihn nur noch töten. Das Merkwürdige nun ist, daß seither die beiden anderen Geckos meine Wohnung verlassen haben. Offenbar verfü­gen sie über ein Warnsystem wie Mäuse oder Ratten. Will ver­suchen, darüber etwas herauszubekommen. So schade ich ihr Ver­schwinden finde, bin ich doch froh, daß sie nicht auch noch Klebeopfer werden.
Heute Nacht einen erotischen Traum gehabt, in dem zum ersten Mal wieder nach Jahrzehnten meine Mutter auftauchte. Ich saß schmusend mit einer Frau zusammen - weiter passierte gar nichts - und plötzlich saß da meine Alte mit am Tisch. Einfach so, jedenfalls erinnere ich kein Gespräch. Und sofort bekam ich Hemmungen, fühlte mich kontrolliert. Ausnahmsweise hatte sie die Rolle einer ehemaligen Freundin eingenommen, die sonst immer in entscheidenden Momenten auftaucht. In einem solchen Zusammenhang ist mir allerdings meine Mutter noch nie im Traum erschienen.
Vielleicht weil ich gestern an sie im Zusammenhang mit meinen Aidstest denken mußte. Hatte mir doch dieses Aas bei meinem Auszug zur Universität als Denkspruch mit auf den Weg gegeben: Wenn du mit Mädchen gehst, dann wirst du krank. Unaufgeklärt und dumm, wie ich war, hat dieser Spruch über Jahre hinweg Beziehungen zu Frauen unmöglich gemacht - aus lauter Schiß. Nun, und gestern mußte ich daran denken, daß ihr blöder und hinterhältiger Spruch sich in den heutigen Aidszeiten in jeder Hinsicht, selbst in seiner harmlosesten Variante, auf fa­tale Weise bewahrheitet. `Mit einem Mädchen gehen' be­inhaltete frü­her ja alles, vom Küssen bis zum Bumsen. Und streng genom­men kann es heute nicht einmal harmlose Küsse ge­ben. Wer sagt mir denn, daß die Frau nicht positiv ist, ohne es zu wissen, sich vielleicht gerade selbst befriedigt und den Finger auch in den Mund gesteckt hat? Oder daß sie nicht gera­de einem Ty­pen einen abgelutscht hat? Aber so etwas kommt wohl im Denken der Schei­ßer von Beratern nicht vor. Also wäre im Grunde die einzige Sicherheit Himbeersaft. Anstatt. Wie in den alten prä-Pillen-Zeiten. Nun, die Präser mit Himbeergeschmack gibt es ja auch schon. Wenn das Sexualität sein soll, dann kaufe ich doch gleich lieber eine Gummipuppe. Und ich kenne Frauen, für die dann der Schäfer oder ein Dildo die weitaus bessere Alternati­ve ist.
Nun ja, vielleicht haben die Berater so Unrecht nicht. Wenn man die neue Analyse im Spiegel über die männliche Impotenz liest, dann weiß man ja, daß Ficken und all diese Sauereien Gottseidank kaum noch vorkommen. Das einzig Dumme an der Ge­schichte ist allerdings, daß wir auf diese Weise aussterben könnten, zumal die Qualität und Quantität des Samens immer miserabler werden. Also werden flugs Forschungsinstitute ge­gründet, um diesem Mysterium auf die Spur zu kommen. Dabei ist es doch nur folgerichtig, daß einem in dieser Gesellschaft selbst die Lust auf's Ficken vergeht.
Aber je weniger gefickt wird, umso mehr wird von Liebe ge­quatscht. Kein Song, kein Lied weder bei uns noch hier in Spa­nien oder sonstwo oder auf den internationalen Hitlisten, in dem nicht von Liebe, Liebe, Liebe bis zum Erbrechen geheult und geschluchzt wird. Eins verlogener als das andere. Ich lie­be nur dich und ich werde immer treu sein und ich werde alles für dich tun und ich gehe für dich in den Tod. Alles Kitsch, weil dem allen kein echtes Gefühl zugrundeliegt, weil das al­les schon hunderttausend Mal gesagt wurde, nur viel besser. Wie das in der Praxis aussieht, sehen wir, wenn diese Typen sich scheiden lassen und die Messer gewetzt werden und um Mil­lionen gechincht wird.
Jedenfalls hat man ein neues Problem. Neben dem Aidsproblem nun das Spermaproblem und das Problem der Fortpflanzung und das Problem der Erziehung und der Drogen und auch die Leichen werden zunehmend zu einem Problem, weil sie derart vergiftet sind, daß sie das Grundwasser verseuchen.
Dabei ist das einzig wirkliche Problem für diese Welt der Mensch. Genauer: Seine Unmenschlichkeit. All das, was von auf­geklärten Menschen aller Zeiten und Länder als menschlich an­gesehen wurde, das gilt heute nicht mehr. Die Menschheit ist global gesehen dasselbe, was der Autofahrer im kleinen ist: Eine Gefahr für die Mitmenschen und die Umwelt, leider eben nicht nur für sich selbst.
(1998) Ein englisches Ameisenforscherpaar hat nachgewiesen, daß die Erde in dem Augenblick kollabieren würde, wo die Amei­sen verschwinden würden, deren Biomasse größer als die der Menschen ist. Würden umgekehrt die Menschen verschwinden, wäre das für die Welt nicht nur nicht ohne negative Folgen, sondern eine Wohltat. (1998)
Welch brutales und zynisches Verhalten steckt dahinter, wenn sich `zivilisierte' Menschen täglich am Fernsehschirm die Ver­nichtung von Millionen Mit-Menschen - ich denke nicht allein an den Golfkrieg und den Jugoslawienkrieg und den Angolakrieg und den Somaliakrieg, sondern vor allem auch an die schlei­chende Vernichtung durch Hunger und Krankheit - genüßlich an­schauen, dazu ihr Bier saufen und Käsecracker fressen. Natür­lich tragen in erster Linie die großen Verbrecher in den Mul­tis und den Regierungen die Verantwortung, aber freisprechen kann man den Einzelnen nicht. Wir alle tragen dafür die Ver­antwortung und eine Gesellschaft, die so etwas geschehen läßt, hat ihr Bleiberecht auf diesem Planeten verwirkt. Je schneller sie verschwindet, desto besser.
Aber auch das ist nur ein Wunschtraum. Sie wird wohl nicht so schnell verschwinden, ohne nicht vorher noch viel mehr Unheil anzurichten. Ohne vorher noch mehr Völker und Tiere und Pflan­zen ausgerottet zu haben. Mit welchem Recht? Dem Recht des Stärkeren. Was wir gleichwohl nicht wahrhaben wollen. Wir sind derart verbogen und verkorkst, daß wir die dem System inhären­te Gewalt gar nicht wahrnehmen bzw., wenn man der Argumenta­tion von Günther Anders folgt, gar nicht mehr wahrzunehmen ver­mögen.
Die unserer Demokratie inhärente Gewalt etwa, die auf dem Mehrheitssystem aufbaut. Abgesehen davon, daß die Mehrheit eine Fiktion ist - alle unsere Regierungen stützten sich auf maximal 40 % der Bevölkerung, in der Regel eher auf 30% - be­deutet Mehrheit immer Vergewaltigung der Minderheit, die im schlechtesten Falle 49,9 % betragen kann. Abgesehen auch da­von, daß die Mehrheiten, wie sie in den westlichen Demokratien durch die Parteien-Mischpoke zustandekommen, auch ein Witz sind. Oder die Gewalt, Menschen in der Sahelzone zu zwingen, Sojabohnen für unsere Schweine anzubauen, damit wir drei Schnitzel am Tag fressen können. Die permanente und allgegen­wärtige Wer­bung für Autos, obwohl man weiß, daß jeder Autofah­rer ein po­tentieller Mörder ist. Unser ganzes System der Er­ziehung ist eine einzige VerGEWALTigung. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. All das sehen wir als normal und selbstver­ständlich an. Und derjenige, der das nicht akzeptieren will, der ist anormal.
Lese von Virginia Woolf die Zeilen: "Es war verwunderlich, dachte sie, wie man sich, wenn man allein war, Dingen zuneig­te, unbeseelten Dingen; Bäumen, Bächen, Blumen; fühlte, wie sie einen zum Ausdruck brachten; fühlte, daß sie zu einem selbst wurden; fühlte, sie kannten einen, waren in gewissem Sinn man selbst; und daher eine unvernünftige Zärtlichkeit für sie empfand, wie für einen selbst." Ich würde ergänzen, daß auch man selbst sie zum Ausdruck bringt, in intensiven Momen­ten Baum wird oder Stein. Und warum sagt sie denn unvernünf­tig? Schon als Kind war es für mich ein Drang, Bäume oder Pflanzen zu streicheln, mit ihnen zu sprechen. Bis heute habe ich davon nicht abgelassen. Und die Wissenschaft hat dieses Verhalten als vollkommen vernünftig bestätigt. Aber nur derje­nige, der für sich selbst eine vernünftige Zärtlichkeit und Liebe empfindet (so lange es nicht in Narzismus ausartet), kann für Dinge, Pflanzen, Tiere und seine Mitmenschen Zärt-lichkeit empfinden. Das würde auch die Vernunft gebie­ten. Aber weder sind wir zärtlich, noch sind wir vernünftig.
Hier liegt auch der Schlüssel dafür, was mir als Jugendlichem so unverständlich war: Daß ein Verbrecher wie Hitler seine Hunde liebte oder Himmler ein zärtlicher Familienvater war, der obendrein klassische Musik liebte. Solche Menschen haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, ihrem Ich. Sie lieben nur das ihnen Äußerliche. Deshalb der Drang nach Macht und Besitz. Sie sind und bleiben, wie Ivar Lo-Johannsson es ausdrückte, ewige Pubertanden. Sie alle, die Wirtschafts­bosse, Politiker, Bankiers und Generäle.
Nun kann man sich natürlich fragen, wieso sich die große Mehr­heit der Menschen von einer Handvoll Pubertierender, d.h. Noch-nicht-Erwachsener, ins Bockshorn jagen läßt? Bockshorn ist ein blanker Euphemismus und steht für Krieg, Hunger und Elend. Weil die große Mehrheit der Menschheit ebenso veranlagt ist. Man braucht sich nur anzusehen, mit welcher Begeisterung die Menschen immer wieder in den Krieg ziehen, wie viel Ver­ständnis sie auch im Frieden für die Sandkastenspielchen der Militärs übrig haben. Mit welcher Ehrfurcht die Mehrheit der Menschen dem Adel gegenübersteht, diesem erbärmlichen Verbre­chergesindel, das sein Dasein nackter Gewalt, Mord, Totschlag und Raub verdankt.
Gleich klinkt mir das Genick aus, weil ich den Geckos bei der Jagd zuschaue. Schon viermal hat sich der Dicke jetzt schon vergriffen. Er muß heftigen Hunger haben, denn von seiner ge­wohnten Lethargie ist nichts zu spüren. Er bleibt hartnäckig dabei. Es sieht aus, als würde er auf Zehenspitzen sein Opfer anschleichen. Und wenn er der Beute näherkommt, dann geht vor Aufregung das Schwänzchen wie bei einer Katze. Ja, seit ge­stern sind sie wieder da - der Dicke und zwei Mittlere. Nur den Winzling habe ich noch nicht gesehen. Und jetzt hat der Dicke gerade das rechte Hinterbein gehoben und einen Scheiß­haufen an die Wand geklebt. Der muß sich jedenfalls sein Brot auch hart verdienen. Vielleicht ist er mir deshalb so sympa­thisch. Er ist das fünfte Mal gescheitert. Die Fliege ist jetzt auf der Hut und fliegt schon davon, wenn er etwa 5 cm entfernt ist. Ich frage mich sowieso, wie solch ein Koloß sich jemals einer Fliege unbemerkt nähern kann, auch wenn er noch so vorsichtig seine Beinchen setzt.
Nun hat er sich ganz vorsichtig dem mittleren Tierchen in der Ecke genähert, wobei er einen Buckel schob. Als er auf wenige Zentimeter heran war, trat das Kleine schleunigst den Rückzug nach unten hinter den Schrank an. Das sah allerdings nicht wie eine Vertreibung aus, sondern eher nach einem Liebesspiel. Das kleinere Tier ist ja vielleicht ein Weibchen. Er folgte ihm ein Stück abwärts, drehte dann aber wieder um. Nun kratzt er sich hinter dem Ohr. Es sind wirklich putzige Tierchen. Ich verstehe gut, daß man der Faszination der Verhaltensforschung erliegen kann.
Rosa Montero hat in der Wochenbeilage von El PAIS einen länge­ren Essay über Spanien und die Spanier geschrieben. Sie führt die Rücksichtslosigkeit und das unsoziale Verhalten der Spa­nier gegenüber ihrer Umwelt darauf zurück, daß sie ausschließ­lich auf ihre Familie, ihre Arbeitskameraden und Freunde aus­gerichtet seien und der Rest einfach Feindesland sei. Als Bei­spiel führt sie an, wie die Spanier ihr Haus blitzblank hal­ten, aber allen Dreck über die Mauer werfen, auf das feindli­che Territorium. Dieser Gedanke ist bestechend, aber trifft nicht das Wesentliche. Denn bei uns, mit einem ganz anderen sozialen Verhalten, sieht es im Grunde nicht anders aus. Zwar haben wir einen gewissen Lernprozeß (der rückläufig ist, wie mir scheint) durchgemacht, aber Dreck ist überall zu finden. Allerdings, wie ein spanischer Ökologe mir einmal zu Recht vorhielt, ist er bei uns auf Grund des üppigen Wachstums nicht immer gleich sichtbar.
(rot) Und doch sichtbar. Vor einigen Wochen machte ich mit Uli einen Spaziergang zu seinem Dorf in der Heide hinaus. Da lagen im Schnitt rechts und links einer sehr kleinen, wenig be­fah­renen Straße alle zwei Meter eine Büchse, Flasche, Ziga­ret­ten­schachtel, Plastiktüte. D.h. pro Straßenmeter ein Gegenstand. Und an den Autobahnen sieht es nur deshalb saube­rer aus, weil dort regel­mäßig der Dreck tonnenweise weggekarrt wird. (rot)
Diesem Verhalten liegt eine Señorito-Einstellung und/oder Kon­sumhaltung zugrunde. Der Señorito ist in Spanien der Feudal­herr, der es sich leisten kann, alles fallenzulassen, wo er steht und geht, weil er weiß, daß hinter ihm genug dienstbare Geister her sind, die alles wieder einsammeln und an seinen Platz bringen. Und weil der Bürger und Kleinbürger nun einmal gerne den Adel nachäfft, hat er sich auch dieses Verhalten zugelegt. Im privaten Bereich hat er Frau und Kinder zum Ge­sinde degradiert und im Betrieb und der Öffentlichkeit gibt es ja die Kulis, die unseren Dreck wegmachen.
(1998) Dazu fällt mir `el filosofo' ein. Ein kleiner spani-scher Jude aus einer reichen und berühmten Familie, mit der er sich aber überworfen hatte. Er `studierte' in Hamburg, wo ich ihn auch kennenlernte. Er hatte nie gelernt, für sich selbst zu sorgen, da es ja zuhause genug dienstbare Geister gegeben hatte, die für ihn sorgten und seinen Dreck wegräumten. El filosofo löste das Problem, indem er immer dasselbe Hemd, die­selbe Hose und Jacke anhatte, was natürlich im Laufe der Zeit dazu führte, daß er etwas streng roch. Dem und seinen Schnor­rer-Angewohnheiten zum Trotz war er beliebt, weil er geist-reich und witzig war. Eines Tages liefen Jesus und ich durch den Hamburger Hauptbahnhof, als es hinter uns rief: "Einar, Jesus!" Wir drehten uns um: Nichts. "Einar, Jesus!" Ein ge-schniegelter und gebügelter Typ kam auf uns zugerannt, den wir nach dreimaligem Hinsehen als den filosofo erkannten. Was war passiert? Auch wenn ich nur ungern daran denke, muß ich es berichten. In das riesige Zimmer, das ich an der Alster gemie­tet hatte, brachte ich eines Abends ein Mädchen mit, und wir vögelten auch, obwohl ich eigentlich keine Lust hatte (was ich wirklich als unverzeih­lich betrachte, weil es veerlogen ist) - vor­sichtig, vorsich­tig, weil sich nämlich drei Typen - Fer­ry, ein Iraner, der Spanier Jesus und am Ende auch noch el filoso­fo in meiner Bude einquartiert hatten. Ich mußte am Mor­gen früh zum Jobben und habe das Mädchen nie wie­der ge­sehen. Sie also hatte sich el filosofo gegriffen (oder war es auch umge­kehrt) und hatte ihn offenbar auf Vorder­mann ge­bracht. Diese meine unverzeihliche Lüge ist doppelt unverzeih­lich ge­wor­den, weil ich Jah­re später in Spanien zu­fällig im Stern las, daß `el filosofo' seine Freundin aus Ei­fersucht umge-bracht hatte. (1998)
Ich bin immer der Auffassung gewesen, daß jeder seinen eigenen Mist wegmachen sollte, denn seine Beseitigung durch andere finde ich entwürdigend für bei­de Seiten. Damit meine ich auch das Sockenstopfen, Spülen, Hosenwaschen und Putzen. Zu denken, daß ein Mann seine Frau oder Freundin zum Sockenstop­fen an­stellt! Und daß eine Frau das mitmacht, statt dem Typen die Stinklappen stundenlang um die Ohren zu hauen!
In unserer WG in Frankfurt - es waren die 68-er - geriet ich fürchterlich mit einem Freund und Genossen aneinander, weil er sich zum Putzen, sobald er an der Reihe war, seine Freundin bestellte. Er hätte das nie gemacht, weil er von seiner Mutter verwöhnt worden sei - er stammte aus Arbeiterverhältnissen im Ruhrpott - und würde sowieso alles falsch machen. Man konnte mit ihm fabelhaft diskutieren, er hatte ein phänomenales Ge­dächtnis und ein hervorragendes analytisches Denken und saufen konnte man mit ihm auch, nur zum Putzen ließ er sich nicht herab. Aber es gehören schließlich zwei dazu, und sie machte es aus Liebe oder Mitleid oder was weiß ich. Sie rächte sich jeden­falls auf ihre Weise, indem sie sich manches Mal zu mir ins Bett legte.
(1998) Ach, was sind wir Altlinke doch für Hinterwäldler. Die sozialdemokratische schwedische Superministerin Mona Salin bricht engagiert eine Lanze für das steuergünstige Anstellen von Putzen und Kindermädchen. Sie hat uns auch gleich vorge­macht, wie sie sich das eigentlich denkt: Ihre Putzfrau gar nicht erst anmelden. Sie lieferte ja schon öfters Beispiele ihrer Vorstellungen von `linker Solidargemeinschaft', indem sie etwa mit ihrer Ministerkontocard privat einkaufte. Damals flog sie noch raus aus der Regierung, durch den Druck `der Straße', wie es so schön heißt. Diesmal gab's nur Gezeter. Ja, wir gehen halt nicht mit der Zeit. Was macht es schon, daß die Herren und Damen rückwärts meinen? Nämlich in die goldnen Zei­ten, in denen man die dienstbaren Geister in die Besenkammer stecken konnte, ihnen so gut wie nichts bezahlen mußte und sie auch für die Befriedigung der männlichen Familienmitglieder vom Sohnemann bis zum Opa zuständig waren. (1998)
Ich habe immer wieder Freude an meinem Schreibtisch, den ich selbst gebaut habe. Er ist fast 2 m lang, auf der einen Seite liegt er auf einer an der Wand befestigten Leiste auf, auf der anderen Seite auf einem Stück Telefonmast. Dadurch können ver­schiedenen Arbeitsgänge gleichzeitig ausgeführt werden. Als Eßtisch muß er mir schließlich auch dienen. Der Tisch hat Cha­rakter, genau wie das Bett, das ich ebenfalls gebaut habe. Wie scheußlich sind dagegen die Küchenmöbel und der Schrank, die zum Inventar gehören. Wäre dies mein Häuschen, hätte ich sie längst hinausge­worfen, aber da ich nur befristet hier lebe, ist dies die bil­ligere Lösung.
Früher bauten sich viele Menschen ihre Möbel selbst oder lie­ßen sie vom Handwerker des Ortes anfertigen. Sie wurden vom Vater auf den Sohn vererbt, blieben in der Familie als ein Charakterzeichen.
Ater i Stockholm
Städerna brytas ned
som människan
Först tar man bort träden
för att bredda vägen
och sa maste husen rivas
dom är för sma
och deras rum för stor
och sen far varje hem
sitt bord och stol och säng
som alla bär samma märke
Sa här förstörs alla minnesmärken
bit för bit
Hur skall manniskan sen
hitta rätt väg?
Dasselbe Gefühl, das ich vor 20 Jahren in Stockholm hatte, habe ich auch hier in Spanien immer wieder gehabt. Als ich Spanien vor 35 Jahren erstmals besuchte, da hatte man noch in
jedem Haus seine individuellen Möbel, zumindest auf dem Land, wo die große Mehrheit wohnte. Aber seit Spanien den Ans__luß an Europa gefunden hat, sieht man hier denselben ekelhaften, abgrundhäßlichen Kitsch wie in Haparanda, Oxford oder Wolfs­burg.
Dies wurde mir vor einigen Jahren so richtig bewußt, als ich mitten in Spanien in Manzanares über­nachtete. Das Haus selbst war alt mit einem schönen Patio im Zentrum, in dem eine Treppe in den ersten Stock führte. Ich war sehr spät angekommen und von den Leuten freundlich empfangen worden. Die Übernachtung war inklusive Frühstück, was in Spanien eher die Ausnahme ist. Ich schlief wie ein Bär und am Morgen wurde mir von der Oma das Frühstück bereitet. Sie saß und nähte und ihr Gesicht war von Runzeln überzogen, verriet aber seine einstige Schönheit. Während wir über dieses und jenes sprachen, schaute ich mir in Ruhe den ganzen Raum an. Und ich war erschüttert, nicht einen einzigen schönen Gegenstand zu finden. Nur Kitsch, aber von der überdimensionalen Art. Die Stühle, der Tisch, die Blumen, die Vorhänge, die Tischdecke, das Geschirr - alles Plastik. Dann das liebe Jesulein und Fotos mit "goldenen" Plastikrah­men. Und das, was Oma da häkelte oder strickte, das war eben­falls Kitsch. Mit Blümchen und so. Wie ist es möglich, dachte ich, daß ein ganzes Volk - denn jenes Zimmer war exemplarisch für alle Zimmer Spaniens - innerhalb einer Generation, was rede ich, innerhalb einer halben Generation jeden Sinn für Schönheit verlieren kann? Ist die Kultur wirklich nur ein ganz dünner Firnis? Gibt es kein Land auf der Welt, wo sie wirklich Wurzeln geschlagen hat? Wie kann man einen schönen massiven Holztisch gegen einen Tisch aus Plaste mit wackligen Beinen eintauschen? Übt der Kitsch und der Schund eine beson­dere Faszination aus? Ob Menschen aus dem finstersten Anato­lien, aus Yorubaland oder Sumatra, wenn sie nach Deutschland kommen, richten sie sich als erstes ihre Bude mit all diesem Schrott ein. Das ist wie eine äußerst ansteckende Krankheit, eine Pest.
Ein einziges Mal habe ich es bei den Rätoromanen erlebt, daß man wenigstens teilweise an den schönen alten Sachen festge­halten hat, den kunstvoll geschnitzten Tischen und Truhen, sie auch bis heute nutzt. Nicht zuletzt an der Architektur war das sichtbar. Nirgends sonst sieht man so viele gut erhaltene oder sorgfältig restaurierte alte Häuser, die zwar innen moderni­siert wurden, aber nicht, wie so oft bei uns, quasi bis auf die Fassade abgerissen werden, hinter der dann ein Neubau ent­steht. Und ich erinnere ein Gespräch mit einem Bauern, der einer alten, geschnitzten Holztür nachtrauerte, die der Groß­mutter von einem Vertreterfatzke abgeschnackt wurde, der sie dann an ein großes Hotel verscherbelte, wo sie heute noch zu sehen ist. Aber schleichend hält auch dort das moderne Mobili­ar seinen Einzug, werden auch dort `moderne' Bauernhäuser ge­baut, die jede Anknüpfung an traditionelle Architektur vermis­sen lassen. Ein Grund dafür dürfte sein, daß niemand mehr sol­che Truhen schnitzt, weil sie unbezahlbar wären. Und mit der Zeit gibt es auch niemanden mehr, der sie schnitzen könnte. Also kaufen die Reichen die schönen alten Dinge (denn alle Ärmeren geraten irgendwann in Geldnöte), stellen sie bei sich auf, wo sie funktionslos herumstehen, und verkaufen den Armen dann den Schund. Begleitet von einem Reklame-Trommelfeuer, daß man mit der Zeit gehen und sich `modern' einrichten müsse. Und dann bekommen die Armen den Spruch zu hören, daß guter Ge-schmack eben schon immer etwas teurer gewesen ist. Das ist dann der Gipfel des Zynismus.
Großen Anteil an dieser Entwicklung hatten natürlich auch die Millionen von Landflüchtigen, die in die Städte zogen und es besonders eilig hatten, zu richtigen Städtern zu werden, um nicht als Bauerntölpel zu gelten. Von denen bekamen die Zuhau­segebliebenen, die Alten, dann zu hören, daß sie doch endlich den alten Scheiß auf den Müll werfen sollten. Irgendwann merk­te zwar auch der dümmste Bauer, daß er das Zeug zu Geld machen konnte, wurde aber von den Antiquitätenhändlern natürlich über den Tisch gezogen. Aber das änderte nichts an der Sache. Als die Antiqui­täten­fritzen Deutschland gründlich leergekämmt hat­ten, schwärmten sie nach Frankreich und England aus, und seit eini­ger Zeit haben sie ihr Betätigungsfeld weiter nach Osten, nach Polen und in die Tschechoslowakei verlegt, manche sogar schon nach Übersee, zu den `Eingeborenen', den `Wilden'.
Wie oft habe ich in Tanzania beobachtet, wie junge Weiße ihre alten, abgerissenen Jeans gegen wertvolle Trommeln, Waffen und Kunstgegenstände eintauschten und sich dann damit brüsteten, wie sie diese Affen auf's Kreuz gelegt hätten. Mit derlei Schweinereien `verdienen' die sich ihre Weltreisen.
Aber wie kann man nur alles so eng sehen! Das sind eben ge­schäftstüchtige junge Leute, die sich ihre ersten Lorbeeren für einen Managerposten verdienen. Heute sitzen doch schon die kleinsten Gören an jeder Ecke und lernen, ihr Kinderzimmer Stück um Stück zu verkaufen. Und manchmal auch was aus Muttis Nippesschrank. Können nicht lesen, nicht schreiben, aber die Märker, die können sie zusammenzählen. Sie lernen beizeiten, worauf es in unserer Gesellschaft ankommt. Man braucht sich ja nur anzuhören, mit welchem Zittern in der Stimme der Mann von der Straße haucht: Er ist Geschäftsmann. Was heißt denn das anderes, als daß der es versteht, seinen Mitmenschen das Fell über die Ohren zu ziehen?
Das einzige Gebiet, auf dem die Menschen an ihrer `Kultur' eisern festhalten, ist das Fressen. Und da sind sie alle gleich, ob Chinesen oder Deutsche, Franzosen oder Engländer, Tanzanier oder Mexikaner. Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht. Nach diesem Motto. Obwohl man den Deutschen immer wieder vorwirft, sie besonders würden überall, ob an der Costa Brava, auf Hawai oder in Toronto auf ihrem Eisbein mit Sauer­kraut bestehen, halte ich diesen Vorwurf für nicht ganz ge­recht. Sie sind vergleichsweise sogar liberal, d.h. es gibt eine große Zahl, die sich mit fremdländischer Küche und allen ihren exotischen Zutaten anfreunden. Kein noch so kleines Dorf mehr, wo nicht das `Gasthaus zur Linde' von einem Griechen oder Chinesen betrieben wird. Da sind die Franzosen, Spanier, Engländer oder Chinesen we­sentlich orthodoxer. Von den Amis ganz zu schwei­gen.
Gleichwohl bleibt als Fazit: Die Kultur der Menschheit redu­ziert sich letztendlich auf das Fressen, trotz starker Tenden­zen zur Mcdonaldisierung. Ich rede von der heutigen Kultur, nicht von dem, was war und in den Museen modert. Auch nicht von den mehr oder weniger staatlich bestallten Klecksern und Schreiberlingen und all denen, die es gerne werden wollen. Ich spreche von dem consumismo, der uns idiotisiert - wie der Spa­nier Antonio Enrique es ausdrückt - der uns vor allem fett und gelangweilt macht. Und er fährt fort: "Man könnte sagen, daß der Mensch unserer Zeit umso mehr seine Anmut verliert, je mehr er sich von der Natur entfernt." (Alpujarras, S. 207)
Genau dies ist mir vor über zehn in Portugal besonders deut­lich geworden, als ich in den Kneipen oft Väter und Söhne ne­beneinander beobachtete. Die Alten haben Figur und ein Gesicht und eine gewisse Anmut, während die Söhne nur fett sind, so lang wie breit wie dick. Keine Proportion stimmt mehr, was bei ihrem kleinen Körperbau extrem auffallend ist. Und natürlich verlieren sie damit jede, aber auch jede Anmut.
Aber nicht nur das äußere Erscheinungsbild leidet unter diesem consumismo, sondern der ganze Mensch. Wie jüngste Untersuchun­gen erneut bestätigen, trägt die Langeweile zu einem ganz er­heblichen Teil die Schuld an zahllosen Erkrankungen. Men­schen, die sich bei der Arbeit langweilen, und das sind ca. 70%, sind bis zu viermal häufiger krank als andere. Und krepieren werden sie wohl auch eher als die anderen. Tödliche Langeweile! Der Volksmund weiß es, man weiß es, wir wissen es. Und Krankheiten deformieren zusätzlich, geistig, seelisch und körperlich.
Aber wie sollen gelangweilte Langweiler sich ihrer Situation bewußt werden, geschweige denn, sie ändern können? So wenig wie ein Idiot. Ich breche nicht den Stab über diese Menschen, gerade weil sie nicht bewußt handeln können. Es sind santos innocentes - heilige Unschuldige - wie es im Spanischen heißt. Sie wurden von den Mächtigen zu Deppen gemacht, neutralisiert. Selbst in ihrer Bestialität, mit ihrer Unduldsamkeit und ihrem Rassismus, sind sie im gewissen Sinn Unschuldige. Die wirklich Schuldigen sitzen ganz woanders.
Da fällt mir das große Gut ein, auf dem ich mit 18 Jahren als Volontär arbeitete. Es lag bei Coburg und war, wie man heute sagen würde, sehr diversifiziert. Es gab Weiden für die Milch­kühe, an die tausend Hühner, Schweine- und Stierzucht, Obstbau und Erd­beerfelder, Anbau von Getreide und Zuckerrüben sowie einige Hektar Wald. Außer mir wa­ren 12 Arbeiter und Arbeite­rinnen ange­stellt. Darunter gab es einen älteren boshaften Kerl, der ei­nen jungen Deppen ständig zu irgendwelchen Schand­taten anstiftete und seine Hände immer in Unschuld wusch. Wir luden Zuckerrüben vom Leiterwagen auf Eisenbahnwaggons um und ich sammelte gerade die dazwischen gefallenen Rüben ein, als ich ein solches Ding aus 4 m Höhe ins Kreuz, d.h. genau auf die Niere bekam. Ich klappte zusammen wie ein Taschenmesser, sah nur noch das höhnische Grinsen des Alten und das blöde Lachen des Deppen. Hätte ich nur gekonnt, ich hätte ihn umge­bracht. Das kann man nicht mehr, wenn 14 Tage Bettruhe dazwi­schenlie­gen.
Genau diese Funktion des Alten üben Politiker, Manager und Medien aus. Pfaffen, Lehrer und Generäle nicht zu vergessen. Nur daß sie selbst obendrein zuerst die Menschen von klein auf syste­matisch verblödet haben, dann zu Schandtaten anstiften, sie für Kriege, Pogrome und für jede Art Idiotenarbeit miß­brauchen. Und am Ende stellen sich eben alle diese feinen Her­ren hin und sagen: Nun schaut euch doch bloß mal an, wie sau­blöd dieses Pack ist.
Einer von dieser Sorte war mein Vater. Bis zum bitteren Ende Chefredakteur der Provinzzeitung in Marienwerder, der ehemali­gen Hauptstadt Westpreußens. Was das bedeutet, brauche ich nicht zu erläutern. Er war der typische Einpeitscher, der sich den Arsch in der Etappe wärmte, der in meinen Augen eine 1000-fach größere Verantwortung als ein einfacher Offizier oder irgendein beliebiges Frontschwein trug.
(rot) Die kürzliche Ausstellung in der Kampnagelfabrik über den `Mythos Deutsche Wehrmacht' hat mir nur bestätigt, was ich schon wußte. Allerdings wußte ich nicht, wie perfide die Sol­daten gerade von ihren Vorgesetzten zu Unmenschlichkeiten an­gestachelt wurden, wie penibel man darauf achtete, daß nichts nach außen drang und wie sorgfältig die Spuren verwischt wur­den. Trotzdem hatte ich mir niemals über die Wehrmacht Illu­sionen gemacht. (rot)
Aber das absolut Unverzeihliche war, daß mein Vater Faschist war und blieb, obwohl er 1945 erst 36 Jahre alt war, ihm also nicht die Lernunfähigkeit des Alters als Entschuldigung dienen konnte. Trotzdem konnte kaum eine meiner Freundinnen, auch kaum einer meiner Freunde verstehen, daß ich mich von diesem Men­schen lossagte. In den ersten Jahren nach meinem Weggang ge­lang es ihnen sogar immer wieder, mir ein derart schlechtes Gewissen einzureden, daß ich des öfteren Versöhnungsversuche unternahm, die jedoch regelmäßig katastrophal endeten. Zwi­schen ihm und mir konnte es einfach keine Versöhnung geben, weil er von der Richtigkeit seines Denkens und Handelns abso­lut überzeugt war. Er kannte weder Selbstzweifel noch Tole­ranz. Deswegen hatte er auch keine Freunde. Selbst mit den zwei oder drei Leuten, die selten genug ins Haus kamen, ver­krachte er sich regelmäßig und gründlich. Der Mann war ein Panzerschrank. Wenn er Gefühle gehabt haben sollte, dann müs­sen die dreifach gesichert im hintersten Fach versteckt gewe­sen sein. Ich bezweifle, ob seine Frau jemals an sie hat rüh­ren können. Sie hat sich an ihm gerächt, genau so feige und hinterfotzig, wie sie ihr ganzes Leben lang gewesen ist. Indem sie ihm nach seinem Tod zum Gespött der ganzen Kleinstadt jede Menge Hörner aufgesetzt hat, sie, die immer die treue, anstän­dige deutsche Frau herausgekehrt hat.
Natürlich ist sie im Grunde ein armes Luder gewesen, doch von wem kann man das nicht sagen und damit alles rechtfertigen? Mit 13 lernte sie ihn kennen, heiratete mit 17, bekam zwei Kinder, die nach wenigen Monaten starben, und mit 21 Jahren wollte sie die Flatter machen. In dem Moment hatte mein Vater einen Unfall, bei dem er ein Bein verlor und sie merkte, daß sie schwanger war - mit mir.
Als ich diese Geschichte später von meiner Großmutter hörte, wurde mir manches klarer, vor allem ihr Haß auf mich, der schon von dem 5-jährigen nach Kräften erwidert wurde. Doch ihr Aus­bruchversuch hätte sie mir beinahe etwas sympathisch machen können, wäre er nicht von ihr mit einer geradezu hündischen Unterwerfung kompensiert worden. In allem war sie wie er, nur zweihundertprozentig. Sie half, mich festzuhalten, damit er mit seinem Knüppel, den er als Behinderter immer bei sich trug, besser draufhauen konnte. Sie denunzierte und schwärzte an, machte aus einer Fliege einen Elefanten und verdrehte und giftete und, wenn es sein mußte, log sie auch. Sie war oben­drein faul im Denken und Handeln. Wenn Arbeit anlag, zog sie sich gewöhnlich auf ihre Migräne, Kreuzschmerzen und sonstigen diversen Krankheiten zurück. Politisch betete sie alles nach, was der Alte vorgekaut hatte, und am liebsten las sie Angéli­que, vor und rückwärts, während sie irgendwelche Eierwärmer oder Ärmelschützer häkelte. Das tat sie auch während des Ko­chens, so daß prinzipiell alles 4-fach anbrannte, an allen vier Seiten. Obendrein war das Essen nie gewürzt, weil meine älteste Schwester mit 12 Jahren eine schwere Diabetes bekam. Der Einfachheit halber kochte meine Mutter dann eben für die ganze Familie ungewürzte Diät. Nie mehr danach habe ich so einen Saufraß bekommen wie zuhause, nicht einmal in der Stu­dentenzeit, als das Geld nur für Haferflocken und Milch lang­te. Das hat mir jedenfalls besser geschmeckt, weil es zumin­dest nicht angekokelt war.
Wenn dieses Zuhause etwas Gutes für mich gehabt hat, dann das, daß ich nicht in einen ebensolchen geistigen, seelischen und emotio­nalen Abgrund gestürzt bin. Das Nuttendasein einer ver­heirate­ten Frau hat mir den rechten Anschauungsunterricht ge­geben, um mich für alle Zeiten gegen Ehegelüste immun zu ma­chen. Ich meine natürlich die nicht arbeitenden Frauen, die nur faul zuhause herumhängen. Es ist ja nicht so, daß sie wie im Mittelalter irgendeine ökonomische Funktion hätten. Das, was sie Arbeit nennen, ist zu 90% Beschäftigungstherapie und wäre im Handumdrehen erledigt, wenn sie nicht so chaotisch und desorganisiert wären. Sie müssen natürlich, genau wie die Bü­rokraten, möglichst viel herumwirbeln, um den Schein einer Existenzberechtigung zu wahren.
Umso mehr bewundere ich alle Frauen, die es schaffen, aus ei­nem solchen Horrorkäfig auszubrechen. Wie sie es geschafft haben, sich über Jahre einen Rest Empfinden für Anstand und Menschenwürde zu bewahren, das ist mir ein Rätsel. Emotional und sexuell können sie sich meist nicht mehr regenerieren, nicht in dem Sinne, wie es uns im Zuge des Backlash weisge­macht wird, weil sie sich emanzipiert haben, sondern weil sie es spät, oft zu spät getan haben, weil es überhaupt notwendig war, weil sie nicht von vornherein als Menschen aufwachsen konnten. Aber die Regenerierung der Menschenwürde ist ja wahr­lich nicht wenig.
Wahrscheinlich sind es nur solche Frauen, die wenigstens ir­gendwann einmal Träume hatten, die aber im Laufe des `Vernünf­tigwerdens' zugemüllt wurden. Und plötzlich brechen sich jene Träume wie die Radieschen in meinem steinigen Garten mit dem steinharten Boden Bahn. Aber Mut gehört auf jeden Fall zu ei­nem Neubeginn.
Doch der Mut reicht nicht, um aus der emotionalen Misere her­auszukommen. Dieser Bereich ist zu sehr durch Konventionen und Tabus abgeschottet, als daß er sich so ohne weiteres öffnen ließe. Weder ist es mit ein bißchen Rumbumsen getan, noch mit der Neuauflage der alten Zweierkiste. Auch wenn sie qualita­tiv verschieden ist, d.h. nicht mehr die Kriterien Geld, Macht und Ansehen entscheidend sind, so bleibt das zugrundeliegende Mu­ster doch das gleiche: Der Traum von ewiger Liebe und Treue. Dieser Traum - ob mit Ehe oder ohne - ist millionenfach ge­scheitert, was Millionen nicht hindert, ihn immer wieder von neuem zu träumen.
Gut, diese Frauen verdienen nun selbst ihr Geld und können sich ihre Bude nach ihrem Geschmack einrichten und brauchen nicht mehr den Alten zu fragen, ob sie einen Blumentopf ins Fenster stellen dürfen. Nur, was ist das für ein Geschmack? Was ist das für eine Bude? Was ist das für ein Denken? Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß das alles sich nicht radikal vom alten Leben unterscheidet, daß dem kein neuer Le­bensentwurf zugrundeliegt.
Du mit deinem neuen Lebensentwurf, höre ich Freunde sagen. Als ob du nicht kläglich gescheitert bist. Ja, ich bin kläglich gescheitert. Aber das lag nicht an dem Entwurf, sondern an meiner Unzulänglichkeit, der meiner Gefährtin, meiner Freunde und Freundinnen. Und daran, daß es natürlich höllisch schwie­rig ist, so etwas in einer Gesellschaft zu versuchen, die in allem das Gegenteil behauptet, tut und gegebenenfalls mit Ge­walt durchsetzt. Allein die Erziehung meiner Tochter! Es wird mir heute noch übel, wenn ich daran denke.
Die Misere ging schon in dem städtischen Kindergarten los. Die Kin­dergärtnerin nahm nach zwei Wochen meine Freundin auf die Sei­te und fragte vorwurfsvoll: Wie haben Sie denn Ihr Kind er-zogen! Die Toiletten hatten keine Schlösser, weshalb die Lütte mit einer Hand die Tür zuhielt, dadurch mit dem Arsch aber nicht so richtig die Kloschüssel erreichte und regelmäßig da­neben pißte oder schiß. Und das, nachdem sie zwei Jahre in Frankfurt einen antiautoritären Kinderladen besucht hatte und eifrig wie alle anderen auch `Doktorles' gespielt und den Jun­gens beim Pinkeln den Pimmel gehalten hatte.
Aber Kinder spüren instinktiv, wenn Erwachsene eine negative Grundeinstellung zur Sexualität haben. Es bedarf gar keiner Verbote. Man braucht sie nur einfach nicht bejahen. Deshalb können aus sogenannten aufgeklärten Häusern genauso verklemmte Typen hervorgehen wie aus repressiven Elternhäusern. Im Gegen­teil: Je größer die Repression, umso eher bricht jemand aus purer Opposition aus.
In Freiburg/Bg., diesem gottverdammten Pfaffennest, habe ich mehr lustbetonte und selbstbewußte Frauen getroffen als in dem ach so liberalen protestantischen Norden. Das Perfide ist, daß Duldsamkeit lähmt. Der junge Mensch hat keinen direkten Geg­ner, an dem er sich messen kann, keine klar umrissenen Verbo­te, die er übertreten kann. Man ist ja so verständnisvoll und verzeihend und duldsam. Aber unausgesprochen gibt es die Ver­bote und der Gegner steckt hinter einer freundlichen Maske. Und seine Rache ist umso furchtbarer, weil man doch seine Freundlichkeit mißachtet hat, weil man die Duldsamkeit miß­braucht hat. Der rächende Gott der Protestanten, der alles sieht, ist ja viel furchtbarer als der der Katholiken, den man mit Beichte und dem Ableiern einiger Rosenkränze be­schwich­ti­gen kann. Man schaue sich nur einmal die typisch protestanti­schen Länder wie England, die USA, Australien und Neuseeland an. Dieser Puritanismus vereint mit nicht zu überbietender Heuche­lei! Die skandinavischen Länder bilden da eine gewisse Ausnahme (die Sektiererei wuchert wie nichts Gutes), weil das Christentum dort erst spät seinen glorrei­chen Einzug gehalten hat und kräftig mit Heidentum durchwach­sen ist.
Während der Protestantismus für die Psyche und die Sexualität des Individuums repressiver als der Katholizismus ist, ist er politisch liberaler. Politisch gesehen sind die katholischen Länder, mit Ausnahme Frankreichs, ein Hort der Reaktion und Repression. Auch in Deutschland hat sich die Reaktion immer um die katholische Kirche geschart. Aber - wie wir wissen - dies gilt nur für die normalen Zeiten. In Revolutionszeiten, wenn es um die Macht geht, dann lassen sich die Protestanten von niemandem rechts überholen. Das hat Luther in der Bauernrevo­lution und die überwiegend protestantische Sozialdemokratie 1918 bewiesen. Ein mieses, verlogenes Lumpenpack, allesamt.
Doch es ist ja so, daß das Wesen jeder Religion die Lüge ist. Sie wird von zynischen Machttypen in die Welt gesetzt (die tumben Fanatiker, die den Mist wirklich glauben, sind nur die Instrumente) und produziert notwendigerweise ständig Lüge. Und die Wahrheit muß notwendigerweise bestraft werden und zwar mit jeder nur erdenklichen Härte, wie sie das Christentum seit zwei Jahrtausenden exerziert. Deswegen konnte es nie eine Ge­sellschaft geben, in der Mut zur Wahrheit belohnt wurde. Mir ist bewußt, daß damit im Elternhaus der Anfang gemacht werden müßte, daß auch ich dagegen gesündigt habe. Wenn ein Kind eine Schandtat gesteht, sollte es geküßt und geherzt werden wegen des Mutes, den es bewiesen hat. Doch was machen wir? Wir stra­fen auf die eine oder andere Weise, denn Strafe muß sein! Was sind wir für Kleingeister!
Dem Wesen nach stelle ich mir die Entstehungsgeschichte von Religionen nicht anders vor als das, was man in jeder Gruppe von Kindern beobachten kann. Da gibt es immer ein cleveres Bürschchen, das für alles eine Erklärung hat und den Kleineren Angst vor bösen Geistern und Gespenstern macht, ohne selbst daran zu glauben, und sich dadurch eine Machtposition schafft, was nicht ausschließt, daß er im Laufe der Zeit selbst daran glaubt und sich gelegentlich in die Hosen scheißt.
Religionen und jede sonstige Art von Ideologie haben nichts als Elend über die Welt gebracht, was sich gerade heute wieder in aller Deutlichkeit zeigt. Nie sind die Menschen schneller dabei, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, als im Namen der Religion. Wenn es nur die Hirnamputierten selber träfe, hätte man ja nichts dagegen. Doch trifft es halt auch immer die Ungläubigen, die Toleranten, all jene, die das Leben in all seinen Erscheinungsformen lieben, die Gewalt zutiefst ab­lehnen.
Ich kann mir denken, daß Marx aus diesem Grund die Religionen so verabscheute und es ihn schmerzte, daß die Menschen einer­seits nur in der äußersten Not bereit seien, wie er schrieb, die Revolution zu machen, andererseits aber aus nichtigen re­ligiösen oder patriotischen Gründen (die ja religiöse Züge tragen) allzu bereitwillig ihre Haut zu Markte tragen. Weder 1914 noch 1939 noch in irgendeinem anderen imperialistischen Krieg gab es für das Volk ökonomisch oder politisch irgendet­was zu gewinnen, aber alles zu verlieren, was dann ja auch der Fall war.
Es ist nun einmal so, daß die Rebellion gegen Gott, Kaiser, die Reichen und Mächtigen ein schlimmeres Tabu ist als der Inzest. Würden jährlich ebenso viele Menschen auf die Barrika­den gehen, wie Inzest begehen, sähe die Welt anders aus. Die­ses ekelerregende Duckmäusertum, diese erbärmliche Feigheit, diese schändliche Angst, die immer einhergehen mit Hinterföt­zigkeit, Niedertracht, Rachsucht und Gewalttätigkeit gegenüber Schwächeren. Diese Scheißer sind es doch, die jährlich hun­derttausendfach sexuelle Übergriffe begehen, die Kinder und Frauen mißhandeln, die Tiere quälen und - sonntags in der er­sten Reihe in der Kirche sitzen. Die Angst nimmt den Menschen ihre Würde und macht sie zu erbärmlichen Kreaturen und von solchen Kretins gehen dreizehn aufs Dutzend.
Ich erinnere mich an einen älteren gehbehinderten, aber über­aus starken und wendigen Mann, mit dem ich Anfang der 60-er Jahre ein großes Kirchenportal in Pirmasens fabrizierte. Er erzählte mir, wie der Architekt ihn eines Tages derart schika­nierte und zur Weißglut brachte, daß er ihn quer durch die Kirche gejagt und ihm die Axt hinterhergeworfen habe. Der Kerl verschanzte sich hinter dem Altar und zog einen Revolver! Er habe ihm zu­gerufen: "Schieß doch, du Scheißer. Laß dich bloß nicht mehr hier blicken." Er habe sich umgedreht und sei an seine Arbeit gegangen. Der Architekt hat seinen Rat nur zu gerne befolgt. Jenem Mann konnte niemand seine Würde nehmen. Deshalb bewun­derte ich ihn.
Wer einmal seine Angst verloren hat, dem fällt es schwer, sich die Angst der anderen vor dem Chef, vor Gott, vor weiß der Teufel was allem, vorzustellen. Man muß weit in die Kindheit zurückgehen, um diesen Aggregatzustand zu spüren. Ja, es ist wie das Wasser bei einem plötzlichen Kälteeinbruch. Es er­starrt und wird zu Eis. So war es, wenn ich von der Schule heimkehrte und genau wußte, daß mir dort am Eingangstor zum Kur­park regelmäßig ein viel stärkerer Kerl auflauerte, um mich zu vertrimmen. Je näher ich jenem verdammten Tor kam, an dem kein Weg vorbeiführte, umso gelähmter wurde ich. Die Lähmung ließ erst nach, wenn die ersten Schläge auf mich niedergingen. Dann wurde ich zum Berserker und wehrte mich mit allen meinen Kräften. Zwar unterlag ich immer, aber der andere bekam auch einiges ab, weshalb er es mit der Zeit unterließ.
Nicht nur die Wut auf den anderen, der mich grundlos schlug, ließ mich so handeln, sondern auch die Wut auf mich selbst, wegen meiner Lähmung, wegen meiner Angst, die mich beinahe in die Hosen pissen ließ. Hat man diese Übung einige Male hinter sich gebracht, dann verliert man allmählich die Angst. Aber um sie wirklich und für immer zu verlieren, muß man, bildlich gesprochen, den eigenen Vater töten oder den, der sonst die höchste Autorität ausübt, ob Gott oder der Teufel oder manch­mal auch die Mutter.
In meinem Fall war es der Vater, denn dort lag ja die Quelle des Übels. In Hamburg hatte ich, wie gesagt, regelmäßig Freun­dinnen, die mir wegen des Bruchs mit meinen Eltern die größten Vorwürfe machten, so daß ich ebenso regelmäßig ein schlechtes Gewissen bekam. "Die Eltern sind nun einmal die Eltern. Und sicher hast du auch deinen Teil der Schuld. Das mußt du unbe­dingt in Ordnung bringen." So ging immer die Litanei. Und ich Idiot bei der nächstbesten Gelegenheit nachhausegedüst, um mich mit den Eltern auszusöhnen! Es endete jedes Mal fatal. Mal ging es darum, daß man meinen Umgang in Zweifel zog, mal darum, daß meine Lektüre nicht die richtige sei - Villon ist Schmutz- und Schundliteratur - oder es ging um politische Fra­gen wie etwa das Verhalten der Deutschen in Rußland, worüber ich gerade irgendetwas gelesen hatte. Manchmal dauerte mein Aufenthalt zuhause gerade eine halbe Stunde und ich schnappte meine Sachen und fuhr mit dem nächsten Zug wieder nach Hamburg zu­rück.
Irgendwann kam es dann zum showdown, zur klassischen Ausein­andersetzung, direkt nach dem Freud'schen Lehrbuch. Den Grund des Streits kann ich nicht mehr erinnern. Ich stand im Flur im ersten Stock, mein Vater kam die Treppe hoch und auf der ober­sten Stufe hob er seinen Knüppel und wollte wieder einmal auf mich losgehen. Blind vor Wut und Haß schrie ich ihn an: Na los, hau doch zu. Dann schlag ich dich tot und werf' dich die Treppe hinunter. Er muß meinen Augen angesehen haben, daß es mir damit absoluter Ernst war. Er ließ den Knüppel sinken, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in sein Arbeitszim­mer. Und ich verschwand auf der Stelle nach Hamburg. Seit je­nem mentalen Vatermord hat mich niemals mehr jemand ungestraft ge­schlagen und niemals mehr habe ich Angst vor Autoritäten gehabt.
Das war kein billiger Sieg, denn ich habe teuer dafür bezahlt. Fast ein Jahrzehnt verfolgten mich die übelsten Alpträume, in denen die furchtbaren Fluchterlebnisse, mein knüppelnder Vater und meine rachsüchtige und nachtragende Mutter zu einem unent­wirrbaren Knäuel verschmolzen. Plötzlich dann - ich war 28 Jahre alt - hörten sie auf und es war ein Gefühl, wie wenn eine Uhr plötzlich zu schlagen aufhört. Es fehlt etwas und es dauert, bis man sich dessen bewußt wird. Da wußte ich, daß ich wirklich meine Angst verloren hatte.
Wirklich? Eine Frage, die ich mir wieder und wieder vorgelegt habe: Wie würdest du unter Folter reagieren? Ich habe mir mit dem Messer in den Arm geschnitten, um eine Antwort zu finden, aber die Antwort könnte nur die Realität geben. Mir stellen sich die Nackenhaare einzeln zu Berge beim Gedanken, aus Angst zu einem Schuft und Feigling werden zu können. Zwar hatte ich bei der Lektüre von Fallacis "Ein Mann" das Gefühl: Das bist du. Genauso würdest du reagieren. Aber auch das kann nur ein Wunsch bleiben.
Ob Erziehung das leisten könnte? Menschen ohne Angst heranzu­ziehen? Ich bin davon überzeugt. Das würde natürlich bedeuten, daß es auch nicht mehr solche "Menschen" gäbe, die foltern könnten. Obwohl, das ist leicht gesagt. Wenn dir in allem, was du sagst und denkst und fühlst und liest und glühend liebst und schätzt, widersprochen wird. In dem offiziellen und auch in­offiziellen Leben wurden "wir behandelt, als gäbe es uns nicht", wie Jan Myrdal schreibt. "Die Verfasser, die wir la­sen, die Klassiker, die wir studierten, die Theorien, die wir diskutierten, wurden von den offiziellen (und recht gut be­zahlten) Literaturhistorikern aus der offiziellen Literaturge­schichte gestrichen." Aber nicht nur die Verfasser, sondern auch die Musiker, die Maler und Denker und Staatsmänner. Al­les, was du sagst und tust, ist gegen den Strich, läuft dem, was man sagt und tut, zuwider. Und nun versuche mal, dein Kind zu erziehen, das permanent und überall dem Druck von außen ausgesetzt ist und, wenn es deinen Worten folgt, automatisch in eine Außenseiterrolle gedrängt wird. "Du bist gegen alles, total destruktiv", hörte ich immer wieder von meinen Mitmen-schen. Ja, ich wollte immer diese destruktive und unmenschli­che Gesellschaft niederreißen, wollte sie "vom Kopf auf die Füße stellen". Wollte und will es noch heute und werde es bis an mein Lebensende wollen.
(orange, Ende 1995)
Diese Gesellschaft. Was verdanke ich ihr eigentlich? Nichts. Nicht ich stehe in ihrer Schuld, sondern sie in meiner. Sie hat mir meine Eltern geraubt (indem sie aus ihnen Faschisten machte), meine Heimat, meinen Besitz durch Bomben und Flucht. Vom achten Lebensjahr an habe ich meine Brötchen redlich ver­dient. Steher um Steher Holz gehackt, gestapelt, ins Haus ge­schleppt. Holz gesammelt. Als kleiner Junge bei Eis und Schnee und Hitze in aller Frühe viele Kilometer gelaufen, mich stun­denlang angestellt, um ei­nen Liter Magermilch zu ergattern (bei der man bis auf den Grund der Kanne schauen konnte) oder eine Kanne Fleischbrühe mit drei Fettaugen drauf. Später dann den großen Garten fast allein gemacht - gegraben, gesät, gejä­tet, Bäume und Sträucher beschnitten, okuliert und abgeerntet. Obst und Pilze aus den Wäldern beigeschleppt und selbst gro­ßenteils getrocknet und eingemacht. Den Abwasch gemacht (um den sich meine Geschwister meist erfolg­reich drückten), das Auto geputzt und gewienert.
Nun ja, Schulbesuch und Universität! Jahrzehnte brauchte ich, um den Mist wieder aus dem Kopf zu bekommen. Wofür ich oben­drein einen Hau­fen Studienge­bühren bezahlt habe und da­für die Uni relativ wenig in Anspruch nahm. Gearbeitet als Werkstudent und als gewöhnlicher Arbeiter und später als Freiberufler. Ein Leben lang, ohne von diesem Staat einen roten Heller zu erhal­ten. Aber das wäre ja noch erträglich, wenn dieser Staat in irgendeiner Hinsicht auch "mein" Staat gewesen wäre.
Ein Staat, der das Faschistenpack wieder in Amt und Würden einsetzte, der einen großen Teil der Opfer weiterhin drangsa­lierte und nicht entschädigte, der so schnell wie möglich wie­der die Armee einführte, der unter der Fahne des Christen­tums agierte und rabiate Kommunistenhatz betrieb, nebenher elemen­tare demokratische Grundrechte mißachtete, der sich ständig der amerikanischen Weltmacht andiente und deren sämt­liche Schandtaten guthieß und unterstützte, der alle Reaktio­näre dieser Welt zu seinen Freunden zählte, der die Dritte Welt gnadenlos ausbeutete, der zum drittgrößen Waffenexporteur wur­de, der unsere Umwelt gründlich zerstörte, der die Atomkraft­werke in­stallierte, der unseren Kindes- und Kindeskindern Mil­liarden Schulden aufhalste, um die Macht der Banken zu stär­ken, der korrupt bis auf die Knochen ist, der es einem Athei­sten nicht einmal erlauben würde, Bürgermeister in Schrumpf­hausen zu wer­den, ein solcher Staat kann einfach nicht "mein" Staat sein.
(orange)
Lese "Det Nya Stor-Tyskland" (Das neue Groß-Deutschland) von Jan Myrdal, das er und Gun mir zugeschickt haben. In vielem stimme ich mit ihm überein. Wohl ist es richtig, daß das deut­sche Volk nie im Stande war, eine Nation zu bilden, daß das deut­sche Elend schon 500 Jahre dauert, daß die Demokratie ihm `beigebracht' wurde, daß Bismarck die klein-deutsche Lösung durchsetzte und das alles. Nur, daß Deutschland bzw. die unge­löste deutsche Frage zu einer besonderen Gefahr für die Völ­kergemeinschaft wurde oder werden würde, das bezweifle ich entschieden. Andere Völker sind gerade durch ihre Nationen-Bildung und trotz später erfolgter bürgerlich-demokratischer Revolution seit Jahrhunderten zu einer besonderen Gefahr für weitaus mehr Völker geworden, ob das die Russen sind oder die Franzosen oder die Engländer oder die Amerikaner. Und selbst das kleine Holland oder Belgien sind für viele Völker eine besondere Gefahr gewesen. Auch wenn dies Geschichte ist, soll­te sie nicht vergessen werden. Abgesehen davon, daß im Falle USA und Rußland - die einzigen Großmächte, die ihre Kolonien nicht auflösen mußten - diese besondere Gefahr nach wie vor besteht, auch wenn es in Rußland so aussieht, als würde das Problem friedlich gelöst werden können. Ich traue dem Frieden noch lange nicht.
(rot) Wie recht ich hatte! Ein Fluch, immer wieder Recht zu haben! Jelzin hat sich genau als das Schwein herausgestellt, für das ich ihn von Anfang an gehalten habe. Tschetschenien ist das Bauernopfer, das er zum Erhalt seiner Macht und zur Beschwichtigung der Ultrarechten glaubt bringen zu müssen. Daß dadurch ein Volk zum dritten Mal in den vergangenen hundert Jahren durch die Russen an den Rand der Auslöschung gebracht wird, dadurch eine obszöne Kontinuität von den Zaren über Sta­lin bis zu ihm hergestellt wird, stört ihn dabei nicht im min­desten. Daß damit auch die zarten Keime der Demokratie in Ruß­land zertrampelt werden, noch viel weniger. Doch die größte Schande ist, daß der Westen mal wieder, allen voran Deutsch­land mit Kohl und dem unsäglichen Kinkel an der Spitze, dieses Verbrechen absegnen und ausdrücklich gutheißen. An einem wild gewordenen Araber, da kön­nen sie ihr Mütchen kühlen, aber beim doppelt so wild gewordenen Bären, da machen sich alle die Ho­sen voll. (rot)
Daß die bürgerliche Demokratie kein Garant für den Frieden ist, das weiß Myrdal natürlich auch. Er denkt auch eher an eine soziale Revolution, die ja spätestens seit 1848 und dem Kommunistischen Manifest möglich gewesen wäre. Doch wie, bit­te, soll man sich so etwas denn vorstellen? Deutschland Mitte des vergangenen Jahrhunderts macht seine soziale Revolution und die Deutschen leben fortan als friedliebende Menschen in­mitten raubgieriger Kapitalisten? Es wäre doch genau das glei­che geschehen, was 1919 in Rußland passierte: Sämtliche kapi­talistischen Länder - mit und ohne Demokratie - wären über das Land hergefallen, um das Experiment zu zerschlagen. Die Sow-jetunion konnte sich in die Weite ihres Landes retten. Das hätte Deutschland nicht gekonnt.
In Paranthese: Wieso kann man die Erwartungen, die man an Deutschland stellt, nicht ebensogut an England stellen? Es wäre im übrigen durch sein gewaltiges Empire doch geradezu prädestiniert gewesen, eine friedliche Weltordnung zu schaf­fen. Auch das anzunehmen ist natürlich Unsinn, weil England eine ganz normale bürgerliche, d.h. kapitalistische Demokra­tie war. Ob die ungezählten Millionen Inder, Afghanen, Sudane­sen, Ägypter, Araber, Malaysier, Afrikaner es zu schätzen ge­wußt haben, daß sie von englischen Demokraten gefoltert und massa­kriert wurden, statt von Faschisten, wie später Kommunisten, Zigeuner und Juden? Deutschland ist ein "normales" Verbrecher­land wie alle anderen auch, was weder Entschuldigung noch Apo­logetik bedeutet. Worin soll das Besondere liegen? In der Sy­stematik, mit der die Deutschen die Menschen umgebracht haben? Dann ist also dies der Knackpunkt? Lächerlich. Faschismus liegt in der Logik des Kapitalismus, was J.M. selbst mehr als einmal betont hat. Er hat sich ja wütende Proteste zugezogen, als er behauptete, daß etwas Ähnliches wie in Deutschland un­ter bestimmten Bedingungen auch in Frankreich hätte passieren können, wäre dem Land etwas Ähnliches wie ein Versailles-Frie­den aufgezwungen wor­den.
Für eine zentraleuropäische Regelung wäre doch auch ein ganz anderes Muster denkbar und machbar gewesen. Wären etwa die zahlreichen freien Bauernrepubliken zwischen Ems und Flensburg nicht von Kaiser, Adel und Kirche zerschlagen worden (daß es möglich war, hing lange an einem seidenen Faden), hätte sich in jenem Raum ein zweites Holland bilden können. Schon allein dadurch wäre ein Hitler unmöglich geworden. Die Rheinlande, durch ihre alte Affinität zu Frankreich, hätten ein zweites Belgien werden können, die Bayern wären sowieso die Bayern geblieben, und Preußen wären über kurz oder lang zu einer rus­sischen Provinz geworden (die Mehrzahl der Bevölkerung war eh slawisch und die Krautjunker waren am zaristischen Hof ja oh­nehin bestens eingeführt). Vor allem würde doch in einem sol­chem Denkspiel der Grund für die ständigen Kriege auf deut­schem Boden (ange­fangen vom Dreißigjährigen Krieg) entfallen: Die Angst der anderen Länder vor einer zu starken Zentral­macht.
Ich will damit sagen, daß man keine großdeutsche Theorie (dies in positivem Sinn) bemü­hen muß, um sich eine weniger blutige deutsche Geschich­te bzw. europäische Ordnung vorzustellen. Warum haben die Schweizer nicht den Traum von der deutschen Nation, wo sie doch mehr­heitlich `Deutsche' sind? Oder die Österreicher (naja, die hatten ihn ja, zur falschen Zeit al­lerdings) oder die Hol­län­der, die mindestens so deutsch sind wie die Norddeutschen? Daß Jan Myrdal für die großdeutsche These einen SED - Minister zitiert, macht die Sache nicht glaubwürdiger (S. 164). Gewiß könnte er auch noch andere Zita­te beibringen, nur ich habe weder in Holland, noch in der Schweiz im Volk je auch nur den geringsten Gedanken daran ge­funden. Eine wirklich großdeutsche Lösung, auch und vielleicht gerade unter demokratischen Vorzeichen, wäre für die anderen europäischen (wohlgemerkt!) Länder möglicherweise noch ver­hängnisvoller geworden.
(rot) Bei meinem kürzlichen Aufenthalt in Alteneichen zur zweiten Leistenbruchoperation lernte ich Rocco Giordano ken­nen. Wir trafen uns regelmäßig in der `Räucherbude' mit allen anderen `Verfolgten'. Auch Manny (Man­fred), der Boulespieler, war dabei und eine Reihe Jugendlicher mit dem unterschiedlich­sten Hintergrund - von kriminell bis Gymnasium, wobei der Un­terschied allerdings nur graduell war. Am schönsten war immer, wenn Rocco von seiner Station kam, in den Raucherraum kam, sich wie Moses in der Wüste hinstellte, die Hände gen Him­mel rang und rief: "Gott, wie sind sie häß­lich!!! Häßlich!!!" Er bezog sich auf die Schwestern auf sei­ner Station, besonders auf die eine von zwei Meter Größe und drei Meter Umfang, die ihr Aussehen keineswegs mit Charme und Zärtlichkeit auszuglei­chen versuchte. Die Patienten hatten Angst vor ihr, weil sie von ihr mit Brachialgewalt behandelt wurden. Kurz und gut, Rocco und ich telefonieren und treffen uns seither regelmä­ßig. Und natürlich bringt er immer wieder das Thema Deutsche und Juden und Faschismus auf den Tisch. Gewiß hat er eine er­schütternde Geschichte hinter sich. Die Verfolgung und das schließliche Abtauchen - eine Deutsche versteckte eine ganze Familie! Das muß man sich mal vorstel­len. Aber warum erzählt er mir das ständig von neuem, mir, der ein ebensolches Opfer des Faschismus ist? Nun ja, ich befürch­te, sie erzählen es sich auch untereinander ständig von neuem. Aber darin eben liegt auch die Gefahr, daß alles andere `über­sehen' wird, alle die Völkermorde seit 1945, zu denen die Ju­den hartnäckig ge­schwiegen haben, an denen der Staat Israel gar beteiligt war.
Rocco hat wohl ein distanziertes Verhältnis zu Israel und der Religion - dem Rabbiner hier hat er gesagt, er würde so lange nicht in die Synagoge kommen, so lange die Frauen diskrimi­niert würden, und ihm wird beim Anblick der israelischen Fun­damentalisten ebenso übel wie mir - aber entschiedenen Ab­stand nimmt auch er nicht.
Dabei muß man sich bei den Juden doch die Frage stellen, ob sie nicht durch ihre fixe Idee von der Auserwähltheit in toto Fundamentalisten sind. Auf der Suche nach einem Zitat mußte ich gerade wieder mehrere Bücher Moses durchackern und mir ist speiübel geworden. Für mich gibt es kaum ein primitiveres Buch - sowohl was die Sprache als auch den Inhalt angeht. Von einem solchen Gott auserwählt zu sein - na, ich danke.
Über teutonisches Gebaren gibt es ja weltweit genug Witze. Nun stelle man sich doch bitte vor, die Germanen würden mit Käppis aus Stierleder rumlaufen, sich als die Auserwählten Thors be­zeichnen und nur koscheres Pferdefleisch fressen. Die hätte man doch auch schon vor 2000 Jahren in alle vier Winde gejagt. Wenn ein Volk a priori unfähig ist, andere Völker als gleich­berechtigt anzusehen, dann ist auch ein Zusammenleben mit ih­nen nicht möglich, dann sind Intoleranz und Rassismus, Ausein­andersetzungen bis hin zum Krieg unvermeidlich. (rot)
Ungemein wichtig und richtig ist sein Artikel "Folkmord", der ursprünglich am 30.3.92 in Dagens Nyheter veröffentlicht wur­de. In Paranthese: Dort sagt er etwa auch, daß die Schweden stolz darauf sein können, ihr demokratisches Versammlungs- und Redefreiheits-Recht auch zur finstersten Hitlerzeit beibehal­ten zu haben. Darauf in der Tat kann man stolz sein. Auf eine rühmenswerte Haltung oder Handlung. Nicht auf die bloße Tatsa­che, ein Schwede zu sein. Oder wie ein paar Freunde meinten, sie seien stolz, Deutsche zu sein. Die Kartoffel ist stolz, Kartoffel zu sein. Moberg hat zu Recht gesagt, daß dies die dümmste Art von Stolz sei.
Viel wichtiger in diesem Artikel ist sein prinzipielles Fest­halten an dem Recht auf Rede-, Versammlungs- und Publikations­freiheit des Gegners, auch wenn der Gegner ein Faschist ist. Freiheit ist immer auch die Freiheit des anderen, wie Rosa Luxemburg meinte, was von Linken gerne zitiert, jedoch nur selten eingehalten wurde. Jan Myrdal bezieht sich hier auf den Fall Faurisson in Frankreich, der enorm viel Staub aufgewir­belt hat.
Und er schreibt noch etwas, was ich zum ersten Mal irgendwo lese, was ich aber seit Jahr und Tag vertrete: Wäre Hitler nicht so saudumm (Jan Myrdal sagt irrational) gewesen, hätte er tatsächlich den Krieg gewinnen können.
"Es gab - das wußte man in Berlin - wirkliche Möglichkeiten, große Teile der Bevölkerung in der westlichen Sowjetunion (insbesondere in der Ukraine, aber auch im eigentlichen Ruß­land) als Alliierte gegen Moskau zu gewinnen. Glückte das, dann hätte der Gegner im Kreml zu einem Separatfrieden gezwun­gen werden können, um wenigstens Rußland hinter dem Ural be­halten zu können.
Aber im Banne ihrer Rassevorstellungen begingen nicht nur die SS sondern auch die deutsche Wehrmacht solch absichtliche, furchtbare Grausamkeiten gegenüber den, der deutschen Staats-ideologie zufolge rassisch unterlegenen Slawen in den besetz­ten Teilen Westrußlands, daß selbst die Schichten, die bereit gewesen waren, gegen den Kreml zur Waffe zu greifen, stattdes­sen im Großen Vaterländischen Krieg gegen die deut­schen Besat­zer mit­machten.
Ein anderes Beispiel. Die Forderung nach Unabhängigkeit war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Indien stark. Der na­tional anerkannte ehemalige Vorsitzende der Kongreßpartei Sub­has Cha­ndra Bose ging nach Deutschland, um - der Feind meines Feindes ist mein Freund - eine Allianz zwischen der nationalen Bewegung in Indien und dem Deutschen Reich im Krieg gegen Großbritannien herzustellen. Aber Hitler und die deutsche Füh­rung waren so tief befangen in ihren irrationalen Vorstellun­gen von den rassisch unterlegenen Indern, daß es Bose nicht gelang, Verbindungen auf höchstem Niveau herzustellen.
Die Irrationalität war das Kennzeichen der deutschen Politik. Da der deutsche Imperialismus von rassistischen Wahnvorstel­lungen geleitet wurde, vermochte er nicht seine wirkliche Macht zu entfalten. Ohne diese Irrationalität hätte Deutsch­land im Zweiten Weltkrieg siegen können."
Eine Schreckensvision, bei der ich mir immer die Frage stell­te, was wohl dann aus mir geworden wäre. Gauleiter im Do­nez-becken oder so etwas?
Was Myrdal und mein Freund Eric Göthe (in Folkrätt & Stor­maktspolitik = Völkerrecht und Großmachtpolitik, Stockholm 1992) zum Ossietzky-Fall sagen, ist hervorragend. Aber welche Wirkung hat das schon? Wer liest das denn überhaupt? Die alte Frage nach der Wirksamkeit des Wortes. Sich vorzustellen, daß dieses Saupack von Richtern nicht nur von unserem Geld dicke Gehälter bezieht und Privilegien genießt, sondern auch noch mit irrwitzigen Pensionen in den Ruhestand geht, bringt die Galle zum Überlaufen. Und daß die nicht das geringste Unrecht­bewußtsein besitzen! Genausowenig wie die große Mehrheit der Bevölkerung, sonst würden derartige Dinge nicht geschehen kön­nen. Wenn man dieses Gesindel in den Steinbruch steckte, wür­den sie sich als Opfer eines Justizirrtums oder Unrechtsystems begreifen.
A propos `in den Steinbruch stecken' - das ist immer so eine Redensart von uns gewesen und ich habe lange gebraucht zu be­greifen, daß man als Sozialist nicht die Arbeit einerseits als konstitutiv für die Menschwerdung, das Menschsein verstehen kann, andererseits aber Menschen mit Arbeit, i.e. Zwangsar­beit, bestraft. Das ist kleinbürgerliches Denken, nämlich die Kehrseite der Medaille, die im Nichtstun den schönsten aller Träume sieht. Mit der Zwangsarbeit im Sozialismus hat das Elend angefangen, von den Umständen, unter denen sie verrich­tet wurde, ganz zu schweigen.
Aber wie `straft' man Menschen? Ein Musterbeispiel für sozia­listische `Strafe' ist für mich die Umerziehung des letzten Kaisers von China. Solche Menschen müssen überhaupt erst ein­mal begreifen, daß sie Unrecht getan haben. Das erfordert Er­ziehung, Hilfestellung. Und wenn sie darum bitten, arbeiten zu dürfen, dann gibt man ihnen Arbeit. Daß Pu Yi den Beruf des Gärtners gewählt hat, halte ich, gerade in China, wo Arbeit in und mit Erde immer mit Pöbel in Verbindung gebracht wurde, für eine echte Demutsgeste gegenüber dem Volke.
Gut, aber was ist mit solchen Kanaillen wie den Nazi-Größen? Hätte es da eine andere Möglichkeit gegeben? Ich denke, sie wurden zu Recht gehenkt und leider wurden zu wenig gehenkt. Zumindest die Industriekapitäne hätten auch dran glauben müs­sen. Es gibt derart verabscheuungswürdige Verbrechen, daß kei­nem Menschen zugemutet werden kann, solche Scheusale mensch­lich zu behandeln und zu erziehen (man sollte sich stets fra­gen, ob man selbst in der Lage und willens wäre, einen solchen Job auszuüben). Da ist das Erschießungskommando oder das Hän­gen noch die humanste Lösung.
Prinzipiell steht bei jedem Verbrechen fest, daß auch die Ge­sellschaft versagt hat und nicht nur der Einzelne - die Ge­sellschaft auf jeder Ebene, von der Familie bis zum Staat. Folglich kann man nicht die ganze Last der Schuld dem Verbre­cher auf­halsen.
Ich merke gerade wieder, wie außer­ordentlich schwierig es ist, ständig auf zwei Ebenen zu diskutie­ren. In ei­ner soziali­stisch humanen Gesellschaft wären eben diese großen Verbrechen wie Krieg, Folter, menschenunwürdige Arbeit, Ar­beitslosigkeit u. dgl. gar nicht denkbar. Und Verbrechen, die gleichwohl gesche­hen würden, könnten und müßten eben auch ganz anders behandelt werden als in unserem System. Und derlei Forderungen an dieses System zu stellen, ist einfach aberwitzig, wo es nicht einmal in der Lage ist, sich an die selbst gesteckten Maßstäbe zu halten.
Als ich vorhin in der gläsern-durchsichtigen Abendluft stand, meine Blumen betrachtete und auch die wilden Blumen drumherum, die Disteln, den blau blühenden Klee, die Winden und Wicken - und selbst die Quecke betrachtete ich bewundernd, da sie unter den Pflanzen ein Überlebenskünstler wie die Ratte im Tierreich ist - und dann noch die Mönchsgrasmücken dicht neben mir ihre beiden Jungen fütterten, mußte ich heulen vor Glück. Und auch vor Schmerz, weil diese Art Glück den allermeisten Menschen verschlossen ist. Und weil sie ihnen verschlossen ist, gehen sie mit rabiater Hemmungslosigkeit mit der Natur um, so daß sie systematisch zerstört wird.
Sich vorzustellen, daß dadurch auf der Welt täglich dutzende Arten aus Fauna und Flora vernichtet werden, die noch nicht einmal erfaßt sind, für immer vernichtet werden, als hätte es sie nie gegeben, kann mich in Rage bringen. Wieviel Schönheit der Farbe und Form geht da unwiderruflich dahin! Daß die Herr­schen­den auf die Natur scheißen, das versteht man ja noch, weil die immer so waren und immer so sein werden, aber daß das Volk das geschehen läßt, daß kein Aufschrei durch das Land geht, wenn so etwas bekannt wird, das stimmt mich zutiefst pessimistisch. Da nimmt niemand die Knarre in die Hand und wagt sein Leben (von einer Handvoll Aktvisten von Greenpeace und ähnlicher Organisationen einmal abgesehen); man ist ja auch viel zu sehr damit beschäf­tigt, im Namen von Rasse und Religion den Nächsten um­zubrin­gen.
Da ist es wieder: Wie soll das Volk denn auch ein Bewußtsein für die wesentlichen Dinge erlangen, wenn es tagein, tagaus von morgens bis spät systematisch von den intellektuellen Arschkriechern der Herrschenden verblödet wird? Ich sehe es doch an meinen Boule-Freunden. Alles liebe, nette Kerle und fast alles Proletarier. Die meisten sind mehr oder weniger progressiv. Naja, was man halt so progressiv nennt. Sie wählen nicht den Aznar, sondern den Felipe. Aber wenn die Stunde des Fußballs schlägt, dann lassen sie alles stehen und liegen, um vor die Glotze zu eilen.
Ihr emotionales und intellektuelles Leben ist auf einem sol­chen Tiefpunkt, daß man eher sagen könnte, daß es nicht vor­handen ist. 20, 30, 40 Jahre sind sie verheiratet und fliehen die Alte wie die Pest. Nur zum Fressen stehen sie auf der Mat­te. Sexuell sind die alle total frustriert und ausgehungert. Aber ständig werden Anspielungen gemacht, die in irgendeiner Weise mit Sex zusammenhängen, ständig langen sie sich gegen­seitig an den Sack oder die Eier - aus Spaß natürlich, nicht aus Lust - ständig bramarbasieren sie mit ihren Ficklei­stun-gen, aber eine europaweite Erhebung hat ergeben, daß die Spa­nier ihren Fick am schnellsten erledigen. Kein Coitus inter­ruptus, sondern abruptus.
Gerade hat sich ein Gecko an der Türe regelrecht bemerkbar gemacht und als ich sie öffnete, huschte er schnell herein. So ein Gecko ist wie Charlie Chaplin auf vier Beinen. Sie wat­scheln ganz genau so. Und wenn sie ihre eigenen Scheißhaufen anschleichen, glaubend, weil sie so schlecht sehen, es seien Fliegen, gleichen sie eben­falls Chaplin, wenn er begehrliche Blicke auf seine Schnür­stiefel wirft. Im Moment tummeln sich vier Stück in mei­ner Bude. Ein Männchen robbt sich quakend an die zirpende Alte ran, die aber nur das Fressen im Kopf hat, ein zweites Männ­chen schielt in die Richtung und rechnet seine Chancen aus, und ein ganz junger Gecko sitzt hinter der Gas­flasche und quiekt wie ein junges Ferkel. Richtig zum Lachen wird es, wenn sie ihr Liebesspiel treiben, sich mit erhobenen Schwänzen um­einanderwickeln, abenteuerliche Akrobatik treiben, sodaß man jeden Moment mit ihrem Absturz rechnet. Einfach köstlich.
In `Folket i Bild' 4/93 stellt mein Freund Stefan Lindgren das Buch eines Engländers vor, das nicht nur interessant klingt, sondern es wohl auch ist: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice among the Literary Intelligentia 1880-1939 (Die Intellektuellen und die Volksmassen. Stolz und Vorurteile der literarischen Intelligenz von 1880-1939) von John Carey, 1992 bei Faber & Faber erschienen. Darin weist der Autor nach, daß die englische Intelligenz, angefangen von D.H. Lawrence, Robert Louis Stevenson, H.G. Wells, Virginia Woolfe, T. S. Eliot bis hin zu Ezra Pound alle intellektuelle Wegbereiter des Faschismus waren (rühmliche Ausnahmen waren Conan Doyle, Jerome K. Jerome). Sie träumten lange vor Hitler von Gas- und Todeskammern, in die sie `das Pack' mitsamt den Gelben, Brau­nen und Schwarzen stecken würden, wenn es nach ihnen ginge. Es wird ihr antidemokratischer, massenfeindlicher Charakter nach­gewiesen. So weit so gut.
Aber dann schreibt Stefan (und darauf allein kann ich mich beziehen, da ich Careys Buch nicht kenne): "Die Angst (vor den Massen) war irrational und wurde häufig auf Gegenstände über­tragen, die mit den heranflutenden Massen verknüpft wurden: Konserven, Zahnprothesen, Fahrräder, Kameras, Chöre, Kremato­rien - und das Schlimmste von allem - mit Vororten." Nun sagt Stefan zwar auch, man müsse nicht Faschist werden, wenn man keinen Lachs in Konserven möge, aber er läßt das Gesagte doch so stehen, wobei noch Plastik und Fernsehen dazukommen.
Und das geht nicht. Selbst wenn (oder gerade dann) die Feinde etwas kritisieren, sollte man genau und kritisch hinhören, es auf seine Berechtigung hin prüfen und eventuell seines irra­tionalen Gehalts entkleiden. Konserven, Plastik und das Fern­sehen haben sich ja tatsächlich als Erfindungen mit katastro­phalen Auswirkungen erwiesen. Und das ungehemmte Wachstum der Menschheit hat ihr nicht zum Segen gereicht. Und mit einer Idealisierung der Massen ist es auch nicht getan. Daß die eu­ropäische Bevölkerung zwischen 1800 und dem Ersten Weltkrieg von 180 auf 460 Millionen angewachsen ist, wurde für zahlrei­che Völker dieser Welt zu einer Katastrophe. Statt in Europa den Kampf für eine menschliche Gesellschaft zu führen, gingen eben diese Massen (bzw. große Teile) nach Nord-, Süd- und Mit­telamerika, nach Australien, Neuseeland und Afrika und massa­krierten dort mit wachsender Begeisterung millionenfach un-schuldige Men­schen.
Daß diesem Wachstum nicht Einhalt geboten wurde, hängt sehr stark mit dem christlichen Glauben zusammen (u.a. auch mit geopolitischen Blut- und Bodenideologien, die aber immer mit der Religion sehr gut harmonierten). Und da kann man der In­telligenz auch den Vorwurf machen, daß sie nicht im Geist der Aufklärung den Kampf gegen Kirche und Religion fortgeführt, sondern sich ihnen im Gegenteil oft mit Haut und Haaren ver­schrieben hat. Selbst in der kommunistischen Tradition hat es da einen Bruch gegeben. Der Marx'sche Kampf gegen die Religion wurde nicht fortgeführt (oder aber mit untauglichen Mitteln wie Verboten, Kirchenschließungen u.dgl.). Die Religionen sind, das zeigt sich heute wieder einmal mit aller Deutlich­keit, eine Geißel der Menschheit. Sie alle kleiden sich immer so lange in das Gewand der Toleranz, wie sie nicht die Mög-lich­keit und Macht haben, die anderen, und da vor allem die Nicht­gläubigen, einen Kopf kürzer zu machen, allen voran das Chri­stentum wie Karl-Heinz Deschner mit erdrückender Beweis­kraft dargelegt hat. Daß die religiöse Barbarei bis heute nicht überwunden wurde, gar einen neuen Aufschwung erlebt, und der Oberpfaffe aus dem Vatikan sich überall in der Welt in die inneren politischen Angelegenheiten einmischen kann, ohne daß ihm paroli geboten wird, das ist für mich eines der größten Rätsel.
Wenn ich dieses Pfaffengesindel in seinen Weiberröcken schon sehe, läuft mir die Galle über. Kürzlich standen wir vor der Kathedrale von Málaga, wo offenbar ein hoher kirchlicher Wür­denträger zur Predigt erwartet wurde. Jedenfalls strömten mas­senweise Priester und Betschwestern und natürlich das Volk - hauptsächlich weiblich - zusammen. Selten habe ich so viele gemeine Gesichter auf einem Haufen gesehen. Geprägt von Dumm­heit, Arroganz (eine gute Mischung), Intrigen- und Herrsch­sucht, von Hinterhältigkeit und Brutalität, gepaart mit Feig­heit. Von Menschenfreundlichkeit, Nächstenliebe und Humanität nicht die Spur. Mir machen diese Typen auch Angst. Es ist die Angst vor der potentiellen Macht, die sie u.U. ausüben könn­ten. Und wehe, wer ihnen dann in die Hände fällt. Es sind die alten Sadisten, Folterer und Inquisitoren.
Aber die Menschen sehen das nicht. Sie werden offenbar von dem Schwarz des Pfaffenrocks geistig gelähmt, so daß sie gar nicht die Kanaille sehen können, die darinnen steckt, sondern nur den Vertreter der Kirche und Gottes. Diese These hat ja die Frau von Ludendorff vertreten. Sie war der Meinung, daß - ge­nau wie für Hören, Sehen, Fühlen, Sprechen - im Gehirn ein bestimmter Part für religiöse, mystische, transzendentale Ge­fühle und Gedanken zuständig ist. Die archaische Dominanz die­ses Gehirnteils schalte automatisch den Teil für Zweifel und kritisches Denken aus. Obwohl diese Dame sehr viel Unsinn von sich gegeben hat, erschien mir dieser Ansatz immerhin eine Erklärung dafür zu bieten, daß selbst kluge und intelligente Menschen in Sachen Religion mit absoluter Blindheit geschlagen sein können, unfähig eines normalen, vernünftigen Gedankens, so daß man tatsächlich von Gehirnamputierten sprechen kann bzw. von Gehirnwäsche (in keinem anderen Fall ist dieser Ter­minus des Kalten Krieges angebrachter). Und es wäre eine Er­klärung dafür, daß mit Vernunft und Aufklärung dieser Gehirn­lähmung nicht beizukommen ist. Und so lange sie über die Mut­termilch eingesogen wird, auch nicht beizukommen sein wird. Nun könnte man diese Idioten einfach ihrem Schicksal überlas­sen, wenn sie nur nicht in bestimmten historischen Momenten die verhängnisvolle Neigung hätten, uns Freidenker sowie An­dersdenkende und -glaubende zu massakrieren. Man darf nicht vergessen, daß schließlich das Massaker an Kommunisten, Demo­kraten, Sinti, Roma und Juden im Dritten Reich von guten Chri­sten begangen wurde, genau wie seit Jahrhunderten all die gro­ßen Schlächtereien in der Dritten Welt.
Hier gibt es immer wieder Anlaß, über die vielgerühmte Solida­rität der Spanier untereinander nachzudenken. Ich habe davon noch nicht viel bemerkt. Es ist schon so, wie die Rosa Montero kürzlich schrieb, daß der Spanier nur mit seiner Familie, sei­nen Freun­den, seiner Clique solidarisch ist. Alles, was dar­über hinaus­geht, ist Feindesland. Deswegen hat er zwar einer­seits nie diese Untertanenehrfurcht der Deutschen vor dem Staat entwickelt, ist andererseits aber in keinem anderen Land der Anar­chismus so stark gewesen. Und deshalb hat der Spanier auch nie die geringste Verantwortlichkeit gegenüber seiner Um-welt - ob Mensch, Tier oder Landschaft - gespürt.
Das fängt schon damit an, daß jeder so laut ist, wie es ihm gefällt. Keinem Spanier kommt in den Sinn, daß Lärm Aggression ist, daß Lärm für viele Menschen mit Schmerz verbunden ist. Schon eine Unterhaltung wird in einer Lautstärke geführt, bei der für mich oft die Schmerzgrenze erreicht wird. Freund Arma­da mußte ich schon mehrmals bitten, mir im Auto nicht dermaßen in die Ohren zu brüllen.
Oder: In dem Schuppen nebenan, am Eingang zu Carmens Grund­stück, übt seit einiger Zeit eine Musikgruppe. Nicht nur, daß die Musik extrem scheußlich ist, sondern auch so extrem laut, daß einem die Ohren abfallen, daß selbst die stark schwerhöri­ge Margareta gleich am ersten Tag wie von der Tarantel gesto­chen hinüberrannte und protestierte. Daraufhin habe ich mehr­mals mit den Jungens in aller Freundschaft gesprochen und sie gebeten, etwas leiser zu üben. Gestern zuletzt. Und heute rum­sten sie wieder los. Da platzte mir der Kragen. Ich rannte rüber und habe sie zusammengeschissen, so daß sie gar nicht erst wieder anfingen.
Es geht weiter damit, daß alle Jugendlichen mit aufgebohrten Auspufftöpfen an ihren Mopeds herumfahren. Das ist für mich oft ein solcher Schmerz, daß ich aufbrüllen könnte. Hätte ich ein Maschinengewehr zur Hand, ich würde sie niedermähen. Es ist unfaßbar, wie sich eine Gesellschaft so etwas seit Jahr­zehnten bieten lassen kann.
Zu meiner Freude lese ich in `Mucho Motril', dem kostenlosen Anzeigenblatt, daß sich hier eine Bürgergruppe gebildet habe, die den Kampf gegen den Lärm aufnehmen will. Außerdem lese ich bei Jan Gibson (España), daß in Madrid schon seit einigen Jah­ren 30% aller Klagen, die bei der `Patrulla verde', einer Art Umweltpolizei, eingehen, den Lärm betreffen. Es deu­tet sich also eine Veränderung an.
(1998) A propos Lärm. Nun lebe ich ja seit zweieinhalb Jahren in Schweden auf dem Dorf. Und anfangs fand ich die Ruhe ein­fach göttlich. Umso schmerzhafter ist es dann, wenn auch hier beknackte Jugendliche mit aufgebohrten Mopedauspufftöpfen her­umdonnern und - noch viel schlimmer - erwachsene(?) Men­schen mit amerikanischen Schlitten stundenlang straßauf und
-ab fahren, zwischendurch auch mal richtig auf die Tube treten und mit hundert oder mehr durchs Dorf brettern. Ich habe mehr-mals bei der Polizei den Sachverhalt geschildert. Es passiert nichts. Es muß erst ein alter Mensch untergemangelt werden. Ich würde nach dieser Zeit nicht behaupten wollen, daß das Umweltbewußtsein in Schweden wesentlich weiter als in Spanien entwickelt ist. Ja, gequatscht wird mehr darüber. Aber das ist auch alles. (1998)
Nun ja, und dann passieren solche Dinge, wie in unserer vecin­dad (Anliegergemeinschaft), wo ein Bandit wie der Pepe, der ganz oben wohnt, mit seinen starken Pumpen allen übrigen Be­wohnern das Wasser abpumpt, wenn denn mal welches kommt (aber er behauptet steif und fest, er würde nie einen Tropfen Wasser abbekommen. Haltet den Dieb!). Als am vergangenen Samstag end­lich Wasser kam, war die Freude kurz. Es lief ein wenig und blieb weg, als der Kerl dort oben seine Maschinen anwarf, um Deposito und Schwimmbad zu füllen. Am meisten regen sich die Ausländer auf. Die Spanier auch, aber das ist ein eher lahmer Protest, wahrscheinlich deshalb, weil wohl jeder denkt, daß er selbst es genauso machen würde, säße er an der Quelle. Seit 14 Tagen haben wir kein Wasser - ich nicht einmal zum Duschen - in den Gärten fallen die Früchte alle ab, damit ein paar Leute ihren Arsch ins Schwimmbecken hängen können. Es ist unglaub­lich.
Und es geht weiter mit der ganz unwahrscheinlichen Verdreckung der Umwelt. Würde man wirklichen Feinden des spanischen Volkes den Auftrag geben, das Land gründlich zu versauen, sie könnten es nicht besser machen. Jeder schöne Aussichtspunkt, jedes entzückende Tal, jedes Flußbett - vollgemüllt. Und das Schön­ste ist, daß der Schutt bevorzugt dort abgeladen wird, wo ein großes Schild "Müll abladen verboten" steht. Und das ist nicht etwa harmloser Dreck. Nein: Kühlschränke, Fernseher, Sofas, Betten, Ölkarnister, Batterien, alles, was halt so anfällt. Und hier ist es auch Brauch, daß die lieben Nachbarn, wenn sie nach ihrer Wochenendparty wieder runter in die Stadt fahren, ihre Mülltüten auf die tiefer gelegenen Terrassen werfen, ob­wohl nur ein paar hundert Meter weiter unten große Müllcontai­ner stehen. Einfach reizend.
Ein anderes Beispiel für mangelnde Solidarität aus der Nach­barschaft. Die unter mir liegende, hufeisenförmige Terrasse teilen sich zwei Männer, Juan und Laurelio, in zwei exakt gleich große Terrains. Juans Garten ist nur zur Hälfte mit Obstbäumen bepflanzt, der Rest ist unbearbeitetes Land. Ich fragte ihn, warum er dort nicht Kartoffeln oder Bohnen oder sonst etwas pflanze. Er sagte, daß er das Stück nach und nach wieder mit Obstbäumen bepflanzen wolle, wie es vor seiner Ope­ration gewesen sei. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt und muß­te zwei Jahre lang das Bett hüten und in jener Zeit seien die meisten Bäume vertrocknet. Seither frage ich mich, wie Laure­lio, mit dem er freundschaftlichen Umgang pflegt, seelenruhig zuschauen konnte, wie all die Bäume langsam abstarben, zumal Juan eine Berieselungsanlage hat, so daß Laurelio also nur hätte von Zeit zu Zeit den Hahn aufdrehen und nicht mit der Gießkanne herumlaufen müssen. Ja, es ist ein schlagender Be­weis für die Behauptung von Rosa Montero, daß dem Spanier nur seine kleine Welt am Herzen liegt und der Rest zum Teufel ge­hen kann.
Mit der zunehmenden Hitze wurde der Gestank des Wassers immer unerträglicher. Seit vielen Jahren ist das große Becken oben auf dem Berg nicht mehr gereinigt worden - obendrein ist es offen. Darüber wird geredet, darüber wird geschimpft, aber es geschieht nichts. Also entschloß ich mich, die Scheißarbeit zu tun. Da habe ich mich auf etwas eingelassen. Erst einmal brauchte ich zwei Leitern. Aber hier hat kein Mensch eine Lei­ter, allenfalls kleine Hausleitern. Eine trieb ich bei Alejo auf, dem Schreiner - aus Brettern zusammengenagelt und sau-schwer. Solche Dinger habe ich bisher nur in Afrika gese­hen. Eine zweite Leiter, zusammengeschweißt aus massivem Ei­sen, hatte José, der Nachbar über uns. Das Zeug mitsamt Schau­feln und Eimern hochtransportiert und am Dienstag angefangen. Der Modder war erstens nicht trocken, wie ich gedacht hatte, und zweitens war die Schicht viel dicker als angenommen. Den gan­zen Tag lang schaufelte ich den Scheiß auf fünf große Hau­fen zusammen in dem glühendheißen, aus Wellblech zusammenge­schraubten Ofenloch. Am Tag darauf halfen mir der Sohn des Hirten und José, der neben seinem eigenen großen Obstgarten die Gärten vieler anderer Leute versorgt, den Schlamm mit Ei­mern herauszubefördern. Robert, der Engländer, von dem ich eine halbe Zusage zur Mitarbeit bekommen hatte, ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Überhaupt war unser ganzer Berg von allen Männern im arbeitsfähigen Alter zwei Tage lang wie leer­gefegt. Kaum war ich fertig, da kamen sie an, die Scheißer und schrien nach Wasser.
Wir bekamen weder am Mittwoch, noch am Donnerstag, noch am Freitag Wasser. Dafür hatte ich mich nun krumm gemacht und zwei Nächte vor Schmerzen kaum geschlafen. Am Samstag wurde das Becken aufgefüllt, aber wir hatten immer noch kein Wasser. Nach stundenlangem Suchen stellten wir fest, daß wieder ver­schiedene Hähne zugedreht worden waren. Inzwischen läuft es also wieder, aber so schwach, daß es viele Stunden dauert, bevor meine Regentonne voll ist. Bei der Jagd nach Wasser wird hier zu harten Bandagen gegriffen. Von Solidarität nicht die Spur. Davon ist nur in den Sprüchen jener die Rede, die kein Wasser haben.
Dieses einfache Beispiel auf unterster Ebene zeigt, wie fast unüberwindlich die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens sind. Und ohne Solidarität geht es nun einmal nicht. Man kann nicht an jeden Wasserhahn einen Polizisten stellen. Es lassen sich Normen und Regeln aufstellen. Gut. Pro Hektar erhält je­der soundsoviel Wasser. Aber der eine hat viel Geld und Ein­fluß und schafft sich große Motoren und Auffangbecken an und spuckt auf Solidarität. Was tun? Ihm den Hahn zudrehen? Er geht hin und dreht ihn wieder auf. Das Limit auf der Rechnung festhalten. Aber was, wenn er es überschreitet? Er zahlt doch. Also einen Prozeß führen, der Jahre dauert. Das alles funktio­niert doch nicht, d.h. es funktioniert schon, aber nur nach den Regeln des Faustrechts.
Spanien hat wunderbare Gesetze zum Schutz des Waldes und der Umwelt. Aber wer sorgt für ihre Durchführung? Zumal wenn jene, die damit betraut sind, korrupt sind? Wenn jeder nach Herzens­lust in der Vega bauen kann, wie und was ihm gefällt, ohne Folgen befürchten zu müssen? Wenn jeder seinen Dreck abladen kann, wo es ihm paßt, ohne Angst vor Strafen? Wenn Waldhügel abbrennen, weil sie sich zur Bebauung eignen, aber noch nie irgendjemand wegen Brandstiftung verurteilt wurde? Weil ja bewiesen werden muß, daß es der Bauunternehmer getan hat, der dann auf den Hügel eine Urbanisación stellt und sich eine gol­dene Nase verdient.
Das ist bei uns nicht möglich? Von wegen. Immer wieder werden am Elbufer Richtung Blankenese 100-jährige Eichen und Buchen umgelegt, weil sie die Aussicht auf den Fluß behindern. Es werden regelmäßig Ermittlungen aufgenommen, bei denen nie et­was herauskommt. Es ist ein Witz. Anstatt dem Villenbesitzer 30 Hiebe mit der Nilpferdpeitsche zu verpassen. Oder jener Fabrikbesitzer aus dem Ruhrgebiet, der im Naturschutzgebiet bei Damp an der Ostsee die Erlaubnis erhielt, eine kleine be­scheidene Fischerhütte zu bauen (schon das wäre gesetzeswidrig gewesen). Ich habe sie gesehen, die kleine Fischerhütte - mit zwanzig Zimmern und Parkanlage und einem Marsstall für dreißig Rassepferde. Das befördert die Moral des Volkes.
(1998) Hier erlebt man auf unterster, der Dorfebene ganz ähn­liche Dinge. Vor vielen Jahren hat ein unternehmungslusti­ger junger Mann deutscher Abstammung in einer Riesenhalle des stillgelegten Stahlwerkes eine Forellen- und Lachszucht einge-richtet. Seither nun wird der unterhalb der Fabrik liegende See nach Aussagen vieler Fischer und Angler zunehmend durch die Scheiße und Futterreste und Medikamente der Fischzucht überdüngt. Es gab Proteste und Anzeigen, aber bis heute ist keine Filteranlage eingebaut worden. Dabei gehört der See zu dem Wassereinzugsbereich, dem die Stadt Växjö, Hauptstadt der Provinz, wo auch die ganzen Behörden sitzen, ihr Trinkwasser entnehmen. (1998)
Mir geht das Psychogramm durch den Kopf, das die Alice Schwar­tzer von Bastian/Kelly gemacht hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß es Mord war. Bastian hat Kelly ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung im Schlaf erschossen. Schwartzer schreibt: "Gewiß, sie hat genervt. Aber seit wann steht auf `nerven' die Todesstrafe?" Recht hat sie! Und wie sie genervt haben muß! Mit ihrem Verfolgungswahn und ihrem tyrannischen Gebaren. Sie hat ihn regelrecht zu ihrem Kuli gemacht und ficken durfte er sie auch nicht mehr, was sie auch noch öffentlich gemacht hat. Wie unanständig. Und wie kleinkariert sie sich gegenüber Ba­stians Frau und dessen Lieblingstochter aufgeführt hat. Mehr als das: Bösartig und gehässig und intrigant. Sie muß einen miesen Charakter gehabt haben. Aber das alles rechtfertigt nicht einen Mord.
Er hat alles mit Fassung und Würde getragen, bis - ja bis er nicht mehr konnte. Er wollte gehen, aber er wollte nicht al­lein gehen. Und hier hat er keine Größe bewiesen. Hier brach sich der Spießbürger Bahn, der in dem geliebten Menschen sei­nen Besitz sieht und diesen Besitz nicht loslassen kann und mitnehmen möchte. Ein Gedanke, so absurd, weil er über den Tod hinausführt.
Im übrigen gibt es Parallellen zu dem Fall Camille Claudel und Rodin, nur daß dort noch sexuelle Leidenschaft hineinspielte (die bei Kelly bestimmt nicht zu finden war. Sie muß sexuell ein kaltes Aas gewesen sein.). Auch hier die Treue des Mannes zu einer Frau, die ihm Kinder geboren und in schlechten Zeiten zu ihm gehalten hat und die er zweifellos liebte. Auch hier die junge Geliebte, die plötzlich Ausschließlichkeitsansprüche stellt und damit alles zerstört. Auch hier eine Frau, die von Verfolgungswahn gequält wurde. Nur daß hier der Mann - Rodin - die bessere Figur gemacht hat. Und ich denke, daß in beiden Fällen die Liebe des Mannes zur Frau größer war als umgekehrt. Obwohl im Fall Bastian starke Zweifel angebracht sind. Aus Liebe morden - das ist eine contradictio in adjecto, auch wenn die große Mehrheit das anders sieht. Es könnte allerdings sein - nicht als Entschuldigung, nur als Erklärung - daß es eine reine Kurzschlußhandlung war. Dafür spricht der angefangene Brief, der mitten im Wort aufhört. Doch der Argumentation von Schwartzer kann ich dort nicht folgen, wo sie meint, er wollte damit möglicherweise falsche Spuren legen (zumal selbst der Laie weiß, daß beim Einstieg über den Balkon Spuren entstehen, ob verwertbar oder nicht). Aber in der Verfassung, in der er sich offenbar befand, hat er bestimmt nicht an derlei Pipifax ge­dacht. Und daß es zu einer derartigen Kurzschlußhandlung kom­men konnte, lag daran, daß er den Gedanken wohl schon öf­ters gedacht hatte. Ich glaube, daß ich so etwas deshalb nie tun könnte, weil ich es nicht einmal im Traum gedacht habe; weil für mich im Gegenteil es immer ein ungeheurer Beweis des Ver­trauens gewesen ist, wenn eine Frau mit mir schläft, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, jemanden im Schlaf zu töten. Und ich weiß deshalb genau, daß ich einen derartigen Vertrau­ens­bruch niemals begehen könnte.
Oder aber es war bei Bastian die romantische Idee vom Freitod zweier sich ewig Liebender, kombiniert mit dem Mißverständnis, das auf ihrem ständigen `ohne dich kann ich nicht sein' beruh­te. Natürlich wußte sie, daß sie so einen Kuli nie mehr be­kommt. Ihr Tibeter hat ja auch ziemlich schnell den Abflug gemacht. Allerdings paßt dazu nicht, daß Bastian geäußert ha­ben soll: Wenn sie doch bloß jemand zurücknehmen wollte. Das ist alles sehr widersprüchlich.
Vertraut ist mir, wie wohl vielen Menschen, die Möglichkeit eines Mordes im Affekt. Ein Streit eskaliert bis zu dem Grad, wo man quasi in Weißglut ist, was einen zu allem fähig macht. Ich kann nicht sagen, woher ich in solchen Momenten den Rest Ver­nunft genommen habe, der mir Mord und Totschlag verbot. Nur meine Eltern, Linda und Solveig schafften es, mich in eine solche Verfassung zu bringen. Durch perfide Bosheiten, hinter­fotzige Beschuldigungen und Ungerechtigkeiten. Trotzdem habe ich mich regelmäßig hinterher geschämt - viel lieber wäre ich ganz cool geblieben. Manchmal ist es mir gelungen, wie bei jenem Streit, als Linda mal wieder auszog und mich auf übelste Weise beschimpfte, was Katharina, die Mitbewohnerin, ja mit­bekamm. Sie fragte später Linda, warum sie denn so getobt hät­te, Einar hätte doch gar nichts gesagt. "Ja eben deswegen," war ihre Antwort.
Ich habe ihr dies wie hundert vergleichbare Dinge verziehen, wie man mir auch immer wieder verziehen hat. Trotzdem: Warum nur begeht man immer wieder Handlungen, derer man sich schämen muß, über die man im "nachhinein noch rot wird", wie Ulrike einmal lange nach unserer Trennung sagte.
Merkwürdigerweise verblaßt im nachhinein der Anlaß bis zum völligen Vergessen, während die eigene unverzeihliche Handlung einem immer wieder mit schmerzhafter Deutlichkeit vor Augen rückt. Wie mein Ausrasten im Urlaub in Schweden, bei dem ein Freund von Linda mitgereist war. Solveig hatte mich mal wieder zur Weißglut gebracht (allerdings waren verschiedene Sachen zusammengekommen, die mit ihr weniger zu tun hatten) und ich warf ihr den Suppenteller (aus Pappe) an den Kopf. Dafür schä­me ich mich immer wieder, vor allem wegen des Bildes, wie die Brühe über ihre schönen Haare lief. Scheiße, wie kann man so ausrasten. Und noch etwas ärgert mich dabei maßlos: Daß ich mich einem Kind gegenüber so verhalten habe. Einem Erwachsenen gegenüber hätte ich nicht so reagiert. Ich hätte den Teller in den Wald oder sonst wohin geworfen; wahrscheinlicher noch wäre ich vorher gegangen. Aber das ist halt auch die Crux mit der Kleinfamilie, daß man nicht einfach gehen kann. Man ist auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Vielleicht sollte jede Wohnung eine Gummizelle besitzen, in der man sich hemmungslos austoben kann, so wie in japanischen Fabriken, wo in jenen Räumen die Bilder vom Chef hängen, die man zerfetzen oder mit Darts durchbohren kann.
Das Verhängnis ist, daß in der Kleinfamilie Gewaltenteilung nicht existiert. Legislative, Exekutive und Judikative sind in einer Hand. In der früheren Großfamilie (wie sie teilweise in Afrika heute noch besteht) gab es zwar den Patriarchen, aber dessen Macht war keineswegs grenzenlos. Neben ihm gab es die Macht der Großeltern, die Macht der Onkel und Tanten und son­stigen Verwandten, so daß jeder die Chance hatte, sein Anlie­gen durch mehrere Instanzen zu bringen. Und es gab auch die Macht der Bürgermeister und der Ältesten, die sich auch in Familienangelegenheiten mischen konnten, wenn Mißhandlungen oder Ungerechtigkeiten vorkamen.
Das Beispiel zeigt jedenfalls, daß ein Ausrasten meist gar nicht so unkontrolliert abläuft, wie man es sich und andere gerne glauben machen möchte. Man weiß sehr wohl, wo man es sich `erlauben' kann und wo nicht. Die wenigsten würden wohl ihre `Anfälle', die sie in der Familie bekommen, vor dem Chef ablaufen lassen, weil sie genau wissen, daß dann ab sofort für sie der Erste wäre. Und das macht derlei Handlungen doppelt verwerflich und unverzeihlich.
Warum also derlei Handlungen? Sie haben den Charakter eines Rausches und genau wie dieser, verschaffen sie im Moment ein euphorisches Gefühl und hinterher einen Kater. `Die Sau raus­lassen', `Dampf ablassen' - diese spezifischen Ausdrücke für derlei Fälle gelten im gleichen Maße für den abendlichen Gang in die Stammkneipe. D.h. in der Kneipe laufen diese Prozesse im allgemeinen immer noch kontrollierter ab als in der Fami­lie. Mittlerweile jedenfalls. Vor wenigen Jahrzehnten war das noch anders.
Nicht umsonst habe ich den Diskurs über die Familie oben ein­geschoben, weil miese Handlungen in der Familie am allgemein­sten sind, weil selbst ansonsten untadelige Menschen sie dort begehen. Selbst durch angestrengtes Nachdenken fällt mir nicht eine Handlung gegenüber Freunden, Bekannten oder Fremden ein, deren ich mich schämen müßte. Doch: Als Taxifahrer brachte ich einmal ein junges Mädchen nach Güntherstal, einen Villenvorort von Freiburg, und sie verlor in meinem Wagen 100 DM, in den 60-er Jahren noch eine Menge Geld. Kurz darauf wurde ich über Funk darauf angesprochen, aber ich leugnete, etwas gefunden zu haben. Ich hatte erstens einen extrem beschisssen Lohn (18 DM pro 10-Stunden-Schicht) und zweitens beschwichtigte ich mein Gewissen damit, daß sie wohl nicht zu den Ärmsten gehörte. Das mag ja vielleicht so gewesen sein, aber vielleicht war sie ein ebenso armes Schwein wie ich. Da habe ich mich wirklich nicht gut verhalten. Meine Reue hält sich allerdings in Grenzen. Das ist kein Vergleich zu jenen beschissenen Handlungen in den Be-ziehungen, die man verdammt gerne ungeschehen machen würde.
Also nochmals: Warum? Es entfällt das Argument, man wüßte nicht, was man tue. Es entfällt das Argument, daß man die Fol­gen nicht absehen könne. Im Chefzimmer, wo es gewiß viel häu­figer Anlaß gäbe auszurasten, weiß man es. Ist es also nur des momentanen Rausches willen (es tut so gut, den Frust loszuwer­den)? Glaubt man, gelegentlich zeigen zu müssen, wer Herr im Haus ist? (Und dabei denke ich nicht an die häufigen Fälle, wo das Herumtrampeln auf den Familienmitgliedern den ständigen Identitätsverlust in Gesellschaft und Betrieb ausgleichen muß. Und man kann sicher sein, daß der größte Arsch im Betrieb gleichzeitig zuhause der größte Tyrann ist.) Aber wie nennt man es dann bei Frau und Kindern, die ganz genauso zuhause die Sau rauslassen, wenn sie aus dem Betrieb oder der Schule kom­men. Ander als ein Mann tun sie es durch Nörgeln, Flennen, flegeliges Betragen, aber immerhin, das kann den Partner ge­nauso fertig machen. Es ist wohl so, daß durch allgemeinen Konsens jederman die Familie als den Ort ansieht, wo man völ­lig legitim `die Sau rauslassen' kann. Wenn dann hinzukommt, daß zwischen den Familienmitgliedern nicht eine tiefe und un­verrückbare Liebe besteht, dann wird das traute Heim wahrlich das Vorzimmer zur Hölle.
Dieser Tage war Kalle Hägglund mit Hillevi, seiner Freundin hier. Er überbrachte mit Grüße von Jan und Gun und Eric und Stefan. Mit Stefan hat er darüber gesprochen, daß ich Erinne­rungen schreiben sollte. Mir kommt das so absurd vor. Ich hal­te mich für einen mehr oder weniger belanglosen Durchschnitts­menschen, was viele für Koketterie halten werden. Aber das stimmt nicht. Ich bin immer aufs Neue überrascht, wenn ich gelobt werde. Wenn Rosemarie schreibt, meine Schilderung der Bergwelt hier sei beeindruckend, so frage ich mich, zum Teu­fel, was soll daran (meiner Beschreibung) beeindruckend gewe­sen sein? Denn längst habe ich jedes Wort vergessen, das ich geschrieben habe. Oder wenn Hildrun schreibt, sie habe sich wieder `Zuckerrohr in Andalusien' an­gehört und glaubte, es zum ersten Mal gehört zu haben. Was ich alles beobachtet hätte! Ich bin verblüfft und überlege fieber­haft, was ich denn da geschrieben habe. Das muß damit zusam­menhängen, daß ich zuhau­se immer der Versager, die Null gewesen bin, der Alles-anfängt-und-nichts-zu-Ende-bringt. Ich frage mich auch, ob mein hundsmiserables Gedächtnis nicht mit den vielen Schlä­gen, vor allem den Schlägen auf den Kopf zu tun hat. D.h. so ganz hundsmiserabel ist es gar nicht. Ich habe schließlich mehrere Sprachen gespeichert mit einem erstaunli­chen Wortschatz. Hil­levi war überrascht, wie sicher ich die schwedische Sprache, ihre Melodie, ihre Anwendung und den Wort­schatz im Griff habe, obwohl es so lange her ist, daß ich dort gelebt habe.
Ja, ja, aber es gibt dennoch so Vieles, was ich total verges­se. Ich kann von all den Büchern, die ich gelesen habe, immer nur ganz allgemein sagen, ob sie gut oder schlecht waren. Die Handlung und Argumentation habe ich nicht mehr im Kopf, im Gegensatz zu meinem Großvater, der sagen konnte: Hol' mal das Buch dort oben herunter und schlage die Seite 211 auf, dort steht unten das und das. Zwar bin ich sicher, daß ich Cohn-Bendit etwa, den ich immer für einen Schwätzer gehalten habe (was sich in seinem kürzlichen Interview mit der Fatema Mer­nissi bestätigt hat), mit ziemlich denselben Argumenten begeg­nen würde wie damals in Frankfurt. Aber ich müßte den alten Quatsch hervorsuchen und wieder lesen.
Im übrigen tauchte bei Kalles Besuch ein Phänomen auf, wie ich es in dieser extremen Form noch nicht erlebt hatte. Ich ver­fiel dauernd ins Schwedische, ohne es zu merken, auch wenn ich etwa mit einem spanischen Kellner sprach. Oder ich sprach mit Kalle deutsch oder spanisch, ohne es zu merken. Es hat mich ganz rasend gemacht, daß ich mein Sprechen nicht unter Kon­trolle hatte! Wiederum ist es problemlos, vom Spanischen ins Englische, Französische oder Deutsche zu wechseln. Das verste­he, wer will.
Kalles und Stefans Argument für einen Text von mir ist, daß es für Schweden wichtiger sei, von einem Deutschen eine Einschät-zung über Deutschland, die Hitlerzeit und den Krieg zu hören, als von einem Schweden. Ich las ihm einige Seiten die­ses Tex­tes vor, und er wollte ihn gleich mitnehmen. Aber so weit ist es noch nicht.
Kalle brachte auch die neueste Folket i Bild mit, worin die dringengen Briefe von Lord Carrington und UNO-Generalsekretär de Cuellar abgedruckt sind, die diese an das deutsche Außen­ministerium, i.e. Genscher, schickten und worin eindringlich vor einer einseitigen deutschen Anerkennung Kroatiens durch Deutschland gewarnt wird, worin auch exakt die absehbaren Fol­gen vor Augen geführt werden. Wie es weiterging, das wissen wir inzwischen. Kalle fragte: Was zum Teufel wollen die Deut­schen? Was bezwecken sie damit? Wie kommen sie darauf, sich über die UNO, die USA und die EG hinwegzusetzen? Es muß doch auch ein poli­tischer oder ökonomischer Gewinn bei so etwas herausspringen, aber den sehe ich nicht.
Was soll man darauf antworten? Bin ich Kohl oder Genscher? Im Ernst, ich sehe den politischen oder ökonomischen Gewinn auch nicht. Abgesehen von dem Landfetzen Kroation natürlich, das die Deutschen jetzt als ihre Provinz behandeln können. Aber warum das zu einer Zeit, in der sich doch im Osten ganz andere Perspektiven eröffnen? Aus der Sicht der Kapitalisten natür­lich. Ich glaube, daß da die Bundesregierung mal wieder das Spiel des Vatikan mitgemacht hat. Ich glaube, das wird allzu sehr vernachlässigt. Man weiß doch, wie die deutschen Katholi­ken (angefangen von Hitler bis zu Adenauer) immer mit großen Ohren an den Toren des Vatikan hingen. Schließlich hat der Vatikan den Kroaten sofort ein Milliarde Dollar in den Arsch geschoben (die er aber keineswegs abgeschrieben hatte). Und dann hat es sicher eine starke Lobby gegeben, die in einer Zuspitzung des Konfliktes einen hübschen Extraverdienst sah, die aber natürlich mit fromm verdrehten Augen aufgetreten ist. Außerdem konnte Bonn seine Interessen hinter dem Rauchvorhang der `Dankesschuld' betreiben. Den Deutschen war schließlich die Selbstbestimmung gewährt worden, also müßte sie jetzt auch anderen Völkern gewährt werden. Und die Arroganz der Macht hat natürlich auch mitgespielt.
Aber im übrigen sind Kapitalisten ja auch immer saudumm. Wie Marx gesagt hat, verkaufen sie auch noch den Strick, an dem sie aufgehängt werden. Ihr geiles Profitstreben ist stets der­art kurzsichtig, daß sie zu langfristigen Analysen unfähig sind. Der prekären Lage der Sowjetunion nach der Wende hätte absolute Priorität eingeräumt werden müssen. Der einzige, der das begriffen hatte, war Kohl, das muß zu seiner Ehre gesagt werden. Noch vor den Aufräumarbeiten in der ehemaligen DDR (was auch den Vorteil gehabt hätte, daß man dort nicht so wüst und wild drauflosgewirtschaftet hätte). Jetzt, auf dem Gipfel von Tokio war man endlich allerseits zu dieser Einsicht ge­langt, doch jetzt fehlt das Geld - was natürlich lachhaft ist, angesichts der ungeheuren Gefahren, die da vor unserer Tür lauern. Man weiß genau, daß sich jeder Zeit ein zweites Tschernobyl ereignen kann. Die Umrüstung, Schließung und Si­cherung der bestehenden Atomkraftwerke würde allein 20 Milli­arden Dollar verschlingen (nicht mitgerechnet die Milliarden, die Ersatzenergiequellen kosten würden). Gewiß ist das eine gewaltige Summe, aber im Vergleich zu den mehreren hundert Milliarden Dollar, die ein zweites und drittes Tschernobyl kosten würden, nur ein Trinkgeld. Man weiß das also, aber man läßt den Karren laufen. Das ist eine Verantwortungslosigkeit ohnegleichen. Geschäfte lassen sich schließlich auch nur mit einem einigermaßen stabilen Staatsgebilde machen und nicht mit dem chaotischen Sauhaufen, den das heutige Rußland darstellt.
Es gäbe so ungeheuer viel zu tun auf der Welt, gleichzei­tig aber ist die Hälfte der Menschheit arbeitslos und am Ver­hun­gern. Bedenkt man die kühnen Gedanken und Projekte, mit denen die Bourgeoisie vor 200 Jahren schwanger ging, dann ist die heutige Bourgeoisie Lichtjahre davon entfernt. Noch mein Groß­vater bekam leuchtende Augen, wenn er von der Begrünung der Sahara sprach. Die heutige Bourgeoisie hat weder Projekte noch Gedanken, nur noch die allerprimitivste Gier nach mehr und noch mehr. "In äußerst kurzer Zeit ist eine Welt zerfal­len. Es gibt nichts mehr - außer dem Geld natürlich! - was das aus-sterbende Bürgertum vereint. Ideologisch gesehen hat es auf sein Erbe verzichtet." So schreibt der Schwede Christer En­ander, ein junger und denkender Mensch, in `Den radikale Juke­boxen' (S. 40).
Dieser kaum 30-jährige Schwede hat bei Hägglund ein Buch mit Aufsätzen und Essays veröffentlicht, die man mit Genuß liest. Sie sind in einer klaren und lebendigen Sprache geschrieben und vor allem greifen sie Fragen auf, die zum Denken anregen und diskussionswürdig sind. Mit Schärfe greift er all diese frustrierten Scheißer an, die aus ihrem eigenen Unvermögen und ihrer Denkfaulheit ein Versagen von Aufklärung und Marx und Mao konstruieren, die es sich im Schoß der Mächtigen gut gehen lassen. Ein verachtenswertes Pack! Wichtig ist, daß Enander die Frage richtig stellt: "Dies ist das Schiff, Europa. Das imperialistische Europa, die Herren der Kolonien mit blutigen Händen und besudelten Idealen, Herrscher über Armeen und die Unterdrücker der Sklaven und die eingebildeten Herren und Mei­ster; mit ihren von Hirnsubstanz bespritzten Stiefeln. Sieht so das Europa aus, das wir jetzt vergessen haben? Oder ist es die Aufklärung, der Gedanke, die Vernunft und das Wissen an alle weiterzureichen, nicht nur an die privilegierten Schich­ten der Welt oder von gewissen Teilen der Welt, dieser Gedan­ke, daß Befreiung und Veränderung möglich sind - ist es das, was wir vergessen haben? Die Frage ist unbeantwortet."
Da von der Linken meist ganz allgemein und im banalsten Sinn vom Fortschritt der Menschheit geredet und Aufklärung schlicht mit Technikgläubigkeit gleichgesetzt wurde, konnte sie auch leicht zu der Schlußfolgerung kommen, daß "in den Spuren der Aufklärung immer die Unterdrückung folgt" - ein Argument, das "nicht nur falsch ist, sondern auch den Boden für die neue intellektuelle Barbarei bereitet", wie Enander sagt.
Genausowenig wie ich die Schlußfolgerung jener Linken, die so mühelos sich in Apologeten der Macht verwandelt haben, ak­zep­tieren kann, konnte ich jemals deren Prämisse zustimmen. Der Fortschritt, den sie meinten (und nicht nur sie, sondern eben­so die sowjetische Führung, was sich bis auf Lenin zurück­ver­folgen läßt), betraf immer nur neue und noch neuere Maschi­nen, immer größere Industrieanlagen, immer größere Bomben und Rake­ten. Fortschritt ist für die Fnktionäre Dampf und Strom und Atom und Elektronik und das Fernsehen. Daß dieser Fortschritt uns in einen stinkenden Morast aus Verblödung und Aberglaube und Fa­natismus und Rassismus und Mord und Totschlag geführt hat, ist diesen Leuten deshalb entgangen, weil sie ja eben die Sumpf­blüten dieses Morastes sind. Sie konnten daher nie die Frage stellen, welchen Fortschritt denn die Umgestaltung der Arbeit, die Abschaffung der Ware und des Staates, die wahre interna­tionale Solidarität gemacht hat, die sozialistische Humanität, die Vollendung der Demokratie (nicht deren Abschaf­fung), von der Marx gesprochen hat. Sie konnten nicht bemer­ken, daß der Mensch immer weniger in der Lage war, mit diesem sogenannten Fortschritt bewußtseinsmäßig und moralisch Schritt zu halten, wie Günther Anders so zwingend wie eindringlich bewiesen hat.
Ich habe schon Magengrimmen, wenn im Zusammenhang mit dem Auf­kommen des Kapitalismus von Fortschritt gesprochen wird, denn ich denke, daß von Fortschritt doch nur dann die Rede sein könnte, wenn in den vergangenen 500 Jahren nur ein Mensch we­niger umgekommen wäre (selbst relativ gerechnet). Eine Unter­suchung, die m.W. noch nicht durchgeführt wurde, deren Ergeb­nis aber mit großer Sicherheit nicht positiv für die Neuzeit ausfallen würde. Der Marx'schen Logik, daß diese Entwicklungs­stufe unumgänglich war, um die Grundlagen für eine sozialisti­sche Gesellschaftsform zu legen, konnte ich mich jedoch nicht entziehen.
Wenn allerdings von den europäischen Linken selbstzufrieden von Fortschritt gesprochen wurde, unter Fortschritt durchaus auch der Fortschritt an Bildung und Demokratie verstanden wur­de und man sich auch einig war, daß dieser Fortschritt allein durch den Kampf der Völker zustandegekommen ist, jedoch immer nur den Fortschritt bei uns, in unserem Europa, diesem Anhäng­sel eines gigantischen Kontinentes meinte, dann war ich nie­mals einverstanden. Ich empfand dies stets als einen eingeeng­ten, einen euro - zentristischen Gesichtswinkel. Die Mensch­heit besteht nicht nur aus Weißen, die zum Unglück für die übrige Menschheit noch dazu Christen sind. Eine Binsenweis­heit, die gleichwohl immer und ständig übersehen wird.
Versuchen wir doch wenigstens einmal, uns in die Lage der gro­ßen Mehrheit der Menschheit zu versetzen. Was hat jenen Milli­arden der Fortschritt der vergangenen 500 Jahren gebracht? Ausrottung ungezählter Völker, Mord und Totschlag, Verschlep­pung und Ver­treibung hunderter Millionen von Menschen, den Raub dreier Kontinente, Vergewaltigung von Kulturen, Vernich­tung von unge­zählten Sprachen, Zerstörung und Diebstahl uner­setzlicher Kul­turgüter. Und das Entsetzliche, Unvorstellbare hat noch lange kein Ende gefunden. Es findet täglich, stünd­lich, sekündlich seine Fortsetzung. Und da wagen wir es, von Fortschritt zu sprechen?
Von Fortschritt der Menschheit gar? Ich jedenfalls weigere mich, von Fortschitt zu sprechen, wenn die Barbarei, global und absolut gesehen, zunimmt. Eine Barbarei, die wir über die Welt gebracht haben.
Von über 180 in der UNO vertretenen Ländern stehen über 160 auf den Listen von amnesty international. Willkürliche Verhaf­tungen, Verschleppungen, Folter, Hinrichtungen, mit allem, was das an menschlichem Leiden und Qualen für die direkt Betroffe­nen und die Angehörigen bedeutet, sind in der ganzen Welt an der Tagesordnung (die wenigen Ausnahmen können das Gesamtbild nicht korrigieren). Und der Hunger, den wir verschuldet haben und täglich neu verschulden - ist das etwa keine Folter? Ich denke vor allem an die ungezählten Mütter, die wissen, daß es auf der Welt genug Nahrung gibt, um ihre Kinder zu retten. Ich wage kaum an den Zorn zu denken, der all diese Frauen in ihrer Ohnmacht erfaßt. Aber hierzulande ist das Erstaunen groß, wenn die Menschen in besinnungsloser Wut zuweilen beginnen, die Zentren der Städte zu stürmen und die Läden zu plündern. Er­staunen im besten Fall. Für die meisten der braven Bürger wird es wohl nur ein erneuter Beweis für die Unberechenbarkeit und Wildheit und Kulturlosigkeit der Gelben, Roten und Schwarzen sein.
Angesichts dieser Tatsachen den globalen Sieg des Westens mit Pauken und Trompeten zu feiern, zeigt nur den Grad der allge­meinen Bewußtlosigkeit an. Oder, wie Robert Kurz schreibt: "Tatsächlich hat es etwas grimmig Tröstliches, daß die wert­förmig konstituierte One World mit ihren ökologischen und so­zialen Defiziten die aller kritischen Potenz verlustig gegan­genen Berufsdenker des Westens dazu zwingt, Farbe zu bekennen in freiheitlich-demokratischen Totschlägertheorien. Denn Marktwirtschaft und westliche Demokratie als Oberflächen- und Erscheinungsformen des modernen Fetischismus sind ganz prak­tisch nicht mehr fähig, die überwältigende Mehrheit der Menschheit zu integrieren. Das Ende des Staatssozialismus, der nur eine Modernisierungsdiktatur unter vielen war, bringt er­sichtlich und mit elementarer Gewalt nichts weniger als eine Revitalisierung der westlichen Demokratie, wie es sich die Zivilisationstheoretiker erhofft haben, sondern im Gegenteil die galoppierende Barbarisierung mit sich. Das jugoslawische Menetekel spricht von unserer eigenen Zukunft." (Der Letzte macht das Licht aus, Berlin 1993, S. 52) Dieser Robert Kurz mit seinem frechen Maul wagt selbständig zu denken, was allein ihn schon sympathisch macht, auch wenn ich mit ihm in manchen Fragen nicht einverstanden bin.
Neben mir liegt völlig erschöpft und mit hängender Zunge der Hund. Seit einer Woche jagt er Tag und Nacht den Ladies in der Nachbarschaft hinterher. Frißt kaum, säuft nur jede Menge Was­ser. Die Nachbarin hat ihn mir für 14 Tage in Pflege gegeben. Und mich packt der Zorn, wenn ich sehe, was dieses Vieh, das ja nun gar nichts dafür kann, auf dem Speisezettel hat. Mor­gens Vasa-Knäckebrot mit Käse. Mittags einen Spezial-Hundekno­chen und abends Vollwertflocken mit Büchsenfleisch. Zwischen­durch bekommt er noch seine Markknochen. Wenn er wenigstens der einsam lebenden Dame als Schutz dienen würde, aber nein, denn er begrüßt alle Welt sehr freundlich mit dem Schwanze wedelnd. Er macht lediglich, wie alle Hunde hier, eine Menge Krach durch sein Gebelle. Es ist oft genug ausgerechnet wor­den, wie viele Menschen allein von dem leben könnten, was die westliche Welt für ihre Viecher ausgibt. Aber jetzt, wo ich selbst dem an sich liebenswerten Vieh das Fressen verabreichen muß, berührt es mich doch auf ganz andere Weise.
Und natürlich denke ich an unsere Katze, die unsere Tochter sich unbedingt wünschte. Gewiß bekam sie nur Haferflocken, die mit Abfällen aus dem Fleisch- oder Fischladen gekocht wurden. Aber das sind doch nur Gradunterschiede und Rechtfertigungen. Auch von dem Wenigen, was sie gekostet hat, hätten in der 3. Welt ein oder mehrere Menschen leben können. Es geht ja auch nicht darum, daß wir alle jetzt unsere Hunde, Katzen und Kana­rienvögel umbringen sollen, aber ist es zu viel verlangt, daß jemand, der ein Lebewesen hält, auch an den Mitmenschen denkt? Daß ihm das vielleicht ein besonderer Ansporn sei mitzuwirken, daß wenigstens alle Menschen erst einmal satt werden? Ja, das ist zu viel verlangt.
Was ist dies für eine Zeit
in der deine Liebe
im Scheinwerferlicht deiner Erwartung
so restlos verbrennt
daß du dich fragst
ob es je eine Erwartung gab
Was ist dies für eine Zeit
wo deine Liebe kaum ausreicht
einen Kanarienvogel zu füttern.
Ein Auszug aus einem Gedicht, das ich 1966 schrieb. Immer wie­der dieselben Gedanken in neuer Verkleidung.
Den so­genannten Tierlieb­habern geht es in Wirk­lichkeit gar nicht um das Vieh, sondern ausschließlich um sich selbst. Sie hätscheln oder trietzen es, je nachdem, ob sie zu Selbstmit­leid oder Selbst­haß neigen. Und natürlich ist so ein armes Vieh immer gut da­für, Macht über Leben und Tod ausüben zu kön­nen. Und deshalb ist mir dieses ganze Gesockse von Tier­haltern so wi­derlich.
Es kommt ein Punkt dazu. Hunde machen Lärm und sie scheißen in den Städten alle Gehwege zu. Insofern machen sich Hundehalter zudem einer permanenten Aggression gegenüber ihren Mitmenschen schuldig (ganz genauso wie Autofahrer). Wie oft war ich ge­zwungen, meine Wohnung zu säubern, weil meine Tochter oder ihre Freundinnen oder unsere Freunde oder ich selbst in Hunde­scheiße getappt waren? Wie oft bin ich zuhause aus dem Schlaf gejagt worden, wenn die Hausgenossen ihre Viecher Gassi führ­ten und im Treppenhaus ein ohrenbetäubendes Gebell losging? Und wieviele Nächte konnte ich hier nicht schlafen, weil die hunderttausend Köter ringsherum wie irrsinnig heulten und bellten, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Nacht um Nacht? Es gibt kein anderes Tier, das so penetrant und permanent Krach macht wie der Hund. Und warum muß man das erdulden und erleiden? Damit eine kleine Minderheit ihren Spaß hat. Von dem Kant'­schen Grundsatz `Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem Anderen zu' sind wir wahrlich noch Welten ent­fernt.
Ich habe auch die Autofahrer genannt. Es kommt natürlich das berechtigte Argument: Du bist doch selbst Autofahrer. Diese Frage habe ich mit meinem Freund Hans Steiger - dem `Autofeind Nummer Eins der Schweiz', wie ihn die Medien gerne nennen -
immer wieder durchdiskutiert. Vorausschicken muß man, daß wir beide radikal für die Abschaffung jedweden Individualverkehrs eintreten. Es ist oft genug durchgerechnet worden, daß die Einführung eines optimalen flächendeckenden Verkehrsnetzes, das obendrein kostenlos sein könnte, die Gesellschaft immer noch weitaus billiger käme als unser gegenwärtiges System des Individualverkehrs. Wer also sich gegen diese Lösung sträubt, ist entweder ein Ignorant, ein Reaktionär (etwa die Partei "Freie Fahrt für freie Bürger" in der Schweiz) oder hat ein direktes Interesse an seiner Beibehaltung - schließlich hängen Millionen Arbeitsplätze daran (vom Arzt bis zum Straßenbauer, der Erdöllobby und der Autoindustrie, sowie ihren Zuliefe­rern). Hinzu kommt der Gesichtspunkt der Aggression: Das Auto ist eine Waffe, verpestet die Umwelt, schlägt auf die Ohren, verschlingt Unmengen an Gelände (schon vor 100 Jahren hat ein Österreicher diese eherne Logik des Autos bis zu Ende gedacht) und frische Luft. Schon aus Gründen demokratischer Gesinnung müßten wir alle für die Abschaffung des Autos sein: Würde man jedem erwachsenen Menschen auf der Welt ein Auto zugestehen, dann wäre die Welt schon vorgestern an ihren Abgasen erstickt. Aber diesem Argument weichen selbst die `progressivsten' Men­schen aus.
Nun in all diesen Punkten sind sich Hans und ich vollkommen einig. Es geht also allein um die Frage, weshalb ich ein Auto benutze. Ich habe ihm detailliert nachgewiesen, daß ich bei meinem Verdienst beispielsweise meine Reportagen unmöglich machen könnte. Selbst wenn ich bei einer Reise nach Spanien etwa zwei oder drei auf einmal mache. Das extrem beschissene Honorar für freie Mitarbeiter des NDR würde allein von den Reisekosten verschlungen werden. Oder meinen Freund Uli in der Heide - ca. 65 km von Hamburg entfernt - könnte ich kaum über das Wochenende besuchen. Die Verbindungen sind extrem schlecht und obendrein teuer. Ansonsten benutze ich das Auto in Hamburg selbst so gut wie nie, sondern das Fahrrad. Und für längere Fahrten besorge ich mir immer Mitfahrer.
Für einen Großteil der Berufstätigen ist das Auto ebenfalls ein zwingendes und nicht immer erwünschtes Verkehrsmittel. Piet, mit dem ich im Hafen als Schauermann Schicht arbeitete, haßte sein Gefährt von ganzem Herzen: "Aber kannst du mir sa­gen, wie ich um 5 Uhr früh von Eidelstedt wegkommen soll?" Konnte ich nicht, denn Eidelstedt liegt am Arsch der Welt. Diese Argumente hat Hans schließlich eingesehen. Und sie sind ein Argument mehr im Kampf gegen das Auto, denn ich halte es für eine Ungeheuerlichkeit, daß die Autolobby Menschen gegen ihren ausgesprochenen Willen zwingen kann, ihre Produkte zu benutzen. Nicht nur das. Sie zwingt auch die Gesellschaft, jährlich tausende und aber tausende Tote einfach in Kauf zu nehmen (weltweit ein Hiroshima jährlich), von denen ein großer Prozentsatz völlig Unbeteiligte sind.
Aber das Auto ist ebenso wie die ganze Freizeitindustrie, das Fernsehen, Video zur ideologischen Waffe der Herrschenden ge­worden. Sie sind ein ausgezeichnetes Mittel, die arbeitende Menschheit unten zu halten, es ihr beinahe unmöglich zu ma­chen, aus einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich zu werden. Den Herrschenden ist es gelungen, diese Dinge geradezu zu Symbolen der Freiheit zu stilisieren. Das wurde ja bei der großen Wende mit aller Deutlichkeit exemplifiziert. Armer Marx, im Grabe würdest du dich umdrehen!
Dabei läßt sich die Frage für ein sozialistisches Bewußtsein einfach stellen und einfach beantworten. Was für die große Mehrheit der Menschheit gefährlich und schädlich ist, das darf nicht produziert werden. Die `Mehrheit der Menschheit' muß ergänzt werden: Und für irgendeinen Teil der Arbeiterschaft. Dies für den Fall, wo etwa die Förderung von Blei oder auch Quecksilber durchaus von Nutzen für die große Mehrheit sein kann, aber tödliche Auswirkungen auf jene Menschen hat, die es ans Tageslicht bringen müssen. Würde die Frage unter diesem Gesichtswinkel gestellt werden, die Welt sähe wahrlich anders aus.
Nicht ein einziges `sozialistisches' Land hat auch nur ansatz­weise versucht, eine derartige Politik durchzuführen. Bei sehr schweren und gesundheitsgefährdenden Arbeiten wurde in der SU das Pen­sionsalter heruntergesetzt, aber gleichzeitig hat man dort das Stachanow-System `erfunden'. Nur ein krankes Hirn wie Stalin konnte sich so etwas ausdenken. Einen Akt extrem unso­lidarischen Verhaltens gegenüber den Kollegen (Stachanow er­höhte seine Arbeitsleistung um 1300%!) auch noch zu belohnen! Aber man konnte ja alles damit rechtfertigen, daß es der Staat der Arbeiter und Bauern war. Nur Intellektuelle in ihrer welt­fernen Ignoranz können auf solch haarsträubenden Unsinn kom­men.
1956, ich war 19 und noch so blöde, wie man es ist, wenn man gerade das Abitur hinter sich hat, bin ich auf einem großen Gut bei Coburg ganz unabhängig auch auf diese glorreiche Idee gekommen. Wir waren beim Ernten der Zuckerrüben. Auf Grund der starken Regenfälle konnten die Maschinen nicht eingesetzt wer­den. Die Rüben mußten von Hand herausgerissen, in Reih und Glied gelegt und von ihren Blättern mit Spezialmessern an lan­gen Stielen befreit werden. Mir wurde es zu langweilig, Rübe um Rübe einzeln rauszuziehen. Ich stellte mich zwischen zwei Reihen, nahm links und rechts eine in die Hand, zog sie zur gleichen Zeit heraus und war dadurch doppelt so schnell wie die anderen am Ende des Feldes. Ich war mächtig stolz und wun­derte mich, daß die Arbeiter nicht Beifall klatschten. Sie straften mich im Gegenteil mit Verachtung.
Erich, ein alter Arbeiter, nahm mich am Abend auf die Seite. Er erklärte mir, daß das keine Kunst sei. Jeder andere könne das auch. Aber damit würde jeder seine Gesundheit ruinieren und das Arbeitstempo würde immer mehr beschleunigt werden. Ich schämte mich sehr, weil ich Idiot nicht selbst auf diese Idee gekommen war.
Und mit solch einem System wollte die SU die Welt für den So­zialismus gewinnen! Die Arbeiter rochen den Braten und die Kapitalisten konnten sich beruhigt in ihre Kissen zurückfallen lassen.
Eine ganz andere Sache ist es, wenn Arbeiter oder Bauern in einem kurzfristigen, gewaltigen Kraftakt die Grundlagen für ihre Zukunft gelegt haben, wie das sowohl in der SU als auch in China oft geschehen ist. Vom Krieg zerstörte Fabriken muß­ten in Gang gebracht werden oder kahle, unfruchtbare Hänge in Terrassenfelder umgewandelt werden. Derlei Glanzleistungen sind zu Anfang der Revolution häufig vollbracht worden, so lange Gleichheit noch nicht zu einem Schlagwort degradiert worden war.
Aber der Gedanke, daß jedwede Arbeit, wenn sie immer und ein Leben lang ausgeübt wird, schädlich für Geist und Körper ist (siehe den Bericht im Spiegel im Juni `93 zur Schulsituation, der verdeutlicht, wie Lehrer sich selbst und die Kinder zu Idioten machen, wenn sie ihren Beruf mehr als maximal 10 Jahre ausüben), der wurde nicht einmal gedacht, obwohl es bei Marx genügend Hinweise darauf gibt. Marx und Engels hatten einen allseitig entwickelten Menschen vor Augen, der mehrere sowohl geistige als auch körperliche Berufe ausübt. Sie wollten die Arbeit von ihrem Geruch der Tretmühle und des Zwanges befreien und damit auch den Menschen befreien. Stattdessen hat man in den sozialistischen Ländern die kapitalistische Erfindung der Zwangsarbeit übernommen!
Häufig ist zur Verteidigung der SU - gerade in ihrer Phase des Aufbaus - vorgebracht worden, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte wegen der drohenden Faschismusgefahr. Ich habe dieses Argument immer für grundlegend falsch gehalten. Wäre das Land Schritt für Schritt im Sinne sozialistischer Brüderlichkeit aufgebaut worden (wie Mao es später in Yenan gemacht hat), dann hätten die Menschen ihr Land gegen den Faschismus mit Zähnen und Klauen verteidigt, mit Hacken und Schaufeln und alten Gewehren, genau wie ihre chinesischen Genossen, und sie wären nicht millionenfach zu den Deutschen übergelaufen und am Ende hätte nicht Hitler nachträglich bei Stalingrad gesiegt, was ich schon vor 10 Jahren geschrieben habe und was heute doppelt seine Richtigkeit hat.
Wenn ich an all jene denke, die in diesem Jahrhundert sich schon das Leben genommen haben - Kurt Tucholsky, Walter Benja­min, Klaus Mann, Vilhelm Moberg, Cesare Pavese, Agnes v. Kru­senstjerna, Stefan Zweig, Wladimir Majakowski, etc. etc. - nicht aus persönlichem Mißgeschick, sondern aus Verzweiflung über die Verhältnisse hier auf Erden und weil sie nirgends einen Lichtblick sahen, Menschen von viel größerer Begabung und Klugheit als ich, dann kommt mir mein Leben noch viel sinnloser als ohnehin vor. Es ist, als würden sie aus ihren Gräbern heraus anklagende Finger erheben: Was hast du denn dort zu suchen? Warum habe ich derlei Gedankten? Weil ich seit meiner frühen Jugend an dieser Welt leide, mindestens ebenso gelitten habe wie jene meine Vorbilder und weil mich seit je­ner Zeit der Gedanke an Selbstmord begleitet. Nur habe ich bisher nicht ihren Mut zur Konsequenz gehabt.
Mir schien, als würde ich auf ewig dazu verdammt sein, in je­nem bayrischen Kaff zu verbringen, alle Auswege schienen ver­sperrt, die Welt nach draußen zugenagelt. So sehr ich jene reizende Mittelgebirgslandschaft von Anfang an liebte, die tiefen Wälder der Rhön, die klaren Bäche in den Wiesen mit Blumen, die es seit langem nicht mehr gibt, die unergründliche Saale, die weithin überschwemmten Wiesen im Frühling, so sehr haßte ich von Anfang an jenen frömmelnden, heuchlerischen ka­tholischen Menschenschlag. Prägend waren zwei Erlebnisse. Wir waren gerade nach Bad Neustadt gekommen und bewohnten zu fünft ein kleines Loch in einem Altbau im eigentlichen Bad, das am Fuße der Salzburg am anderen Ufer der Saale lag, und Bad Neu­haus hieß. Wir waren Flüchtlinge, die nur das besaßen, was im PKW Platz gefunden hatte, und, was viel schlimmer war, wir waren Heiden. Wir kleinen Heidenkinder also, meine sechsjäh­rige Schwester und ich mit meinen stolzen acht Jahren, gingen den Weg zum Fluß hinunter, ein Fußweg, der bis hinüber in die Stadt führte. Bei der Kirche trafen wir zwei Schwestern in ihren schwarzen Trachten, die wir grüßten, wie es sich gehör­te. Ich hatte diese Sorte Mensch zuvor niemals gesehen. In Westpreußen hatte es so etwas nicht gegeben. Sie winkten uns zu sich heran und die dicke Ältere begann mit geheimnisvoller Miene in ihren Taschen zu graben. Wir Kinder waren aufs Höch­ste gespannt. Schließlich förderte sie zwei alte angebissene Brotkanten zu Tage, die sie uns feierlich überreichte. Noch heute schäme ich mich, dafür Danke gesagt zu haben. Zu meiner Genugtuung schäumte mein Vater vor Wut. Und mir wird heute noch schlecht, wenn ich vor mir sehe, wo sie nach den Kanten gegrabbelt hatte: Unterhalb ihres Wanstes in Nähe ihrer mit Sicherheit ungewaschenen und stinkenden Möse (das Wort kannte ich damals natürlich nicht, aber ich kann mich nicht entsin­nen, welch groteske Umschreibung damals bei uns üblich war).
An derselben Stelle gegenüber der Kirche wurde ich wenig spä­ter von zwei halbwüchsigen Mädchen nach Strich und Faden ver­trimmt, weil ich ein Heidenkind sei und nicht in die Kirche ginge. Nun, das war gewissermaßen die Einführung in das from­me, erzkatholische Bad Neustadt. Es war allerdings auch meine Einführung in das wirkliche Leben, das ich bis dahin als behü­teter Bengel im feinen Vorortviertel von Marienwerder in West­preußen nicht kennengelernt hatte.
Die Flucht in den endlosen Trecks, die Bomben, der Beschuß aus Jagdflugzeugen, die Leichen links und rechts des Weges, das war nur ein spannender Film gewesen, der in meinem kleinen Hirn abgespeichert wurde und seine Wirkung erst sehr viel spä­ter zeitigte.
Erst dort also, in Bad Neustadt begann für den 8-jährigen die Wirklichkeit des Lebens. Eine sehr fremde Wirklichkeit, aber immerhin. Als der Unterricht wieder in Gang kam, wurde zuhause diskutiert, in welche Schule ich geschickt werden sollte, denn es gab katholische und evangelische Volksschulen. Ich kam in die protestantische. Wegen der geringen Anzahl von Schülern, überwiegend Flüchtlingskinder, paßten alle fünf Klassen in ein einziges Zimmer. Unterrichtet wurden wir von einem `Fräulein', wie es damals hieß, einer jungen und verschlagenen alten Jung­fer, die es liebte, sich von ihren Lieblingen frische Weiden­ruten mitbringen zu lassen, mit denen sie uns auf die Pfoten hauen konnte. Aber scheißfreundlich war sie und je scheiß­freundlicher sie war, um so sicherer konnte man sein, daß sie wieder eine Gemeinheit im Schilde führte. Mit Vorliebe drehte sie einem auch die Ohren dreimal herum, daß man sich dreimal überschlug wie ein Karnickel. Normale Watschen hingegen nahm man kaum zur Kenntnis.
Auch die Brutalität der Kinder untereinander war für mich völ­lig neu. Immer lauerte einem irgendwo ein Typ auf, sprang aus seinem Versteck hervor, haute einem eins in die Fresse und war verschwunden, bevor man sich von seiner Überraschung erholen konnte. Ich mußte viel lernen, lernen, auf der Hut zu sein, auch lernen, daß Anstand nichts galt. Ein anderes Mal war ein kleiner, aber zäher und als Schläger berüchtigter Typ über mich hergefallen. Ich bezwang ihn, saß auf ihm und glaubte, die Sache damit erledigt zu haben. Ich ließ ihn los und stand auf. Er auch, aber nur, um mir einen solchen Hieb zu verset­zen, daß mir ein Zahn rausflog, und dann flitzte er los wie der Teufel.
Kam ich nachhause, war immer irgendwas zerrissen, die Hose oder das Hemd oder die Schuhe - und das in jener Zeit, als es kaum etwas zu kaufen gab, und wenn, dann nur auf Bezugsscheine - und mein Alter glaubte mir natürlich kein Wort, schon gar nicht, daß ich an den Schlägereien unschuldig war (ja, sie sogar verabscheute) und verabreichte mir dann noch eine Tracht Prügel. Ich begann, sie alle zu hassen, ein Haß, der bis heute nichts von seiner Intensität verloren hat.
Ich weiß nicht, wann und wie die ersten Selbstmordgedanken auftauchten. Jedenfalls sehr früh. Ob aus Überdruß an der Un­gerechtigkeit, der Verlogenheit und der Heuchelei oder ob sich anfangs der Haß gegen mich selbst richtete. Einfach verschwin­den aus dieser Welt, die nicht die meine war, nicht die Welt eines kleinen dummen, verspielten und verträumten Jungen.
Mit acht Jahren bot sich erstmals eine Gelegenheit zum Ver­schwinden aus der mir verhaßten Welt. In Bad Neuhaus lernte ich einen amerikanischen Offizier kennen. Ich kann unmöglich sagen, ob wir uns auf deutsch oder englisch verständigten, d.h. mit den paar Brocken, die ich aufgeschnappt hatte (das ganze Bad mit Kurhaus und Villen war natürlich von den Ameri­kanern beschlagnahmt worden). Jedenfalls machten wir lange Spaziergänge und führten, wie ich meine, ernste Gespräche. D.h. sicher auch, daß ich ihm mein Leid klagte. Da versprach er mir, mich mit in die USA zu nehmen. Er und seine Frau hät­ten keine Kinder und würden sich über mich freuen. Aber ich müßte meine Eltern fragen.
Und ich Idiot fragte tatsächlich. Nein, ich kam nachhause und sagte: "Ich gehe nach Amerika." Die Alten sperrten Maul und Nase auf und stereo: "Wohin gehst du?" - "Nach Amerika. Ein sehr netter Mann nimmt mich mit." Schon hatte mein Vater sei­nen Stock, den er als Gehbehinderter immer bei sich hatte, fester gepackt, mich geschnappt und grün und blau geschlagen, wobei die Mutter half, mich festzuhalten. So bekam ich wieder einmal die Beweise ihrer elterlichen Liebe zu spüren. Ob ich danach für ein paar Tage eingesperrt wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls sah ich jenen großen, liebenswerten und ver­ständigen Menschen nie mehr.
Heute graust mir natürlich bei dem Gedanken, was mit großer Wahrscheinlichkeit dort aus mir geworden wäre. GI in Korea oder Vietnam und dann im besten Fall ein liberaler Prof, der in einem der `little houses, a yellow, a red or a blue one' mit einer entzückenden Frau und vier blonden Gören sein Leben zugebracht hätte. Wenn ich daran denke, dann erscheinen mir die weiteren 10 Kerkerjahre, die ich in Bad Neustadt noch zu­bringen mußte, geradezu als Geschenk des Himmels.
In Bad Neuhaus wohnten wir, wie gesagt, zu fünft in einem Zim­mer, das kaum größer als 20 qm gewesen sein dürfte, in einem uralten Haus, das einem Schneider gehörte. Ein Schneider, wie er im Buche steht, alt und bucklig und mit einer Brille auf der Nase saß er auf seinem Tisch, natürlich im Schneidersitz. Und seine Alte war der Hausdrache, vor dem alle kuschten. Dort, in der ersten Zeit, war es auch, wo wir wirklichen Hun­ger zu spüren bekamen. In der Not fraßen wir Eicheln, die vor­her in der Bratröhre des Küchenherdes geröstet wurden, um ih­nen zumindest ein wenig den bitteren Geschmack zu nehmen. Ich muß heute noch kotzen, wenn ich daran denke. Dabei hatten die Pueblo-Indianer Jahrhunderte zuvor ein Verfahren entwickelt, den Eicheln die Bitterstoffe zu entziehen. Die Eicheln wurden sodann zu feinem und hochwertigem Mehl gemahlen.
Die zehn Jahre in Bad Neustadt waren für mich eine Zeit des Überwinterns. Ich legte mir eine Art Kokon zu, den ich nach Belieben öffnen und schließen konnte. Zuhause und in der Schu­le und in der Stadt blieb er geschlossen. Ich war überall als arroganter Bengel verschrien, der niemanden grüßte, was ich aus den Klagen gegenüber meinen Eltern erfuhr. Aber das stimm­te nicht. Ich sah die Leute ganz einfach nicht. Ich sah nur, was ich sehen wollte. Die alte Mauer des Klostergartens mitten in der Stadt, das Pflaster, die kleinen Fenster in den engen Gassen mit ihren Geranien und hübsche Mädchen, die sah ich auch.
Mein Interesse an der Sexualität war verdammt früh erwacht. Noch zuhause in Marienwerder spielte ich des Nachts zu gerne mit meinem Pimmel. Es scheint auch Folgen gehabt zu haben; ich erinnere das nicht mehr, aber ich weiß noch, daß plötzlich meine Mutter abends immer ans Bett kam und mir verbot, die Hände unter der Bettdecke zu haben, was nur zur Folge hatte, daß ich vorsichtiger wurde.
Welch eine Qual, diese ewige Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach dem anderen Geschlecht, das einem gleichzeitig so viel Angst einjagte. Man hatte nichts anderes im Kopf, die Geilheit be­herrschte das gesamte Denken. Ich frage mich, wie wir jemals eine Mathe- oder Physikarbeit schreiben konnten, ohne daß lau­ter Fotzen und Pimmel daraus wurden - wobei wir damals natür­lich weder Fotze noch Pimmel auch nur dachten. Die Sitten in dem frommen Städtchen waren so streng, daß mit dem Rauswurf aus dem Gymnasium bedroht wurde, wer etwa küssend hinter dem Stadtmäuerchen erwischt wurde. Und es gab einen großen Skan­dal, als Nicole, die Tochter eines Ingenieurs aus Berlin, der zu Siemens nach Bad Neustadt versetzt worden war, in unserer Klasse mit einem Ausschnitt auftauchte, der zu viel von ihren üppigen Brüsten sehen ließ.
Ich kann sagen, daß dieses Versprechen, das das Leben zu bie­ten schien, das so vage und undeutlich wie eine Fata morgana an einem allzu fernen Horizont schwebte, das auf jeden Fall aber mit Mädchen zusammenhing, daß es dies war, was mich knur­rend und murrend die Hölle zuhause aushalten ließ. Und die Natur. Jede freie Minute, und die waren nicht so häufig, da ich schon als 8-jähriger hart arbeiten mußte, nutzte ich, um von zuhause abzuhauen. Zu Fuß und die letzten beiden Jahre mit dem Fahr­rad. Ein häufig vorgeschobener Grund war das `Organi­sieren' von Brennholz, von wilden Früchten oder Pilzen oder Obst, je nach Jahreszeit. Das besorgte ich aber nebenbei, kannte ich doch im Umkreis von 10 km alle einschlägigen Stel­len und jeden Obstbaum und wußte genau, wann seine Früchte reif waren. Wich­tig war nur, allein zu sein und endlos herum­strolchen zu kön­nen. Und mit Sicherheit führte mich mein Weg immer an die Saa­le, um im Sommer wie im Winter zu baden. Nackt natürlich, denn die Straße lag weit ab. Aber doch nicht so weit, daß man nicht sehen konnte, daß da jemand nackt badete (ich und manchmal auch mein Freund Heinrich), weshalb öfters im Gymna­sium Aufrufe erschie­nen, die das Nacktbaden auf das Strengste unter­sagten. Sie wurden gewissermaßen ins Blaue er­lassen, denn die Täter fanden sie nie.
Ich weiß auch, warum gerade hier in Spanien die Bilder aus meiner Jugend so massiv wieder auftauchen. Wenn ich auf der Terrasse sitze und dem Flug der Mehl- und Rauchschwalben zuse­he, wie sie elegant und so mühelos mit nur wenigen Flügel­schlägen über das Tal hinsegeln und ihre Kapriolen schlagen, dann sehe ich mich dort im Saale-Tal liegen, ins Blau des Him­mels schauen und eben jenem Spiel der Schwalben zuschauen. Bilder unendlichen Glücks. Und mein ganzes Leben lang, vor allem in den Zeiten meiner tiefsten Depressionen, floh ich hinaus in die Natur, um durch das Schauen meinen Schwerpunkt wiederzufinden. Das mag ein verschneiter Weg im Segeberger Forst sein oder der wolkenverhangene Himmel in den Ebenen Norddeutschlands mit ihren fernen Horizonten, der Wellenschlag des Indischen Ozeans, das Spiel eines Baches in der Sierra Nevada oder die endlose Weite der Masai-Steppe.
Auch Lorca hat diese Erfahrung gemacht. Er sagte einmal zu einem Journalisten: "Ich liebe die Natur. Ich fühle mich ihr mit allen meinen Gefühlen verbunden. Die frühesten Erinnerun­gen meiner Jugend haben den Geruch der Erde. Die Wiesen, die Felder haben für mich Wunder bewirkt. Die wilden Tiere in der freien Natur, das Vieh, die Leute, die auf dem Land leben, all dies hat für mich eine Faszination, die nur sehr wenige Leute begreifen. Wäre dies nicht so, hätte ich nicht Bluthochzeit schreiben können. Meine ersten emotionalen Erfahrungen sind mit dem Land und mit der Arbeit auf dem Land verbunden. Und deshalb gibt es im tiefsten Innern meines Lebens das, was Psy­choanalytiker einen `Agrar-Komplex' nennen würden." (Gibson `Lorca's Granada', S. 136)
Die Erfahrung war für mich immer die gleiche: Das Gefühl, sich fallen lassen zu können, heimgekehrt zu sein. Heimkehr zu mir selbst, was auch mit Heimat zu tun hat. Durch den Verlust mei­ner Heimat habe ich mir in der Natur, egal an welchem Punkt der Welt, eine zweite Heimat geschaffen.
Diese zweite Heimat sollte mir niemand mehr nehmen können und ich hielt sie in meiner Jugend für ewig und unzerstörbar. Na­türlich nahm ich damals schon die Verschmutzungen `meines' Flusses, der Saale, wahr. An einem Wehr unterhalb meines Lieb­lingsbadeplatzes waren sie stets deutlich zu besichtigen: Mal waren es Flaschen, mal eine Holzkiste oder gar mal eine be­reits aufgequollene Sau. Und ich ärgerte mich über jeden Neu­bau, der sich in fruchtbares Land hineinfraß. Jeder Baum, der für die Verbreiterung einer Straße gefällt wurde, war mir ein zu hoher Preis. Ach, wäre es bei all jenen Harmlosigkeiten geblieben, die ich immer für reparabel hielt. Jahrzehnte spä­ter machte ich einen kurzen Besuch in Bad Neustadt an der Saa­le. Die Zerstörung der Stadt und ihres Umlandes hätte ich mir in meiner wildesten Phantasie nicht gigantischer vorstellen können. Neben der alten Kaiserpfalz, der Salzburg haben Strauß u. Co. eine gigantische Herzklinik hingeknallt, der Berg nach Herschfeld mit seinen Obst­terrassen ist mit Villen und Straßen zubetoniert worden, wie alle anderen Hügel rings um die Stadt auch. Und die Stadt selbst? Nun ja, jedes Kaff will sich ja irgendwie das Flair einer Großstadt geben. Ein spastischer Bastard ist das Ergeb­nis. Diese hochwohlanständigen Herren Stadtväter sind überall dieselben Typen. Korrupt bis zur Hals­krause, kungeln und sau­fen und huren sie mit den Herren Bau­unternehmern und Zementfa­brikanten und Holz- und Stahlliefe­ranten herum und da sie alle kulturlose Banausen und Barbaren sind, muß einfach so etwas herauskommen.
Ich lese gerade bei Jan Gibson, daß exakt dasselbe seit 100 Jahren in Granada passiert. Alte traditionsreiche Straßen und Häuser - natürlich auch das Wohnhaus von Lorca - wurden nie­dergelegt, eines der Wahrzeichen der Stadt, der Darro-Fluß, wurde in eine Betonröhre geleitet und statt die Erweiterung der Stadt die Berge hinauf zu planen, wurde hemmungslos die fruchtbare Vega zubetoniert. Dabei gab es schon seit 100 Jah­ren einflußreiche Stimmen, die vor solch einer Entwicklung warnten. Ich frage mich, warum überall, von Haparanda bis Gra­nada, von Le Havre bis Athen (und auch in der übrigen Welt, der entwickelten natürlich!) dasselbe Spiel gespielt werden konnte. Warum sich ausnahmslos und überall diese Schweine durchsetzen konnten. Und es sind ja nicht nur schlicht und einfach kulturlose Abzocker, sondern sie sind außerdem noch kriminell. Ich meine nicht die normale Korruption - die Beste­chung der Politiker, der kontrollierenden Geodäten, der staat­lichen Prüfer u.dgl. Nein, die echte Kriminalität. Wie hier ein paar Millimeter Sand oder Kieselstein als Unterlage für die Autobahn und dort ein paar Kilo Zement pro Kubikmeter beim Mischen für den Elbeseitenkanal eingespart werden. Und wenn sich nach einem Jahr bereits Rinnen und damit Aquaplaning auf der Autobahn bilden, was zu immer neuen Toten führt, oder nach wenigen Jahren der Elbeseitenkanal bricht und hunderte Millio­nen Schäden verursacht, dann ist es niemand gewesen und auch in den pro-forma-Prozessen wird niemals ein Verantwortlicher gefunden. Man könnte sie alle unbesehen einsammeln und an den nächsten Laternenpfahl hängen. Aber das darf man ja in unserem freiheitlich-demagogisch-theokratisch-demokratischen Rechts­staat nicht sagen. Ich nehme es also zurück und behaupte das Gegenteil. Alle Laternenpfähle sollen eingesammelt und ihnen umgehängt werden.
Hier in Spanien läuft es nicht anders. Gleich zwei solcher Exemplare, die ihren Mitmenschen zu Leide leben, habe ich in unmittelbarer Nachbarschaft. Beide wegen betrügerischen Bank­rotts schon verhaftet und im Gefängnis gewesen, sind beide fetter herausgekommen als sie hineingegangen sind. Man sieht ihre Visagen und weiß Bescheid. Und obwohl jeder weiß, daß es Verbrecher sind, werden beide, wenn sie mit ihren schweren Mercedes-Geländewagen die Staubstraße hochjagen, von allen bis hin zum Ziegenhirten freundlich, ja ehrerbietig gegrüßt. Statt ihnen Steine hinterherzuwerfen! Sie zumindest sozial in Acht und Bann zu tun. Aber nein, vor dem betäubenden Duft des Gel­des machen sie brav ihren Knicks und fallen beinahe in Ohn­macht.
Aber ich wollte von der Natur als meiner eigentlichen Heimat reden. Nicht nur, daß alle meine auseinanderflatternden Sinne und Nerven sich dort sammeln konnten, um einen Kern kreisen konn­ten, der allmählich das wurde, was man gemeinhin den ru­henden Pol einer Person nennt, sondern es gab auch eine umge­kehrte Bewegung: Ich selbst floß in den Kreislauf der Natur hinein, mein Puls ging in den Puls der Bäume und Pflanzen, den Puls der Insekten und Vögel über. Ich begann diese grundlegen­de Einheit alles Lebens zu spüren. Die Brüderlichkeit alles Lebendigen, weit hinausgehend über das, was die Revolutionäre von 1789 darunter verstanden. Ich konnte die Augen schließen und mich mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde entfernen und zu einem Atom des Weltalls werden, jenes Atom betrachtend, das wir Erde nennen. Mir gelang es dadurch, Relationen zurechtzu­rücken und selbst nicht dem Hochmut zu verfallen.
Ich habe nie nur einen Quadratzentimeter Land und nicht einen Ziegelstein besessen, aber wo auch immer ich lebte, ob in ver­schiedenen Teilen Deutschlands oder in Afrika oder in Schweden oder jetzt hier in Andalusien, habe ich das jeweilige Fleck­chen Erde stets als `mein' empfunden. `Mein' im Sinne: In mei­ne Obhut gegeben. Ich habe Gärten angelegt und Bäume ge­pflanzt, als würde ich für immer bleiben. In Afrika haben wir ein halbes Dutzend Gärten gehabt und etliche Bäume gepflanzt und die vorhandenen Bäume gehegt und gepflegt, obwohl wir im­mer nur maximal drei Monate blieben. Mehr noch: Selbst die Gärten meiner Freunde habe ich in diesem Sinn als `mein' emp­funden und immer mit Lust und Freude darinnen gearbeitet. Und als ich kürzlich gemeinsam mit den Ökologen hier ein Feucht­gebiet unten am Meer säuberte, war das mein humedal, den es zu erhalten galt. Insofern ist mir die spanische Mentalität, die alles, was außerhalb ihres unmittelbaren Einflusses (sprich Besitzes) liegt, als `Feindesland' betrachtet, außerordentlich fremd. Natürlich ist sie auch bei uns weit verbreitet, aber doch nicht so ausgeprägt wie hier. Es ist die kapitalistische Mentalität: Nach mir die Sintflut.
Neidvoll habe ich immer nach China geblickt, wo in den so viel geschmähten Kommunen hingebungsvolle Arbeit geleistet wurde, die dem Besitzdenken fern lag. Ich verschlang die Berichte von Hinton und Miller und Myrdal und freute mich über jeden noch so kleinen Erfolg. Trotz romantischer Übertreibungen und auch Schönfärbereien so mancher Chronisten gab es da eine Vision, den Gedanken an eine Welt, die durch gemeinsame Anstrengungen verbessert werden könnte und müßte. Und der beschrittene Weg erschien tatsächlich gangbar. Nun ja, wir wissen, was aus die­ser Vision durch den auch in geistiger Hinsicht zwergenhaften Deng wurde. `Bereichert euch' - das Schlagwort der französi­schen Bourgeoisie nach der Revolution wurde auch zum Schlag­wort der Post-Mao-Ära.
`Wo ich mich befinde, dort ist der Mittelpunkt der Welt, aber ich kann mich an vielen Punkten der Welt befinden', sagte einst ein kluger Indianer zu Häuptling Büffelkind Langspeer, dem Vorkämpfer für die Rechte der nordamerikanischen Indianer, der unter so mysteriösen Umständen ums Leben kommen sollte. Dieser Satz enthält auch etwas von dem, was ich meine: Hier bist du jetzt, hier lebst du jetzt, ein anderes Leben gibt es nicht und nun mach was draus. Und zu dem Leben gehört nun ein­mal das Leben der anderen, von Mensch, Tier und Pflanze. Aber das genau haben wir ja nicht einmal ansatzweise begriffen. Da sei Gott vor, könnte man ausrufen. Das Christentum hat 2000 Jahre lang diesen Denkansatz unmöglich gemacht. Gott hat ruck­zuck die Welt erschaffen, hokuspokus den Menschen hineinge­setzt und ihn mit der Aufgabe betraut, sich die Welt untertan zu machen. (Ja, ich sehe sie die Mündlein spitzen und höre ihr Gequake: Das ist aber sehr verkürzt. Und dann zählen sie noch ein paar Ausnahmen auf. Die sollen doch ihr Maul halten und die Bibel lesen und zwar ganz und sollen sich nicht nur her­auspicken, was ihnen in den Kram paßt.)
Dies hat zu einem Hochmut im Umgang mit der Natur geführt, der seinesgleichen auf der Welt nicht wieder findet. Aber ich meinte nicht nur diesen Hochmut, sondern auch jenen gefährli­chen Hochmut, der zu elitistischem und faschistischem Denken führen kann und der immer bei Jugendlichen auftritt, die das Korrektiv der Liebe noch nicht kennengelernt haben, die unsi­cher und voller Komplexe sind, die andererseits wissen, daß sie Gedanken und Gefühle und Wünsche haben, von denen die Men­schen um sie herum nicht einmal eine Ahnung haben. Es ist die Zeit, in der man sich als Genie fühlt, als verkanntes, als Herkules unter Zwergen, der die Welt zum Staunen bringen wür­de, wenn man ihn nur ließe, wenn man ihm nur eine Chance gäbe.
Aber diese Chance löst sich stets wie Frühnebel hinter den Tücken des täglichen Lebens auf, die einen zurück in den Mo­rast werfen, wodurch man tagelang nur damit beschäftigt ist, sich wieder herauszuarbeiten und zu säubern. Mein Alter, der maximal zwei Monate im Jahr von zuhause abwesend war und sein Büro im Haus hatte, daher stets alles unter Kontrolle hatte, versäumte nicht eine Gelegenheit, mir zu zeigen, welch elender Krüppel ich sei. Er hatte sich die Auffassung angeeignet, daß ich als Ältester gegenüber meinen jüngeren Schwestern (zwei und acht Jahre jünger) die Verantwortung trüge. Das wurde na­türlich von meiner nur zwei Jahre jüngeren Schwester weidlich ausgenutzt. Paßte ihr irgendetwas nicht, ließ sie sofort pro­phylaktisch einen Schrei los. Die Tür ging auf, ein Griff und ich bekam entweder eine saftige Backpfeife oder den Arsch ver­sohlt. Es ist verdammt schwer für ein Kind, so viel Ungerech­tigkeit zu ertragen. Mich machte es jedesmal rasend vor Wut. Ich sprach tagelang nicht mit den Eltern oder nur das Aller­notwendigste.
Dieselben Ungerechtigkeiten passierten mir auch ständig als dem mit Abstand jüngsten Kind in meiner Klasse. An mir kühlten die bis zu sechs Jahre älteren Bauernrüpel ihr Mütchen. Bad Neustadt hatte ein Zentralgymnasium, das für das ganze ländli­che Hinterland bis zur Zonengrenze zuständig war. Alle Leute mit Geld, die Bierbrauer, Metzger, Großbauern und Koofmichs schickten ihre Sprößlinge ins Gymnasium, wo die meisten die Mittlere Reife selten überstanden. Aber sie blieben lange ge­nug, um dem Heidenkind zu zeigen, was eine Harke ist. Und man war nicht zimperlich. Einem Jungen, ein zarter Kerl aus Woll­bach, wo sein Vater eine kleine Klitsche hatte, wurde sogar einmal ein Bein gebrochen.
Erst mit fünfzehn Jahren hatte ich die Größe und die Kräfte der anderen eingeholt und ich rächte mich an allen. Ich lern­te, sofort und erbarmungslos zuzuschlagen, sowie mir die ge­ringste Ungerechtigkeit zuteil wurde. Dabei kam mir der von der väterlichen Seite ererbte Jähzorn zugute. Ich verwandelte mich in einen Berserker, der ohne Besinnung zuschlug, auch wenn der andere längst am Boden lag, so daß mich oft genug mehrere Leute von meinem Opfer trennen mußten, bevor es zu spät war. Allerdings ließ ich den anderen in der Regel den ersten Schlag tun. Ich wollte einfach niemals mehr Prügel be­ziehen, niemals mehr Opfer sein. Diese Lektion hatte ich so­wohl im Elternhaus, als auch in der Schule gründlich gelernt.
Vielleicht hat auch dieser starke Wille, nicht selbst Opfer sein zu wollen, frühzeitig zu meiner Solidarität mit allen anderen Opfern auf dieser Welt geführt. Ich erinnere mich, die faschistische Kolonialliteratur, die in meines Vaters Biblio­thek stand, immer `linksherum' gelesen zu haben. Meine Helden waren die Unterdrückten, die Zulus, die Hereros, die Wahaya und ich feierte mit dem Mahdi die vernichtende Niederlage, die er den Engländern bei Khartum beigebracht hatte. Mit Absicht sage ich nicht `Solidarität mit den Schwächeren', denn all diese Völker und Menschen waren ja nicht schwach. Sie konnten nur der eher zufälligen Überlegenheit der Waffen der Weißen nichts entgegensetzen. Als Kitchener seinen Kumpan Gordon rä­chen sollte und die ersten Maschinengewehre zum Einsatz brach­te, war der Heldenmut der Sudanesen, die mit ihren Schwertern und Flinten in immer neuen Wogen gegen die englischen Stellun­gen brandeten, völlig vergebens. Aber Kitchener wurde für sei­ne `Heldentat' zum Earl of Khartoum and of Broome erhoben. Mir war immer rätselhaft, wie man die feigen Weißen, die sich hin­ter ihren Kanonen und ihren Maschinengewehren (später in ihren Schlachtschiffen und Flugzeugen) versteckten, als Helden fei­ern konnte. Im Kampf Mann gegen Mann haben die Weißen meist eine schlechte Figur abgegeben.
Diese Einstellung hat mich quasi automatisch links werden las­sen, lange bevor mir dies als politischer Begriff richtig klar war. Dieser Einstellung habe ich meine quasi-Ausweisung aus der Schweiz 1965 zu verdanken. Wie ich hintenherum erfuhr, wurde mir meine Aufenthaltserlaubnis (und damit auch die Fort­führung meiner Arbeit als Gallerist) deshalb entzogen, weil ich Kommunist sei. Mir war damals völlig unverständlich, wie man zu so einer Auffassung gelangen konnte. Erst Jahre später wurde mir klar, daß, wer mit solchen Einstellungen und seinen Sympathien für alle Befreiungsbewegungen spazierenging, ganz einfach ein Kommunist sein mußte.
Das ist keine Koketterie. Ich war damals so blauäugig. Ich habe zwar schon 1958 für die FLN gespendet, war 1959 oder 1960 auf den großen Demos in Paris mit dem Ruf `Massu - assassin' mitgerannt, die von der Polizei brutal zusammengeschlagen wur­den und ich war von Anfang an für die kubanische Revolution eingetreten, aber als politischen Menschen verstand ich mich nicht. Ich schrieb Gedichte, wann ich Lust und Laune hatte, verdiente mit tausenderlei Jobs meinen Lebensunterhalt und damit hatte es sich. Das hing wohl auch damit zusammen, daß in den Freiburger Künstlerkreisen, in denen ich damals verkehrte, jedwedes politisches Handeln völlig out war. Man diskutierte und kritisierte endlos und leidenschaftlich, aber anschließend fuhren wir zum Kaiserstuhl, um unser Schöpple zu trinken.
Ich glaube, der Widerwille gegen die Politik reicht noch wei­ter zurück, in die Neustädter Zeit. Schon als Kind hörte ich ja das eine oder andere - wie dieser durch seine Beziehungen es zu dem Posten gebracht und jener durch dunkle Machenschaf­ten zu Reichtum gekommen sei - worauf unausweichlich der Stoß­seufzer kam: Politik ist eben ein schmutziges Geschäft. Wann mir klar wurde, daß jene Leute diesen Seufzer nicht aus mora­lischer Empörung taten, sondern weil sie selbst aus diesem oder jenem Grunde oder aus Blödheit nicht mit im Geschäft steckten, weiß ich nicht mehr. Ich machte mir jedenfalls die­sen Satz - mit seinem moralischen Inhalt - zu eigen, zumal er ja auch auf Geld und Macht bezogen war, und beides interes­sierte mich absolut nicht. Selbst hielt ich mich also für ei­nen völlig unpolitischen und harmlosen Menschen, für eine gan­ze Menge Leute hingegen war ich das durchaus nicht.
Außer den Schweizern gibt es noch ein hübsches Beispiel. Der dicke Pfister. Pfister kam aus Mühlbach, ein reizendes kleines Dorf nur zwei Kilometer von Bad Neuhaus entfernt. Er ging nach der mittleren Reife vom Gymnasium ab, für ihn eine gigantische Leistung, wie wir meinten, denn wir hielten ihn alle für einen halben Dorftrottel. Dazu paßte es wunderbar, daß er in seinem Mühlbach Dorfpolizist wurde.
25 Jahre, nachdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, traf ich ihn auf einem Abiturienten-Treffen wieder, wozu er aus mir nicht verständlichen Gründen eingeladen worden war. Schon leicht angeheitert, brüllte er mir über mehrere Tische hinweg zu: "Na, Schlereth, bist du immer noch so ein Linksintellektuel­ler?" Mich rührte fast der Schlag. Wie konnte so ein Idiot mich offenbar damals schon richtig eingeschätzt haben? Das nenne ich Klasseninstinkt.
Außer meiner `unpolitischen Haltung', wie ich meinte, gab es noch einen Punkt, in dem ich sehr früh eine typisch linke Hal­tung einnahm. Mit Schiller, den ich in dieser Frage als ersten las, war ich der Meinung, daß Dichtung erzieherisch zu wirken habe, daß l'art pour l'art in eine Sackgasse führe. Dieser Linie, die über Diderot zu Marx und Mao führt, bin ich bis heute treu geblieben.
In dem Buch über JORGE AMADO von Erhard Engler lese ich, was Amado selbst z.B. über seine Bahia-Serie schreibt: "Als Werk eines jungen Menschen kann sie gar nicht frei von Fehlern sein. Dagegen weiß ich, daß in ihr ein Gefühl lebendig ist, das den Werken der brasilianischen Literatur fast immer man­gelte: eine unbedingte Solidarität und eine tiefe Liebe zu den Menschen, die in diesen Büchern leben." Oder an anderer Stel­le: "Als Schriftsteller verbindet mich eines zutiefst mit Ca­stro Alves: wie er habe ich stets dem Leben die Stirn geboten, und wie er schreibe ich für das Volk und im Auftrag des Vol­kes." Oder: "Meine Parteilichkeit galt der Freiheit gegen den Despotismus und die Übergriffe der Gewalt, dem Schwachen gegen den Starken, der Freude gegen den Schmerz, sie galt der Hoff­nung gegen die Verzweiflung, und ich bin stolz auf meine Par­teinahme. Ich war nie unparteilich und werde nie unparteilich sein im Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Morgen und Gestern." Und noch ein entscheidender Satz: "Ich habe die Freude, mein Herz jung bewahrt zu haben, weil ich nie die Einheit zwischen meinem Leben und meinem Werk gesprengt habe und weil ich sicher bin, daß ich sie nie sprengen werde." Das ist es, was für mich zählt, da mögen die Frösche in ihrem akademischen Sumpf - die Calvo, Bosi, Brode und wie sie alle heißen - noch so laut quaken.
Ich sage nicht, daß sie Unrecht haben. Als bürgerliche Frösche haben sie natürlich Recht. Amado hat `parteiliche' Literatur geschrieben, was er ausdrücklich bestätigt hat. Aber daß die Kritiker der Bourgeoisie zutiefst unehrlich sind, wenn sie bestreiten, daß ihre Literatur ebenfalls parteilich ist, wer­tet ihre Kritik erheblich ab. Und natürlich wirkt auch die sogenannte unpolitische Literatur `erzieherisch', indem sie das Volk verblödet, aber das hören die Vertreter der reinen Kunst nicht gerne. Und da spreche ich noch nicht einmal von all dem Kitsch und Schund, den Lore-Romanen und den Schnulzen auf dem Musikmarkt und den Schmachtfetzen in Kino und Fernse­hen, was schließlich auch zur bourgeoisen Kunst gehört. Da leugnen die bourgeoisen Ästheten schlankweg jede Vaterschaft.
Alle Kunst sollte unter diesem Gesichtspunkt durchleuchtet werden. Ist es Zufall, daß Johann Strauß seinen `Kaiserwalzer' fast zur selben Zeit komponierte, als Kitchener das Massaker unter den Schwarzen Sudans beging? Diese ganze Walzerseligkeit und die Gartenlauben-Literatur blühten zu einer Zeit, als in der Welt die blutigsten Kolonialkriege geführt wurden. Diese `Kultur' war nichts als ein Opiat, um die Gewissen einzuschlä­fern. Und da es so offenbar gut funktionierte, ging man schon in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts dazu über, auch die Gehirne des Proletariats damit vollzupumpen, wie etwa in den Arbeiterbildungsvereinen. Es war ein unverzeihlicher Feh­ler der Sozialdemokratie, die theoretische, geistige und kul­turelle Bildung ihrer eigenen Mitglieder - vom Proletariat insgesamt ganz zu schweigen - total vernachlässigt zu haben. Wobei ich eher geneigt bin, von bewußter Sabotage zu reden und nicht von einem Fehler, wenn ich bedenke, wie revisionistisch verseucht die Partei schon zu einem frühen Zeitpunkt gewesen ist.
Die geistige und kulturelle Bildung des Proletariats hätte das A und O sozialistischer Parteipolitik sein müssen. Vielleicht hat Marx selbst diesen Punkt nicht deutlich genug herausgear­beitet. Der Sozialismus ist schließlich die einzige Gesell­schaftsform, die nicht auf dem Boden der vorhergehenden ent­stehen kann. Marx hat das notwendige Scheitern aller soziali­stischen Utopien innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft bewiesen. Der Kapitalismus konnte auf dem Boden des Feudalis­mus über Jahrhunderte de facto heranreifen, bevor er im ver­gangenen Jahrhundert auch de jure die Macht übernahm. Das kann der Sozialismus nicht. Abgesehen davon, daß er mit den kapita­listischen Marktgesetzen unvereinbar ist, sorgt auch der bür­gerlich-kapitalistische Staat über die Reinheit der Lehre wie dazumal der Großinquisitor und verfolgt mit ebensolcher bar­barischer Strenge jedwede Abweichung. Und das Furchtbare ist, daß der Imperialismus durch seine Wandlung in seine heutige neokolonialistische oder post-imperialistische Form sich so stark gewachsen hat, daß er nicht nur in seinen Stammländern, sondern auch an jedem beliebigen Punkt der Welt jede Abwei­chung sofort und rücksichtslos unterdrücken kann. Ein Kuba, Vietnam oder Moçambique ist heute kaum noch vorzustellen, wenn wir daran denken, wie der Golfkrieg geführt worden ist.
In der Nachkriegszeit und zunehmend in der Zeit, als die Kolo­nien sich von ihren Mutterländern befreiten, mußten noch viele dieser `chirurgischen' Eingriffe in größter Heimlichkeit mit Hilfe der Geheimdienste, gekaufter Söldlinge und sorgfältig geplanter Morde und Coups durchgeführt werden. Man denke nur an Iran, Zaire, Indonesien, Chile, an Mondlane, Cabral usw. Heute ist der Sieg des Kapitals so vollständig, seine Macht so ungeheuer, daß es sich den UNO-Mantel des Friedensstifters umhängen und drauflos bomben kann, unter dem frenetischen Bei­fall der gesamten `zivilisierten', der weißen Welt (und Ja­pans, die Ausnahme, aber als Preußen Asiens sind sie ja fast Weiße). Konnten sich früher noch die Linken in der seligen Hoffnung wiegen, daß die Revolution über die fernen `eins, zwei, drei, vielen Vietnams' irgendwann einmal auch die Mut­terländer erreichen würde - wie ja die afrikanischen Befrei­ungskriege in Angola, Moçambique, Guinea-Bissao tatsächlich Rückwirkungen auf das Mutterland gehabt haben - so liegt im Gegenteil die Verantwortung heute wieder dort, wo sie eigent­lich immer gelegen hat, nämlich allein bei uns. Eine Umwälzung ist nur noch in den Mutterländern denkbar und auch machbar - allerdings nur unter Beteiligung der großen Mehrheit der Be­völkerung (man braucht nur an die extreme Anfälligkeit unserer Kommunikationsgesellschaft zu denken, um sich vorstel­len zu können, wie wenig nötig wäre, um sie vollständig lahm­zulegen).
Allerdings gilt auch heute, was ich an anderer Stelle für das vorige Jahrhundert geltend gemacht habe, daß falls - den völ­lig unwahrscheinlichen Fall angenommen - in Deutschland eine Revolution einträte, die Internationale des Kapitals bestimmt nicht untätig zuschauen würde. Sie würde, allen ihren demokra­tischen Lippenbekenntnissen zum Trotz, notfalls nicht davor zurückschrecken, Deutschland in die Steinzeit zurückzubomben. Man denkt unwillkürlich an Trotzkis Idee von der `Unmöglich­keit der Revolution in einem Land' - die damals zu Recht von Stalin bekämpft wurde (wobei der Eispickel das denkbar unge­eignetste Instrument war) - d.h. daß revolutionäre Entwicklun­gen heute simultan in mehreren Ländern stattfinden müßten, etwa in Westeuropa oder den USA. Aber, so etwas nur zu denken, ist ja schon Schwachsinn. Da müßten schon für eine Weile alle Fußballspiele abgesagt und die Bierproduktion eingestellt wer­den.
Jetzt steigt beinahe täglich hier im äußersten Süden Spaniens die Temperatur, so daß jede Bewegung einem immer schwerer fällt und auch die Synapsen im Gehirn sich langsamer zu öffnen und zu schließen scheinen. Sevilla hatte vor kurzem 47 Grad im Schatten. Hier liegen die Temperaturen meist zwischen 32 und 38 Grad, aber die Luftfeuchtigkeit ist außerordentlich hoch, so daß man immer und zu jeder Stunde des Tages und der Nacht in Schweiß gebadet ist. Neulich gab es sogar das Phänomen, daß mitten in der Nacht das Thermometer von 32 auf 34 und schließ­lich auf 36 Grad kletterte. Um zwei 2 Uhr in der Nacht! Ich legte mich völlig ermattet in mein Moskito-Zelt, nackt, nur mit der hauchdünnen Gaze und dem Sternenzelt über mir und konnte so ein paar Stunden schlafen.
Immer wieder bin ich total erstaunt zu sehen, daß alle Frauen auch bei diesen Temperaturen ihre Tittenschaukeln nicht able­gen, nicht einmal die kleinsten Mädchen, bei denen sich gerade erst zarte Knöspchen bilden. In acht Monaten habe ich erst zwei oder drei Frauen ohne diese widerlichen, oft bis unter die Achseln reichenden BH's gesehen, was ich als wohltuend empfand, denn ich liebe Brüste ganz allgemein. A propos, die Achseln. Alle Frauen, ganz junge Mädchen inbegriffen, rasieren sich die Haare unter den Achseln und an den Beinen ab, d.h. sie lassen es machen und geben dafür eine Menge Geld aus. Auch bei uns reißt diese `Mode' zunehmend ein. Mich macht es regel­recht aggressiv. Ich kann es nicht mehr sehen, ich finde es einfach ekelhaft. Die Haltung, die dahinter steckt. Eine pu­ritanische, sinnenfeindliche Haltung. Genau wie in den USA. Dabei ist es nicht, wie in den `sozialistischen' Ländern ein von der Regierung verordneter, sondern ein von der Kirche auf­erlegter und verinnerlichter Puritanismus.
Es erscheint mir wie eine Kriegserklärung an den eigenen Kör­per. Und nur dadurch, daß die Brüste durch die BHs in die un­glaublichsten Formen und an die unwahrscheinlichsten Stellen gepreßt und gerückt werden, kommt auch das viele dumme Gequat­sche von den Hängetitten zustande. Es ist doch auch klar. Wenn eine Frau ihre Brüste mit Gewalt unter den Hals zurrt, obwohl auf einen Blick zu sehen ist, daß die ein oder zwei Etagen tiefer sitzen müßten, dann werden Witze gemacht. Gäbe es nicht die BHs, gäbe es auch die Witze nicht. Selbstverständlich können die Brüste einer rei­fen Frau nicht wie die eines 16-jährigen Mädchens stehen. Bei älteren Männern hängt schließ­lich auch das eine oder andere.
Andererseits laufen außerordentlich viele Mädchen und selbst viele Frauen mittleren Alters mit Höschen oder Röcken herum, die knappe zwei Zentimeter überm Arsch enden, um dann ständig an den Röcken zu zupfen. Wobei zu sagen ist, daß die Ärsche häufiger als bei uns außerordentlich wohl geformt sind und beim Gehen in wundervolle Schwingungen geraten. Eine wahre Augenweide. Zum Kronzeugen rufe ich Renoir an, der gesagt hat, daß der `nichts von Frauen verstehe, der nichts von Ärschen verstehe'.
Der Sinn ist klar. Die heiratsfähigen Gören kommen daher wie hinter Glas, hinter einer Schaufensterscheibe und das Augen­merk wird auf Fotze und Arsch gelenkt. Seht her, das hier ist zu haben, wenn ihr eintretet und das Portemonnai zückt. Sie ersparen sich daher auch jeden kleinen Flirt, jeden Blick, jedes Augenzwinkern. Sie vertrauen darauf, daß der Arsch für sich spricht.
Nur ganz junge Mädchen werfen einem hin und wieder verträumte, schmachtende Blicke zu, die manchmal gar etwas verzweifeltes haben, als wollten sie sagen: Hol' mich hier heraus, aus die­sem Gefängnis, egal wie. Es ist kein Wunder, daß gerade Fede­rico García Lorca als Schwuler aus der eigenen Erfahrung her­aus - in Spanien ist Homosexualität äußerst verpönt und gerade deswegen latent überall gegenwärtig - diese Unterdrückung der Frau mit ihren Sehnsüchten und ihrer verhaltenen Wut genau gespürt hat und ihr Ausdruck verleihen konnte, und deshalb auch gerade bei Frauen dankbare und verständnisvolle Verehrung erfuhr. Und die Misere der verheirateten Frauen ist heute be­stimmt nicht geringer als zu Lorcas Zeiten. Es gibt nichts Trostloseres, als alle diese Ehepaare abends über den Paseo schlendern zu sehen. Mit allen ihren Gören und Kinderwagen und Fifi und Großmama und Großpapa und Onkel und Tante und noch ein Fifi. Und so viele junge Mädchen, selbst noch halbe Kin­der, die schon die Karre vor sich her schieben. Himmel, Arsch und Zwirn, da dreht sich einem der Magen um. Alle diese ver­grämten, frustrierten, verhärmten Gesichter. Diese Lieblosig­keit, dieser Haß. Vor allem dieser Haß, den man überall auf­blitzen sieht. Da laufen einem kalte Schauer über den Rücken. Das ist die gerechte Strafe dafür, daß sie ihre Fotze zu einer beliebigen Ware gemacht haben, die jedes beliebige Arschloch erwerben kann. Das Märchen von der feurigen Spanierin ist wahrscheinlich durch Carmen und die Kastagnetten-klappernden Gitanas zustandegekommen. Man nimmt die Geste für das Wesen. Ein guter Werbegag und sonst nichts. In keinem Land, in dem ich lebte, war so wenig Sinnenfreude, so wenig Sinnlichkeit und Lust zu finden.
Das habe ich schon immer so empfunden und das ist irgendwann auch durch irgendwelche Erhebungen klar bestätigt worden.
Es ist eigenartig, du gehst durch die Straßen und siehst so viele hübsche Frauen und Mädchen, kannst ihre Schönheit durch­aus würdigen, aber dich lassen sie kalt. Das ist wie in einem Wachsfigurenkabinett. Würde einen dort plötzlich jemand anfas­sen, würde man auch schreiend davonlaufen. Es ist alles nur Schminke, nur Schau, all dieses Getue und Gerede von Sex und Liebe und dem ganzen Quatsch. Genau wie in den Filmen - den schlechten jedenfalls und die meisten sind es ja - und den Liedern und Songs und dem ganzen Pop-Gedudel, was einem von morgens bis abends aus Radio und Fernseher entgegendröhnt. Insofern ist Spanien wie die USA ein perfektes Waren- und Kon­sumland - und ebenso gespenstisch.
Aber ich bin ja in gewisser Weise ein hoffnungsloser Optimist. Ich weigere mich zu glauben, daß der Mensch für solch eine Misere vorausbestimmt ist, daß es das ist, was er eigentlich will, wie uns die Reklamefritzen, Politiker und Industriehaie und sonstige Schlaumeier immer weismachen wollen. Schon Anfang dieses Jahrhunderts hat Andersen Nexö seinen Pelle am Ende, als er nach vielen Kämpfen im eigenen Häuschen mit Garten saß, fragen lassen: "Ist es das, was wir eigentlich wollten?" Nein und nochmals nein.
Aber es ist einfach so, daß die einfachen Menschen - das Volk, wenn man will - einen unglaublichen Respekt vor Bildung haben. Das scheint durch alle ihre Äußerungen immer wieder durch. Oft ist es leider nicht einfach Respekt, sondern ein Gefühl der Minderwertigkeit. Alles, was sie denken und fühlen, wird von den Intellektuellen (im weitesten Sinne! Das kann schon ein mieser kleiner Bürokrat im Finanzamt sein!) herabgewürdigt und mißachtet. Am Ende bleibt nur die totale Verunsicherung, was automatisch zu fremdbestimmtem Handeln führt. Als eins unter tausend Beispielen: Ich brauche nur an die Bauern zu denken, ob in Schweden, Spanien, Tanzania oder bei uns zuhause. Jeder Schritt in die abgrundtiefe Scheiße, in der heute überall die Landwirtschaft steckt, wurde von diesen Klugscheißern aus der Agro-Chemie-Industrie vorgezeichnet. Neue Kartoffelsorten hieß es da! Schmeißt den alten Dreck auf den Mist! Und die entspre­chenden Insektizide und Pestizide und Fungizide und chemischen Düngemittel wurden gleich mitgeliefert. Und in 30-40 Jahren hat man es geschafft, das ungeheure genetische Material, das über Jahrtausende entstanden ist, zu vernichten, und heute fressen wir Kartoffeln, die schwarz und braun sind und sogar von Würmern angefressen werden. Nicht Kartoffeln sollt ihr anbauen, sondern Rüben. Nicht Rüben, sondern Weizen und so jagt eine Empfehlung die andere und die Bauern geraten immer tiefer in die Verschuldung, schließlich in den Bankrott und in die Vororte der Städte. Dieses Schicksal teilt seit 1945 ein Drittel der Bevölkerung.
Dann heißt es: Was habt ihr nur für scheißantiquierte Möbel in der Bude stehen. Und der Hilfsarbeiter schmeißt die Erbstücke auf die Straße und kauft neue Möbel bei Karstadt (natürlich nicht bei Beckmann, wo ein Stuhl 2000 DM kostet).
Und natürlich wohnt man nicht in einem alten, vergammelten Fachwerkhaus, sondern es muß aufgemotzt und verputzt und mit Eternitplatten verschönert werden, und die alte Holztüre muß heraus und eine neue mit buntem Glas und Sicherheitsschloß muß eingebaut werden, so daß die Nachbarin nicht mal eben rasch hereinschauen und Guten Tag sagen kann.
Und das läßt sich Punkt für Punkt fortsetzen, bis hin zur Lek­türe. Man schaue sich die Umfrageergebnisse von der Büchergil­de Gutenberg aus den 20-er Jahren an. Die Arbeiter lasen Tra­ven und Upton Sinclair und Jack London und Jules Verne und die Bürger, samt der bürgerlichen studentischen Jugend lasen Karl May! Aber das haben die Bürger, an ihrer Spitze Hitler, Ade­nauer & Co, den Arbeitern gründlich ausgetrieben. Nicht die verbrannten Bücher wurden nach dem Krieg als erstes gedruckt und jedem Deutschen in die Hand gedrückt, zumindest den jungen Menschen, die noch nicht vom Nationalsozialismus angefressen waren, sondern die ganze bürgerliche und vor allem amerikani­sche bürgerliche Scheiße. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis die verbrannten Bücher und die Exilliteratur in der BRD erschie­nen.
Die Intellektuellen haben sich genau wie die Pfaffen immer auf die Seite der Herrschenden geschlagen, weil sie so `schlau' sind, weil sie immer wußten, auf welcher Seite das Brot ge­schmiert war. Ich spreche von der großen Mehrheit der Intel­lektuellen (im weitesten Sinne). Zur Ehre der Schriftsteller muß gesagt werden, daß es unter ihnen immer einen großen Pro­zentsatz gab, der an der Seite des Volkes gestanden hat. Sie stellten auch den größten Teil jener Intellektuellen, die den Faschismus bekämpften und ins Exil gingen. Aber die anderen alle? Die Chemiker, Physiker, Ingenieure, Advokaten, Richter, Ärzte, Techniker, die viel leichter im Exil hätten einen Job finden und überleben können, sie blieben und machten Karriere. Ohne die ganze technische und wissenschaftliche Intelligenz hätte es tatsächlich den Zusammenbruch des Hitler-Regimes ge­geben, von dem die Exil-KPD immer geschwätzt hat.
Aber warum hätten sie gehen sollen? Ihnen ist es doch ganz prächtig gegangen und nachher ist es ihnen wieder prächtig gegangen, ja noch viel prächtiger. Sie haben Hitlers Autobah­nen weitergebaut, sie haben Hoechst und Bayer und Siemens und AEG und die Deutsche Bank und die Dresdner Bank noch viel grö­ßer und mächtiger gemacht und den Amerikanern haben sie die Atombombe gebaut und haben sich dann befriedigt das hübsche Feuerwerk in Hiroshima und Nagasaki angeschaut. Und wurden sie je mit Vorwürfen oder Gewissensbissen konfrontiert, dann haben sie sich hinter Argumenten wie: `Hätte ich es nicht gemacht, dann ein anderer' oder `Das habe ich nicht gewollt' ver­schanzt. Als würden die Mächtigen, gleich welcher Couleur, sich eine Atombombe ins Arbeitszimmer zum Anschauen stellen! Was für ein erbärmliches und mieses Pack. Aber die Bourgeoisie sorgt schon dafür, daß sie sich nicht als solches fühlen. Sie werden gefeiert und geehrt und mit Nobelpreisen versehen und können am Ende ihres Lebens zufrieden auf ihr Lebenswerk zu­rückschauen. Die Millionen und aber Millionen Toten, die ver­hungerten, verstümmelten, verbrannten und vergifteten Men­schen, die zählen nicht, die werden beileibe nicht mit ihnen in Verbindung gebracht, die werden sorgfältig in die Fußnoten verwiesen, sind Marginalien.
So handelt die bürgerliche Gesellschaft, die sich immer so genüßlich darüber mokiert hat, daß Stalin alle paar Jahre die Geschichte des glorreichen Sozialistischen Vaterlandes um­schreiben ließ. Sie selbst schreibt noch viel öfters um, läßt weg und verdreht und lügt, daß sich die Balken biegen. Gerade jetzt wieder. Nach dem `Sieg' der Demokratier und des kapita­listischen Gesellschaftssystems.
Dafür bietet gerade Andalusien schönes Anschauungsmaterial.
In allen Schul- und Geschichtsbüchern können wir von der Ver­treibung der Juden und Morisken (wie die spanischen Araber genannt wurden) lesen. Dabei ist `Vertreibung'ein purer Euphe­mismus. Höchstens ein paar hunderttausend Juden und Araber erreichten lebend das andere Ufer in Nordafrika oder einen rettenden Hafen des osmanischen Reiches auf dem Balkan oder in der Türkei. Eine riesige Zahl - manche Historiker schätzen sie auf eine Million, wobei die geringe Bevölkerung Spaniens in der damaligen Zeit zu berücksichtigen ist - ist auf grausame Weise getötet worden. Die Flüchtenden, die drei Tage Zeit hat­ten, das Land zu verlassen, was natürlich höchstens den Men­schen an der Küste gelang, wurden wie Hunde totgeschlagen und vorher häufig vergewaltigt und gefoltert. Daß die Kirche als größte organisierte Verbrecherorganisation und notorische Lüg­nerin diese unerhörten Schandtaten ihrer Schützlinge, der rey­es catolicos, der Katholischen Könige, verschweigt, das ist nur zu verständlich. Nicht aber, daß die gesamte Bourgeoisie, von Spanien bis zum protestantischen Schweden, diese Lüge un­besehen übernimmt. Zumal dieses Verbrechen weitreichende Kon­sequenzen hatte. Man kann sagen, daß damals der spanische Staat als erstes Land die Grundlagen für jeden künftigen Ras­sismus gelegt hat. Die Reinheit der Rasse ist ein Schlagwort, das damals entstanden ist (der Tag der Reinen Rasse wird heute noch gefeiert!). Dieses hunderttausendfache Morden andersarti­ger Menschen im eigenen Land war das Vorspiel für die millio­nenfache Schlächterei in den Kolonien, die mit den Gualchos auf den Kanarischen Inseln ihren Anfang nahm.
Aber die bürgerliche Geschichtschreibung und Berichterstattung lügt nicht nur im großen, sondern auch im kleinen. Das mag sich um die Teilnehmerzahlen an Demonstrationen oder den Fei­ern zum 1. Mai drehen oder um Jahreszahlen von Erfindungen, wie etwa das Siemens-Bessemer-Verfahren, das der Einfachheit halber in die Mitte des 19. Jhrh. gelegt wird, in Wahrheit aber 1000 Jahre früher in Ostafrika erfunden wurde. Gelogen wird natürlich nicht aus Spaß am Lügen, sondern zielgerichtet. Wenn es heißt, daß bei der Mai- oder Anti-AKW-Demo zehntausend Demonstranten waren, hört sich das doch ganz anders als 100 oder 200 Tausend an. Jeder kann die paar tausend einfach den notorischen Spinnern und Krawallmachern zurechnen. Im zweiten Fall handelt es sich um puren Rassismus: Es kann einfach nicht sein, daß Afrikaner irgendetwas von Bedeutung in der Geschich­te geleistet haben. Es kann nicht sein, daß Afrikaner Städte aus Stein gebaut haben, weshalb man sie überall zerstört und als Steinbruch benutzt hat. Und Ägypten sowie Äthiopien und ihre Bewohner werden der Einfachheit halber nicht zu Afrika gerechnet. Man braucht sich nur die haarsträubenden Verrenkun­gen anzuschauen, die Wissenschaftler schon unternommen haben, aus den ägyptischen Pharaonen - sie mögen so schwarz und so afrikanisch aussehen, wie sie wollen - eingewanderte Indoger­manen zu machen.
Ein abstruses Beispiel für diese ständige Lügerei ist mein erzkatholischer Geschichtslehrer am Neustädter Gymnasium, der gleichzeitig CSU-Abgeordneter im Landrat war. Marx tat er mit den folgenden Worten ab: Marx hatte sich als Korrespondent bei der NEW YORK TIMES beworben, war aber nicht genommen worden. Aus Rache hat er Das Kapital geschrieben, ein Haßlied auf den Kapitalismus. Bums aus, das war's. Es läßt sich nicht leicht beurteilen, ob er das aus Blödheit oder Berechnung tat. Ich neige eher zur ersten Annahme, wenn ich die allgemeine Nicht­bildung und Dummheit des gewöhnlichen Bürgers bedenke. Darüber kann man gewiß lachen, aber mich packt heute noch die Wut, weil dieses Beispiel symptomatisch für den gesamten Lehrbe­trieb war. Daß die Bürger nicht gerne über sozialistisches Gedankengut reden, mag ja noch angehen. Aber sie enthalten einem auch das eigentliche bürgerliche Erbe vor. Ob in der Geschichte oder der Literatur. Die Bauernkriege wurden uns von einem reaktionären, feudalen Gesichtspunkt aus beschrieben, die Französische Revolution von einem ultrarechten bürgerli­chen Gesichtspunkt. In der Literatur bekamen wir natürlich vor allem die Klassiker unter besonderer Hervorhebung Goethes ser­viert, während Heine als eine Art Komiker abgetan wurde.
Man muß sich einmal das Weltbild vorstellen, mit dem wir das Gymnasium verlassen haben. Gewiß war ich kritisch - das habe ich schriftlich im Abitur, das einzige, worauf ich stolz bin - nicht auf der Grundlage von Wissen (woher auch), sondern auf­grund eines instinktiven Mißtrauens gegenüber allen Autoritä­ten, aber das reichte natürlich nicht für ein nur annähernd gefestigtes Weltbild. Das Wenige, das ich weiß, habe ich mir selbst mühsam Stück für Stück aneignen müssen. U.a. daß Heine für seinen Grabstein diesen Satz niedergeschrieben hat: Hier ruht einer, der das Brot seines Wissens redlich mit seinen Mitmenschen geteilt hat. Allein damit hat Heine in meinem Her­zen einen unauslöschlichen Platz erworben, ist er für mich wichtiger als alle Klassiker zusammen.
Die Klassiker! Goethe zum Beispiel! Ich war völlig platt zu erfahren, daß Goethe noch heute, und das auf einem Abend - Gymnasium wie verrückt gebüffelt wird. Meine Freundin stand in ihrer Kritik und Ablehnung Goethes auf verlorenem Posten und brachte mir die `Wahlverwandtschaften', damit ich ihr bei der Beschaffung von Munition behilflich wäre. Bei der Lektüre wur­de mir speiübel. Spießig bis dorthinaus, eine verlogene Spra­che, verlogene Attitüden, Verachtung alles Bürgerlichen und Arschkriecherei gegenüber dem Adel. Die einzige Freude bestand darin, daß meine Freundin und ich in allen Punkten diese Auf­fassung teilten.
Im übrigen war es mein Großvater, der mir über Goethes Ver­hältnis zum Adel eine bezeichnende Anekdote erzählte: Goethe ging mit Beethoven im Park von Bad Kissingen spazieren, als ihnen irgendeine Prinzessin mit Gefolge begegnete. Goethe ließ Beethoven stehen und eilte schwanzwedelnd und kratzfüßelnd zur Prinzessin, während der bürgerlich-revolutionär eingestellte Beethoven die ganze Gesellschaft mit seiner Nichtachtung strafte. Dafür habe ich sowohl Beethoven als auch meinen Groß­vater geliebt.
Wer die Geschichte nur einigermaßen kritisch betrachtet, muß einfach zu der Auffassung gelangen, daß der Adel durchweg ein verbrecherisches und gesinnungsloses Gesindel ist. Immer und überall, ob in Deutschland oder China oder Frankreich oder etwa in Schweden. Vilhelm Moberg bringt in `Meine schwedische Geschichte' dafür hunderte Beispiele bei. Daß die Bourgeoisie in Deutschland dennoch immer vor dem Adel gekuscht hat, der ihr zum Dank pausenlos in den Arsch getreten hat, braucht ei­nen nicht weiter Wunder zu nehmen. Aber daß die deutsche So­zialdemokratie ihr diese Liebedienerei nachgemacht hat, gehört zum Schändlichsten, was diese Partei an Schändlichem geleistet hat.
Heute morgen flog der Wiedehopf in den Garten ein, während ich noch am Frühstückstisch saß. Er spazierte kreuz und quer unter den Bäumen und zwischen den Beeten herum und ich staunte, was er auf dem ausgebrannten Boden alles an Fressen fand. Nun ja, seinen langen, gebogenen Schnabel hat er nicht umsonst. Er benutzt ihn wie eine Pinzette, steckt ihn in jedes winzige Loch und zerrt und zurrt alles Mögliche heraus, Spinnen, Wür­mer, Käfer. Der Schnabel muß ja wohl ein hochempfindliches Sensorium sein, um leblose von lebendigen Dingen unterscheiden zu können.
Als er hinter meinem Zelt verschwunden war, konnte ich mich ins Haus schleichen, die Kamera holen und mich hinter der Bou­gainvillea auf die Lauer legen. Er kam tatsächlich auf etwa sechs Meter heranspaziert. Er blieb, als er das Knipsgeräusch hörte, wie angewurzelt stehen und linste in meine Richtung. Beim zweiten Foto flog er dann auf. Mein schwedischen Freunde und Vogelliebhaber werden sich über das Foto freuen, auch wenn es nicht so toll sein wird wie es mit ihrer Spezialkamera ge­worden wäre, mit der sie so oft vergeblich auf ihre Chance warteten.
Welch unendliche, bewundernswerte Geduld müssen Tier- und Vo­gelfotografen aufbringen, um nur einen Vogel solo aufs Bild zu bannen, und welche Geduld erst, um sie beim Nisten und Füttern zu erwischen. Außerdem müssen sie über eine sehr gute Kondi­tion und Selbstbeherrschung verfügen. Mir schliefen schon beim sechsminütigem Warten in der Hocke die Beine ein. Stell dir vor, nach tagelangem Warten taucht endlich der heiß er­sehnte Vogel auf und du mußt niesen. Vogel weg, Foto verwackelt, um­sonst gewartet.
Warum entwickeln Kinder so wenig Interesse an der lebendigen Welt um sie herum? Gewiß ist es eine Wiederspiegelung des Des­interesses der Erwachsenen und natürlich haben Kinder in der Stadt nicht mehr die Vielfalt von Pflanzen und Tieren um sich herum wie Landkinder. Aber erstens ist selbst bei Kindern von Bauern das Interesse auf ein Minimum beschränkt und zweitens gibt es selbst in der Stadt, selbst in einer tristen Wohnung unglaublich viel Lebendiges zu sehen und zu beobachten. Aber nein, jedes saudumme Videospiel fesselt die Kinder mehr als der spannende Netzbau einer Spinne, mehr als der aufregende Kampf einer winzigen Ameise, eines David, mit einem Goliath von einer Fliege. Liegt es daran, daß von den meisten Erwach­senen diese ganze Welt mit `igitt-igitt' und `Ungeziefer' ab­getan wird und als angemessene Reaktion der Griff zur Spraydo­se gilt? Oder daran, daß auch beim blödesten Spiel das Kind Eingriffsmöglichkeiten besitzt? Die hat es nicht, wenn es ei­ner Spinne zuschaut. Der einzig mögliche Eingriff besteht im Quälen oder Töten des Tieres, wobei die `Spieldauer' stark oder auf Null reduziert wird.
Mit Sean O'Casey wünschte ich mir immer mehrere Leben, wovon ich eines der Zoologie widmen würde. Allerdings nicht aus­schließlich einem einzigen Käfer oder nur dem Eisbären, son­dern dem ganzen Bereich des Lebendigen. Die Schwierigkeit be­gänne schon damit, daß es so einen Beruf gar nicht gibt. Höch­stens Biologie-Lehrer, aber Lehrer stand niemals auf meiner Wunschliste, und Bio-Lehrer schon gar nicht. Das waren die abschreckendsten Beispiele an unserer Schule und eigentlich nur dazu da, um uns jedes Interesse an Tieren und Pflanzen auszutreiben.
Dabei fällt mir eine der wenigen Ohrfeigen ein, die ich von meinem Vater zu Recht erhalten habe. Ich saß - höchstens sie­ben Jahre alt - am Fenster des Kinderzimmers und riß einer Fliege ein Bein aus, schaute, was passiert, dann das nächste, schaute, dann - rums machte es und ich hatte eine sitzen. Ich war so gedankenverloren gewesen, daß ich nicht gemerkt hatte, wie mein Vater mir von draußen zugeschaut hatte, ums Haus ge­rannt und hereingekommen war. "Man quält Tiere nicht, auch keine Fliege." Ja, so war mein Vater. Gleichzeitig hat er eif­rig für den Endsieg geschrieben und nichts dagegen gehabt, daß die `russischen Untermenschen' massakriert wurden. Die Frage, wie sich das verbinden läßt, konnte ich ihm damals noch nicht stellen.
Inwieweit die Ohrfeige meine Neugier befördert hat, kann ich nicht sagen, aber ich empfand damals schon, daß ich sie zu Recht erhalten hatte, weil ich wußte oder mir vorstellen konn­te, daß Fliegenbeine ausreißen eine Quälerei ist. Und seitdem ist mir jede Quälerei, ob von Tieren oder Menschen, zutiefst zuwider. Meinen größten Feind würde ich allenfalls erschießen, aber niemals quälen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich zum Angeln regelmäßig Regenwürmer gesucht und am Haken aufgespießt habe. Eine unüberlegte Dummheit, denn natürlich ist das auch Quälerei.
Jan Guillou greift in der FiB 8/93 Greenpeace u.a. deshalb an, weil diese Organisation aus menschlicher Schwäche Kapital schlage. "Dieser menschliche Mangel ist mental, eine Art Feh­len von Phantasie und Einfühlungsvermögen, wenn es um Menschen geht und übertriebene Phantasie, wenn es um Tiere geht. Unend­lich mehr Menschen schmerzen die Wale mehr als die Inuit und die nordnorwegische Küstenbevölkerung. Unendlich mehr Menschen sind wegen der Wale beunruhigt als wegen der Bosnier, phanta­sieren lieber über den Gesang der Buckelwale als über den Hun­ger der Afrikaner oder palästinensische Kinder, von denen je­den Tag eines von ihren Besatzern erschossen wird."
Ja, er hat ja Recht, aber wir sollten eine solche Organisation nicht deshalb angreifen, weil es von dieser Sorte Mensch so viele gibt. Einerseits gilt, daß Leute, die Tiere so sehr lie­ben, Menschen quälen können (Herr Hitler und sein Schäfer!), aber das muß nicht so sein - und auch der Umkehrschluß gilt nicht. Andererseits sind für mich Menschen, die Tiere wahllos töten oder quälen, a priori potentielle Folterer. Wir brauchen nur an die weißen Siedler zu denken, die in Nordamerika wahl­los die Büffelherden und die Indianer abknallten. Im übrigen gibt es heutzutage so unendlich viel zu tun, daß wir über jede Aktivität froh sein sollten, auch wenn es "nur" um den Schutz der Wale geht. Außerdem hat Greenpeace auch eine wichtige Rol­le im Kampf gegen Atombombenversuche gespielt. Erst vor einer Woche hat Greenpeace wieder eine riesige Sauerei aufgedeckt: Die Russen verklappten seelenruhig, trotz internationaler Ab­kommen, ihren Atommüll mitten im Japanischen Meer. Man kann der Organisation ihren Mangel an innerorganisatorischer Demo­kratie, so manches Mal ein mangelndes Bewußtsein für Realitä­ten - die Seehunde und die Inuit - und alles mögliche vorwer­fen, aber man sollte nicht mit Kanonen auf sie schießen.
Wenn ich mir das neue `pogrom' vom Juli 93 anschaue, dann lese ich: Völkermord an den Bosniern; Unterdrückung der Zyprioten durch die Türken; Fortsetzung des Vernichtungsfeldzuges der Türken gegen die Kurden; Folter und Liquidierung in Bougain­ville (Papua-Neuguinea); fortgesetzte Diskriminierung der Lu­bicon-Cree und Athabasca durch die US-amerikanische und kana­dische Regierung sowie Diebstahl und Ausplünderung ihrer Ter­ritorien; menschenunwürdige Behandlung indianischer Frauen in US-amerikanischen Gefängnissen; Verfolgung und Verurteilung von Mapuche-Indianern in Chile; verschiedene Völker am Amazo­nas werden weiterhin von der Regierung, Großgrundbesitzern, Goldsuchern und Minenbesitzern trakassiert und um ihr Land betrogen; seitenweise Berichte über Mißhandlungen, Vergewalti­gungen, Versklavung und Vertreibung der vielen Minderheiten (adivasi) in Indien; Menschenrechtsvergehen von Kroaten und Serben in Mostar; Maltraitierung, Zwangsenteignungen, Verge­waltigungen der Kosovo-Albaner durch die Serben; erneute Ver­treibung der Inguschen durch Nordosseten; Diskriminierung der Juden in der Ukraine geht weiter; Hunger und mangelnde medizi­nische Versorgung der kurdischen Bevölkerung im Nord-Irak; Völkermord in Süd-Irak; Verfolgung der Assyrer in der Türkei geht weiter; blutige Verfolgung der Bahá'i Anhänger in Iran; brutale Unterdrückung der Ahmadiyya-Muslime in Pakistan; eth­nische Zusammenstöße in Kenia; Diktator Mobuto provoziert in Zaire Stammeskonflikte; der Krieg gegen die schwarze Bevölke­rung im Sudan geht weiter; Rassismus in Deutschland; permanen­te Menschenrechtsverletzungungen in Ruanda. Das sind die Nach­richten in einem einzigen Heft und nur jene in Schlagzeilen. Daneben finden sich noch viele andere kurze Hinweise auf ähn­liche Ereignisse in anderen Teilen der Welt und natürlich auch Nachrichten über die damit verbundenen Zerstörungen der Um­welt, der Lebensgrundlage vieler Minderheiten.
Was fange ich jetzt mit all diesen Informationen an? Außer, daß ich sie hier niedergeschrieben habe, und sie der eine oder andere vielleicht lesen wird. Ich habe mich empört, entrüstet, habe eine Wut gehabt und nun? Was unterscheidet mich jetzt von Paco, Pepe und Pedro, die diese Informationen nicht haben? Sich auch nicht dafür interessieren, weil sie von vornherein wissen, daß sie machtlos sind. Was könnte ich einem jungen Menschen sagen oder raten, der diese Informationen liest und irgendetwas unternehmen möchte? Er kann Spenden überweisen, kann Mitglied in der GfbV oder in amnesty international wer­den, kann Briefe zur Freilassung von Gefangenen schreiben. Gut, aber reicht das alles denn? Ist es nicht nur ein Trost­pflaster für unser schlechtes Gewissen oder auch für unseren echten Kummer? Wenn ich bedenke, daß wir vor 15 Jahren noch zehntausende waren, die für Angola, Moçambique oder Vietnam auf die Straße gegangen sind, und sich damals schon die Herr­schenden über die paar lärmenden Idioten unten auf der Straße halb totgelacht haben! Da können ihnen heute doch die paar Ankläger, die sich an den fünf Fingern abzählen lassen, nicht einmal mehr ein müdes Lächeln entlocken. Sie wissen, daß sie die Wahrheit unter Kontrolle haben, daß sie lediglich in win­zigen Kreisen zirkuliert, was zudem die nützliche Funktion erfüllt, als demokratisches Alibi zu dienen.
Was also anfangen mit all unseren Informationen? Ich kann sie doch nicht wie ein beliebiger Bildungsbürger einfach abspei­chern. Sie fordern ein Handeln ein. Aber wie? Und wo? Und mit wem? Wenn indische Frauen sich an die Bäume ihres Regenwaldes ketten, müßten in Hamburg ein paar tausend Leute Piquet stehen vor der Firma Holzmann & Co, die das große Geschäft mit Edel­hölzern macht. Wenn wir erfahren, daß der indische Tee zu ei­nem großen Teil durch Sklavenarbeit, an der enorm viel Kinder beteiligt sind, produziert wird, müßte ein effektiver Boykott der Java-Läden organisiert werden (wie es die holländischen Hausfrauen vor Jahren schafften, den Kaffeeimport aus den por­tugiesischen Kolonien zu unterbinden). Wenn wir wissen, daß in Kenia wertvolle Anbauflächen dem Anbau von Blumen gewidmet werden, während die Bevölkerung hungert, dürfte nicht eine solche Blume gekauft werden. So ergäben sich tausende Aktions­möglichkeiten bis hin zum Boykott israelischen Obstes oder bolivianischen Zinns, das ebenfalls mit Kinderarbeit gewonnen wird. Nur, was gewännen wir damit? Die internationalen Multis sind mittlerweile so flexibel, daß sie ihre Warenströme mühe­los umlenken können. Was hier nicht verkauft werden kann, wird eben woanders verkauft; was die deutsche Industrie an Giften nicht mehr im eigenen Lande produzieren kann, das produziert sie eben in Spanien. Und würde es den Firmen zu bunt werden, ließe man ein bißchen die Knüppel der Polizei tanzen.
Ich will damit keineswegs derlei Aktionen abwerten. Sie können eine wichtige Rolle im Prozeß der Bewußtmachung der Bevölke­rung spielen. Aber sie verändern die Situation genausowenig grundlegend, wie die Gewerkschaftsarbeit in 100 Jahren nur ein Deut an der kapitalistischen Entwicklung geändert hat. Es ist genau die Art politischer Aktionismus, der die ML-Bewegungen in den Bankrott getrieben hat. Wo immer sich was bewegt, da muß man dabei sein, nicht nur das, man muß sich an die Spitze setzen, um die Führungsrolle zu beweisen.
Myrdal schreibt in einem Beitrag in der FiB 8/93 unter dem Titel `A propos das so Einfache und Selbstverständliche' ange­sichts der allgemeinen Misere und der gleichzeitigen enormen Arbeitslosigkeit:
"Weder Gott noch das Schicksal haben das angerichtet. Auch nicht das Gesetz der Schwerkraft. Denn, wenn hier in Schweden hunderttausende arbeitslos sind, während es gleichzeitig jede Menge Arbeiten gibt, die ausgeführt werden müssen, so muß man ja nur dafür sorgen, daß jene, die ohne Arbeit sind, anfangen, die notwendigen Arbeiten auszuführen, die nicht getan werden. Minus und plus würden sich ausgleichen. Die Arbeitslosigkeit
würde verschwinden. Die überwältigende Mehrheit ein besseres Leben haben.
So einfach ist das. Und das, was für Schweden gilt, gilt für Europa und die ganze Welt. Nicht nur die Arbeitslosigkeit und die verfallenden Schulen in Schweden, sondern alles Elend, aller Hunger, alle Massenkrankheiten sind unnötig - genauso wie die kleinen herrschenden Klassen, die an diesen Ungereimt­heiten verdienen. Mit ihnen verfährt man wie mit den scheuß­lich saugenden und virusbehafteten Zecken, die man nach einem Waldspaziergang an sich hat. Man entfernt sie.
Eigentlich weiß das doch jeder von uns, wenn man ein bißchen nachdenkt."
Schön und gut. Wären neunzig oder nur siebzig von hundert Men­schen der festen Überzeugung, daß es so nicht mehr weitergehen kann, dann würden sie Mittel und Wege finden, `die Zecken zu entfernen', kurz und schmerzlos. Aber das ist doch gerade das Problem: Wie kommen wir dahin? Ich mache mit Myrdal jede Wet­te, daß er von 100 keine sieben Menschen wirklich davon über­zeugen kann, daß die Zecken weg müssen. Er wird dem Mann im Brecht'schen Gedicht gleichen, der die Menschen überzeugen will, das brennende Haus zu verlassen.
Natürlich ist das Ganze ein simples Rechenexempel. Nehmen wir ruhig das beliebte Kuchenbeispiel. Wenn von dem vorhandenen Kuchen (abgesehen davon, daß wir so viel Kuchen produzieren, daß wir laufend riesige Mengen zerstören müssen, um die `Prei­se zu halten') eine verschwindende Minderheit sich den Löwen­anteil sichert, um Macht und Druck ausüben zu können, ein gro­ßer Teil hingegen gerade ausreichend zum Überleben erhält und die überwältigende Mehrheit der Menschen die Krümel bekommt, dann kann die Welt gar nicht anders aussehen als sie es tut.
Wir alle wissen - und das ist ein Punkt, auf den sich wirklich alle einigen können - daß genügend Nahrung für alle da ist. Hingegen eine Einigkeit herzustellen zwischen einem Arzt, ei­nem Arbeiter und dem türkischen Straßenfeger, daß es auf die gerechte Verteilung ankommt, ohne wenn und aber, dürfte schon ein Ding der Unmöglichkeit sein. Der Arzt wird auf sein Privi­legium pochen, zehnmal so viel zu verdienen wie der Arbeiter, weil er so lange studiert hat und so viel Verantwortung trägt. Der Arbeiter wird auf sein Privilegium pochen, doppelt so viel verdienen zu müssen wie sein Kollege, weil der doch Türke ist. Und der Türke? Nun, den letzten beißen die Hunde.
Es wäre so einfach, ja. Wenn der tägliche, entwürdigende Kampf um das Fressen und ein Dach über dem Kopf wegfiele, welche Energien könnten dadurch freigesetzt werden! Man könnte sich den wesentlichen Fragen zuwenden: Was braucht der Mensch zum Leben? Eine gesunde Wohnung, gesunde Nahrung und ein intaktes soziales Umfeld, eine menschliche Gemeinschaft, die den Namen verdient und vor allem eine menschenwürdige Arbeit. Nichts davon haben wir jetzt. Die Städte sind wild wuchernde Krebs­geschwüre, Erde, Wasser, Luft und Nahrungsmittel sind vergif­tet, und die menschliche Gemeinschaft - nun, dazu erübrigt sich jedes Wort.
Ich weiß nicht, was getan werden müßte. Das wußte auch Marx nicht. Er hat sich immer geweigert, einen solchen Entwurf zu machen. Hätte er natürlich machen können, aber es wäre ein individualistischer Entwurf geworden, ein Entwurf nach seinem Geschmack. Und darum geht es gerade nicht. Aber er wußte, wie man es anpackt. Durch gemeinsame Überlegungen und Beratungen, durch Übertragung von Verantwortung an jeden Einzelnen, durch Erproben, Fehler machen, erneutes Ausprobieren. Und das alles in einer wirklich demokratischen Atmosphäre, die von der bür­gerlichen Scheindemokratie himmelweit entfernt wäre.
Was wirkliche Demokratie angeht, so könnten wir von vielen Völkern lernen, so wie sich Jefferson und Washington nicht zu schade waren, von dem einzig damals existierenden demokrati­schen Staatswesen zu lernen, dem Irokesen - Bund. Ein wesent­liches demokratisches Element der indianischen Gesellschaft haben sie allerdings nicht übernommen: Die gemeinsamen Bera­tungen, deren Beschlüsse einstimmig gefaßt werden mußten, und derart beschaffen sein mußten, daß sie auch in der siebten Generation niemandem zum Schaden gereichen würden.
Dieses Element gab es in vielen Gesellschaften sowohl in Asien, Melanesien, Südamerika als auch in Afrika. Mit unseren notorischen Überheblichkeit haben wir es Palaver genannt. In unserer komplexen Welt ist es ein Unding, daß Mini-Minderhei­ten über die Mehrheit bestimmen. Es wäre höchste Zeit, die Diktatur des bürgerlich - demokratischen Procedere endlich zu beenden. Doch statt die Demokratie auszuweiten, soll sie über die Maastrichter Hintertür noch erheblich stärker zurückge­schraubt werden. Glücklicherweise nehmen die Querelen inner­halb der `Gemeinschaft' derart zu, daß mit der Umsetzung des geplanten Coups vorerst nicht zu rechnen ist. Und wenn die Krise noch tiefgreifender wird, dann wird das Hauen und Ste­chen erst richtig losgehen.
Statt Einschränkung der Demokratie ihre Ausweitung. Tausende und aber tausende Bürgerinitiativen beweisen, daß die Bürger gewillt sind, Verantwortung zu übernehmen, daß sie den Politi­kern und Bürokraten nicht mehr über den Weg trauen. Ich bin der festen Überzeugung, daß alles, von der Fabrik bis zum Häu­serblock den Betroffenen überantwortet werden könnte und bei ihnen in besten Händen wäre. Ich habe in genügend kleinen und großen Betrieben gearbeitet und weiß, daß überall die Leute selbst genau wußten, wer von ihnen der beste Mann war. In al­len `sozialistischen' Staaten hingegen wußte das immer die Partei. Deswegen wurde das Rätesystem niemals konsequent durchgeführt, weil die Partei Angst um ihren Führungsanspruch hatte. Mao hat es in der Kulturrevolution versucht, aber die Apparatschiks und Bürokraten waren schon zu mächtig geworden. Das Rätesystem bedeutet nichts anderes, als daß die Menschen die Leute ihres Vertrauens nicht nur wählen, sondern auch, und das ist das Wichtige, abwählen können.
Nehmen wir nur als Beispiel die Wohnungen und Häuser in Zanzi­bar. Die wurden dort nach dem Muster der DDR in Eigentum des Staates verwandelt. So weit, so gut. Aber Nutzungsrecht und Verwaltung mit allen Verantwortlichkeiten wurde nicht den Be­wohnern selbst übertragen, sondern der Staat zentralisierte die Verwaltung. Und entsprechend sahen die Häuser denn auch aus. Um sich ein Bild davon zu machen, braucht man nur nach Ostdeutschland zu fahren und sich den Verfall dort anzuschau­en. Ist ja auch klar. Die Gelder, die zentral eingezogen wur­den, brauchte man immer dringend für ganz andere Dinge, wenn sie nicht gleich in den Taschen der Bürokraten verschwanden. Zweitens muß man sich nur den Verwaltungsaufwand vorstellen, wenn in dem Dorf xy irgendwo ein Ziegel vom Haus fällt. So etwas kann einfach nicht zentral geregelt werden, das muß vor Ort und zwar von den Betroffenen selbst geregelt werden. Die einzig wirklich demokratische Form dafür wäre ein Rat oder Verein oder wie auch immer man das Ding nennen wollte.
Um zu verhindern, daß in basisdemokratischen Organisationen die Vielschwätzer und Spätaufsteher das Sagen haben (wie das in allen linken Organisationen bis hin zu den Grünen der Fall war und ist), und zu gewährleisten, daß einstimmige Beschlüsse gefaßt werden, sollte man sich am Konklave ein Beispiel neh­men: Sperrt die Delegierten mit imperativem Mandat ohne Essen und Trinken ein und laßt sie nicht eher heraus, bis sie zu einem Ergebnis gekommen sind. Sie werden schnell lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Einstimmigkeit wäre der Idealfall, der sich nicht immer und überall wird erreichen lassen. Die Gesellschaft wird sich wahrscheinlich in allen Bereichen mit Querulanten, notorischen Stänkerern, Gleichgültigen oder prinzipiellen Nein-Sagern (die Wahrheit kann durchaus bei diesem einen Menschen liegen und nicht bei den 99 anderen) auseinandersetzen müssen. Sie wird Mittel und Wege finden müssen, um mit ihnen zu Rande zu kom­men, wobei Gewalt und Strafe möglichst ausgeschlossen sein sollten. Mir kommt es ja auch lediglich darauf an, von den alten ausgetretenen Pfaden wegzukommen, Neues auszuprobieren, was auch bedeutet, Fehler zu machen.
Weg also mit dem ganzen Parteien-Nonsense. Parteien haben nicht nur lange genug ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt, sondern sie sind auch Organisationen, die jedem anständigen Menschen das Rückgrat x-mal brechen, bis er nach oben gekommen ist. Schaut sie euch doch an, die Ganovengesichter. Mal ganz vorurteilsfrei, ohne in ihnen den Parteivorsitzenden, den Mi­nister, den Bundeskanzler zu sehen. Austauschbar. Ost, West, Nord, Süd. Vom weißen Amerika bis zum schwärzesten Afrika, vom Nordkap bis nach Peking. Überall die gleichen Visagen, zu de­nen sich noch die meist unsichtbaren Visagen der Bürokraten gesellen, die auch überall gleich sind. Parasiten. Zecken. Ein Aufatmen ginge durch die Welt, würde die Menschheit von ihnen befreit werden.
Aber ich habe mich treiben lassen und bin dort gelandet, wo auch Myrdal hinkam. Das Problem ist ja aber gerade, dorthin zu gelangen, der Weg also. Daß die große Mehrheit sagt: Jetzt reicht es. Und zum Handeln schreitet. Die Misere sehen, das tun viele Menschen. Ob das der alte José eine Terrasse über mir ist oder eine Nachbarin, die beide nie links gewesen sind. José spricht nur von den ladrones, den Verbrechern da oben. Die in die eigenen Taschen wirtschaften und zuschauen, daß kleine Kinder auf offener Straße ermordet werden. Und die Nachbarin sagte noch gestern: Das Schlimme ist doch, daß es auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Politiker mit Visio­nen gibt. Nur Eigennutz und Machtgier und Korruption. Das kann man an jeder Ecke hören. Das wissen auch die Politiker. Sie bekommen es ja durch jede neue Meinungsumfrage gesagt. Aber auch das interessiert die ja einen feuchten Dreck. Weil sie auch wissen, daß sie noch mit 30 Prozent Wahlbeteiligung wei­termachen können, wie das Beispiel USA zeigt. Und aus eigener Erfahrung wissen sie, daß der Schritt von Reden zum Handeln unendlich weit ist. Man kann den Leuten also ruhig noch mehr bieten. Noch mehr Bestechung, Raffgier, Korruption, Kungelei und Verantwortungslosigkeit. Die schlucken das schon. Und Recht haben sie.
Aber richtig ist auch, daß die Herrschenden in ihrem Übermut den Bogen immer wieder überspannt haben. Plötzlich haben's die Menschen nicht mehr geschluckt. Und wenn die Köpfe rollten, dann war das Wehklagen groß. Dann redeten sie von Barbarei und von Unmenschlichkeit, jene, die Unmenschlichkeit und Barbarei in großem Stil zum System erhoben haben. Aber Schamlosigkeit ist ja der hervorstechendste Charakterzug dieser Herren.
Den ersten und bleibenden Eindruck von der Charakterlosigkeit der Herren Politiker erhielt ich mit 16 Jahren. Damals begann die Debatte über die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Ich verfolgte gierig am Radio die heftigen Diskussionen im Bundes­tag und freute mich über Schuhmachers scharfe Angriffe. Als die SPD am Ende umfiel, war meine Enttäuschung maßlos. Damals begriff ich, daß all das Gequatsche nur für die Galerie gewe­sen ist, und ich beschloß, dieses Gesindel niemals zu wählen.
Von diesem Prinzip bin ich nur ein einziges Mal abgewichen, bei einer Kommunalwahl in Hamburg, als ich die Bunte Liste wählte, weil sie als einzige Partei entschieden Front gegen den damals aufkommenden Rechtsradikalismus machte. Ich bin deswegen immer wieder vor allem von Freunden angegriffen wor­den. Man müsse das kleinere Übel wählen. Jaja, die Wahl zwi­schen Pest und Cholera. Ich weigere mich. Ich will weder Pest noch Cholera. Ich bezweifle auch, ob es etwas bringt, den Wahlzettel zu beschriften oder ungültig zu machen. Als würde Protokoll über das geführt, was auf die Wahlzettel gemalt wird. Die werden unter `Ungültige Stimmen' geführt und das sind doch die ganz Blöden, die nicht wissen, wie und wo sie ihr Kreuzchen hinmalen sollen. Geht man nicht hin, dann gehört man zur großen Partei der Sofahocker. Es ist also ziemlich Jacke wie Hose.
Mein Aufenthalt in Spanien neigt sich dem Ende zu. Deshalb habe ich rasch eine kurze Reise nach Marokko eingeschoben, bevor der nächste Besuch hier eintrifft und die Regenzeit ernsthaft einsetzt. Eigentlich wollte ich schon Anfang des Jahres nach Rabat fahren, um mit Fatema Mernissi über ihr neu­es Buch zu reden, das ich ebenfalls übersetzen sollte. Das erübrigte sich, weil sie sich weigerte, ihren Vertrag mit dem deutschen Verlag zu erfüllen. Und ich muß gestehen, daß ich - halb bewußt, halb unbewußt - die Reise deswegen immer weiter hinausgeschoben habe, weil von all den Horrorgeschichten über die fremdenfeindlichen, fundamentalistische Horden etwas halt doch hängenbleibt.
Mit dem Schiff setzte ich von Algeciras nach Ceuta über, fuhr über Tetouan nach Rabat, wo ich Freunde habe, und auf dem Rückweg über Larache und Tanger zurück nach Ceuta. Ich habe also nur einen winzigen Bruchteil des riesigen Landes gesehen. Aber was ich gesehen habe, hat mich sehr beeindruckt. Ich hat­te mir vorgestellt, daß Nordafrika sich nicht wesentlich von Andalusien unterscheidet, aber das ist ein Irrtum. Das von mir durchreiste Gebiet ist sehr viel grüner und bewaldeter und alle Flüsse führten Wasser. Manche Landschaften erinnerten mich sehr an bestimmte Gegenden in Tanzania, ebenso wie die kleinen Dörfer aus Lehmhütten mit Wellblechdächern. Und die Höflichkeit und Freundlichkeit der Menschen erinnerte mich ebenfalls an das ostafrikanische Land.
Natürlich ist die Armut überall sichtbar. Marokko ist sehr viel ärmer als Spanien, aber sehr viel reicher als Tanzania. Die Arbeitslosigkeit ist noch viel höher als hier und ebenso die Zahl der Bettler und in den Städten und Dörfern ist der Verfall augenscheinlich. Andererseits gibt es wohl eine recht starke Mittelschicht, was allein schon an dem sehr starken Autoverkehr in den Städten abzulesen ist, und eine ungeheuer reiche Oberschicht mit ihrem Boß Hassan II. an der Spitze, die sich im Luxus wälzt.
Welch eine Verschwendung menschlicher Ressourcen ist diese Arbeitslosigkeit. Um jeden arbeitenden Menschen stehen zwei, drei oder noch mehr nicht Arbeitende herum, die auf irgendeine Art und Weise zu partizipieren versuchen. Mit welcher Ver­zweiflung die Leute versuchen, irgendeiner Tätigkeit nachzuge­hen. Kinder, die mit einer Schachtel Zigaretten in der Hand `ein Geschäft eröffnen', Männer oder Frauen, die sich mit ei­ner Schüssel glühender Kohlen an die Straße stellen und ir­gendetwas bruzzeln.
Fasziniert hat mich auch, daß in den Cafés und Restaurants die Menschen, fast durchweg Männer, zivilisiert miteinander reden, daß dort nicht das ohrenbetäubende, aggressive Geschrei der Spanier zu hören ist. Auch nicht - dort so wenig wie in Spa­nien - die typisch deutsche `dreckige Lache', die mich auf die Palme bringen kann. Ein einziges Mal habe ich im Suk von Rabat eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen zwei Frauen ge­hört.
Und als angenehm empfand ich auch die Schönheit der Menschen, der überwiegenden Mehrheit jedenfalls. Sie sind groß und schlank und fette Leute sind kaum zu sehen, was ich darauf zurückführe, daß eben kaum Bier und Alkohol getrunken wird (außer in den `besseren' Schichten). Und noch etwas zu den Frauen. Sie sind nicht nur außerordentlich schön mit fein ge­schnittenen Gesichtszügen, sondern treten auch voller Anmut und Würde auf, keineswegs unterwürfig, wie man sich das bei uns immer vorstellt. Von Gleichberechtigung kann natürlich nicht die Rede sein, aber auch nicht von Sklaverei. Ich habe im Gegenteil dort in einer Woche mehr selbstbewußte Frauen gesehen, als in einem ganzen Jahr hier in Spanien. Im übrigen auch mehr verhaltene Zärtlichkeit zwischen Paaren. Ich bin sehr froh, diese Reise doch noch gemacht zu haben, weil da­durch meine schiefe Vorstellung von den nordafrikanischen Län­dern korrigiert wurde. Allerdings habe ich die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene Stilisierung des Islam zum neuen Weltfeind Nummer Eins von Anfang an mit Abscheu und Wi­derwillen verfolgt.
Ein Rätsel bleibt mir bis heute, wie meine politische Bildung zustandegekommen ist. Ich glaube, daß meine Opposition zum Elternhaus den größten Anteil daran hatte. Im Grunde wurde Politik zuhause nicht diskutiert, schon gar nicht die jüngste Geschichte. Beide Eltern waren Ludendorffianer und ich erinne­re mich, daß von denen auch eine regelmäßig erscheinende Zeit­schrift (Quelle?) herausgegeben wurde. Die propagierte haupt­sächlich die `philosophischen' Schriften von Ludendorffs Frau, die vom `Schönen, Guten und Wahren' handelten. Politisch fuh­ren sie einen stramm deutschnationalen und antikommunistischen Kurs. Dieses Heft war quasi Pflichtlektüre und schon deshalb unbeliebt. Nichtsdestoweniger hielt ich einmal sogar einen Vortrag über die Zwangsumsiedlungen der zahlreichen Völker in der Sowjetunion mit ihren unermeßlichen Opfern, der im wesent­lichen auf einem Artikel aus jener Zeitschrift basierte, wofür ich von unserem Direktor außerordentlich gelobt wurde. Was ein Wunder, war er doch als deutschstämmiger Jude aus dem amerika­nischen Exil mit der Besatzungsarmee zurückgekehrt und glühen­der Verfechter der amerikanischen Demokratie.
Ich hatte also ein gespaltenes Verhältnis zum Ludendorff-Ver­ein. Das hinderte mich nicht, als 16 oder 17-jähriger auf ei­ner Fahrradtour die Mathilde Ludendorff in Tutzing bei Starn­berg aufzusuchen. An Einzelheiten kann ich mich absolut nicht entsinnen. Sie war damals schon eine alte Frau, der man aber ihre einstige Schönheit noch ansah. Trotzdem hat sie wohl kei­nen großen Eindruck auf mich gemacht. Und das einzige, was mich an ihrem Mann, Erich Ludendorff, jemals beeindruckt hat, war seine öffentliche Anklage Hitlers in Nürnberg: Herr Hit­ler, ich glaube Ihnen nicht. Sie wollen den Krieg. Allerdings habe ich nie und nirgends dafür eine Bestätigung gefunden.
Ich muß unbedingt etwas Neueres über die Ameisen lesen. Der Maeterlinck ist zwar eine faszinierende Lektüre, dürfte aber etwas veraltet sein. Stundenlang schaue ich den fünf verschie­denen Arten auf meiner Terrasse zu: Ganz winzige, braune Tier­chen, die höchstens gut einen Millimeter groß sind; zwei Mil­limeter große, ebenfalls braune Ameisen, die sich gerne im Haus breit machen; schwarze Ameisen von zierlicher Gestalt, ca. 5 mm groß; etwa gleich große schwarze Ameisen mit großen, polierten Schädeln und Zangen, was ihnen ein wuchtiges Ausse­hen verleiht; und ebenfalls schwarze Ameisen, die ihren Hin­terkörper allerdings senkrecht in die Höhe stellen und mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Hof fegen. Letztere habe ich nie mit irgendwelcher Beute gesehen. Ich habe immer den Eindruck, daß sie bei dem Tempo gar nichts finden können. Die großköpfigen Schwarzen haben ihre Nester im Garten in der Erde und scheinen überwiegend Vegetarier zu sein. Sie schlep­pen sehr viel Grassamen u. dgl. in ihren Bau und nur ausnahms­weise auch mal eine Fliege. Am interessantesten sind die etwas größeren braunen und die zierlichen schwarzen Ameisen. D.h. für das Zuschauen. Da hier eine unglaubliche Fliegenplage herrscht, ich mich von morgens bis abends ihrer erwehren und sie zu hunderten totschlagen muß, ist für die Ameisen der Tisch den ganzen Tag über gedeckt. Die kleinen Ameisen versam­meln sich erst einmal in Scharen um die Fliege, um sie ausein­anderzunehmen, zu fressen oder erst einmal vollständig zu tö­ten, kann ich nicht richtig erkennen. Aber manchmal schleppen sie die Leiche auch gleich davon. Kommt allerdings eine der größeren Schwarzen dazu, dann haben sie Pech gehabt. Die um­tanzt das Schlachtfest, vermeidet aber sorgfältig jede Berüh­rung mit einer Kleinen, bis sie ein Bein oder einen Flügel der Fliege erwischt hat und zerrt sie dann eiligst davon, mitsamt ein paar Kleinen, die vergeblich sich dagegen anzustemmen ver­suchen, bevor sie aufgeben.
Das Faszinierendste für mich ist immer wieder, wie es einem solchen Tierchen möglich ist, zehnfach und noch größere Beute davonzuschleppen, in relativ hohem Tempo über Stock und Stein. Als würden wir uns einen Ochsen unter den Arm klemmen und mal eben einen Berg hochjagen. Wo nehmen die Ameisen also ihre Energien her? Sie haben doch keine Muskeln. Auf welche Weise also funktioniert ihre Kraftübertragung? Entweder ist ihr `Verbrennungsmotor' wesentlich effektiver als unserer oder aber sie haben ein völlig anderes System der Energiegewinnung. Und wie funktioniert die Nachrichtenübermittlung? Wie kommt es, daß binnen kurzem ein ganzer Trupp Ameisen versammelt ist, sobald eine größere Beute gefunden wurde, die nicht von einer Ameise allein bewältigt werden kann. Sehen können sie ja nicht, d.h. sie nehmen nur das Licht wahr, das ihnen zur Ori­entierung dient. Der Tastsinn hingegen ist hervorragend ausge­bildet. Trotzdem kommt es vor, daß sie die Orientierung ver­lieren und hilflos hin- und hertappen. Stehenbleiben, als wür­den sie nachdenken, wieder einen Anlauf nehmen und wieder in die Irre laufen. Darüber möchte ich mehr wissen.
Wesentlich mehr als die Ludendorfferei interessierte mich die dritte Welt. Die regelmäßigen, ganzseitigen Beiträge in der "Rhön - und Saalpost" über ferne Länder hob ich sorgfältig auf. Und bei meinem Großvater besorgte ich mir die bessere Literatur über Afrika - mein Vater hatte wie gesagt nur die Kolonialliteratur - vor allem die Forschungsberichte von Nach­tigall, Schweinfurth, Livingstone und dem größten von allen, von Heinrich Barth. Schon als 15-jähriger schätzte ich ihn am meisten, begründen konnte ich es erst 30 Jahre später in einem Feature. Barth war der einzige von allen, der kein Rassist war. Von umfassender humanistischer Bildung reiste er weltof­fen und lernbegierig, mit jener geradezu kindlichen Neugier, die Verständnis erst möglich macht. Bezeichnend ist, daß sein großes vierbändiges Werk nur ein einziges Mal Mitte des ver­gangenen Jahrhunderts erschienen ist und nie wieder, während Barth in ganz Afrika noch heute als einer der ganz großen For­scher gefeiert wird. Alles, was seine Vaterstadt Hamburg je für ihn getan hat, ist eine winzige Gasse nach ihm zu benen­nen!
Überhaupt mein Großvater! Er war einer der faszinierendsten Männer, die ich je kennengelernt habe. Mit 10 Jahren verlor er beide Eltern und war mit seinen beiden jüngeren Geschwistern auf sich allein gestellt. Er mußte die Volksschule nach zwei Jahren abbrechen und bei der Reichsbahn arbeiten. Er brachte nicht nur seine Geschwister durch, sondern arbeitete sich auch mit zäher Beharrlichkeit nach oben. Irgendwann war er Lokomo­tiv-Führer auf der Linie Schweinfurth - Berlin und das Ende seiner Laufbahn war er Oberinspektor; weiter konnte er ohne abgeschlossene Volksschule nicht kommen.
Trotzdem bildete er sich unaufhörlich weiter. Er kaufte Bü­cher, Bücher und nochmals Bücher und hatte schließlich 10000 Bände bei sich stehen. Und jedes einzelne liebte er. Nur kar­tonierte Einbände und Taschenbücher konnte er nicht ausstehen. Kam er um deren Kauf nicht herum, dann brachte er solch ein Buch als erstes zum Buchbinder und ließ es in Leder binden. Das hatte nichts mit Protzerei zu tun. Er lebte völlig zurück­gezogen und niemals kam zu ihm Besuch, dem er es hätte `vor­führen' können. An einem schön gebundenen Buch konnte er sich wie ein Kind freuen. Und er kannte den Inhalt der Bücher. Und wie! "Hol' mal das Buch da oben herunter, das dritte von links. Schlag die Seite 231 auf. Links oben steht ..." Und er zitierte, was dort stand. Das grenzte für mich an Hexerei. Er hatte eine Speicherfähigkeit, gegen die jeder moderne PC vor­sintflutlich ist. Nicht nur für Texte, sondern auch für Zah­len. Man konnte ihm sechsstellige Zahlen zum Multiplizieren geben und das Ergebnis kam in Sekundenschnelle. Er versuchte mir des öfteren das Geheimnis zu erklären, aber ich habe es absolut nicht begriffen.
Er war also ein großer Literaturkenner, ein hervorragender Mathematiker, der sich auch mit den großen Problemen der Ma­thematik herumschlug, und er war - so erzählte man sich in Bad Neustadt - der beste Schach- und der beste Skatspieler.
In den letzten Kriegstagen wurde er in Schweinfurth ausge­bombt. Seine Bibliothek hatte er aber rechtzeitig in Sicher­heit bringen können. Er zog schließlich nach Bad Neustadt, das ihm einigermaßen sicher erschien, obwohl es dort die großen Werke von Siemens und Preh gab. Und dort passierte etwas, was dem alten Mann einen schweren Schlag versetzt haben muß. Die amerikanischen Besatzer hatten eine beliebte Methode der Schi­kane: Binnen weniger Stunden mußten die Bewohner eines Hauses, das sie für sich beanspruchten, ihre Wohnung verlassen. Dabei blieb natürlich immer eine Menge der ohnehin wenigen Habselig­keiten der Leute zurück. Bei einem dieser `Umzüge' mußte mein Großvater 7000 Bände seiner Bibliothek zurücklassen. Und das Schmerzhafteste war, daß er manche der wertvollen Bücher zer­fetzt in den Straßen, auf dem Müll oder auf den Toiletten in Kneipen und Restaurants wiederfand. Und diese Barbarei wurde von amerikanischen Offizieren begangen und nicht etwa von ein­fachen Soldaten. Die Kulturnation Amerika!
Trotzdem, brechen ließ sich der alte Mann nicht. Er wurde nach dem Krieg als Lehrer für Mathematik und Deutsch am städtischen Gymnasium angestellt - für die Abiturklassen! Nur abnehmen durfte er, der nicht einmal Volksschulabschluß hatte, das Ab­itur nicht. Er war einer der beliebtesten Lehrer, die es an jener Schule je gegeben hat. Ich kannte mehrere seiner Schüler und einer von ihnen wurde sogar mein Schwager. Sie erzählen noch heute von seiner Freundlichkeit und Solidarität. Während der Prüfungsarbeiten zum Abitur etwa setzte sich der alte Schlereth, wie er liebevoll genannt wurde, um die Ecke in Dörr's Weinstuben. Die Prüflinge meldeten sich zum Pissen, flitzten zu meinem Großvater, der die Aufgaben in Sekunden­schnelle löste, und sausten wieder zurück. Auf diese Weise hat manch einer sein Abitur bestanden. Und das war das Bestechende an ihm, daß er in keinster Weise eingebildet war, daß er sein Leben lang von äußerster Bescheidenheit war. Ich sehe ihn vor mir, wie er sehr aufrecht und voller Würde mit seinem abge­schabten, viel zu kurzen Mäntelchen und einem alten Hut, ein kleines Leiterwägelchen hinter sich herziehend quer durch die Stadt läuft, hinüber zur Salzburg, um Holz zu sammeln. Er spaltete bis ins hohe Alter sein Holz selbst. Zuhause war er ein Patriarch. Das Haus besorgte allein die Großmutter, die in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes als die Regenbogenpresse las, und wohl auch deshalb von dem Großvater immer für etwas blöde gehalten wurde. Nur ihre Kochkünste wußte er zu schät­zen. Nicht daß er das besonders betont hätte, aber er aß immer mit großem Appetit. Dabei amüsierte uns eine Besonderheit: Er aß alles getrennt, zuerst die Kartoffeln, dann das Gemüse oder den Salat, zuletzt die Soße und das Fleisch. Heute betrachtet man das ja als letzten Schrei bewußter Ernährung.
Großvater war immer gesund und als er mit 74 Jahren in das Krankenhaus eingeliefert wurde, war uns allen klar, daß er es nur im Sarg verlassen würde. Sein letzter Kraftakt war, den Pfaffen rauszuschmeißen, den Großmutter in der letzten Minute angeschleift hatte.
Das einzig Interessante an Großmutter war etwas, was ich ei­gentlich gar nie hätte hören dürfen. Aber genau so etwas be­kommen ja Kinder immer mit. Es wurde gemunkelt, daß da eine entfernte Verwandtschaft zu Liebknecht bestünde. Wie ich mir den Namen merken konnte, ohne damit in dem Alter das geringste zu verbinden! Jahrzehnte später checkte ich den Stammbaum und fand tatsächlich in der großmütterlichen Linie diesen Namen. Ob zwischen den thüringischen und den nicht weit entfernten hessischen `echten' Liebknechts eine Verwandtschaft bestanden hat, konnte ich nicht herausfinden.
Ich bedaure sehr, daß ich Großvater niemals nahe gekommen bin. Ich hatte immer eine gewisse Scheu vor ihm, die ich mir bis heute nicht erklären kann. Wenn ich mal mit mathematischen Problemen zu ihm kam, erklärte er sie mir immer mit großer Geduld. Wir spielten hin und wieder Schach zusammen, das er mich manchmal gewinnen ließ. Und er hatte Humor. Wenn er lach­te, zeigten sich in den Augenwinkeln unendlich viele Lachfält­chen. Und dennoch blieb er ein Fremder für mich, den ich zwar sehr verehrte, aber eben ein Fremder, der, wie ich heute glau­be, sehr, sehr einsam gewesen ist. Aber ihm verdanke ich mit Sicherheit - und dafür bin ich sehr, sehr dankbar - meine Liebe zu den Büchern. Aus Trotz zu meinem Vater hatte ich mich lange Jahre stur geweigert, überhaupt ein Buch in die Hand zu nehmen.
Was ich ebenfalls bis heute nicht verstehe, ist die Tatsache, daß bei so einem Vater ein solch egozentrischer, eingebildeter und zuweilen sadistischer Widerling wie mein Alter herausge­kommen ist. Das genaue Gegenteil auch von seinem älteren Bru­der, an dessen Besuch in Westpreußen ich mich nur schwach ent­sinnen kann, und der in den allerletzten Kriegstagen gefallen ist. Vielleicht der typische Fall von einem Kind, das sich hintangesetzt fühlt? Das sich dann in studentischen Verbindun­gen und bei der Hitlerei hervortun mußte? Mit Hitler und Lu­dendorff hatte mein Großvater jedenfalls nichts im Sinn. Er war ein liberaler und humanistischer Mann, der schon deswegen zu meinem Vater nie ein herzliches Verhältnis haben konnte.
Das Taubenschwänzchen ist wieder da, das ich zum ersten Mal hier in Spanien sehe. Es ist ein schön gezeichneter Schwärmer, der an der Bougainvillea pfeilschnell von Blüte zu Blüte fliegt. Die oberen Flügel sind bräunlich, die unteren rot und der Hinterkörper ist schwarz mit weißen Tupfen und besitzt am Ende bürstenähnliche Fortsätze, rechts und links je zwei. Die Schwärmer sind den Kolibris zum Verwechseln ähnlich. Ihre end­los lange Zunge, mit der sie in die tiefen Blütenkelche der Schwärmerblüten eintauchen, gleichen den Schnäbeln, und ebenso wie die Kolibris `stehen' sie vor den Blüten, indem sie ihre Flügel wie Hubschrauberrotoren kreisen lassen. Kolibris schaf­fen 50 - 80 Flügelschläge in der Sekunde, Schwärmer `nur' die Hälfte. Der pummelige Körper und die schwarzen Knopfäuglein geben ihnen ein gemütliches Aussehen, das zu ihren rasanten Bewegungen in seltsamem Kontrast steht.
Ich sagte, daß Politik bei uns zuhause nicht diskutiert wurde. Das stimmt insofern, als mit meiner Mutter Diskussionen eh nicht zu führen waren und ich mich allen Diskussionen mög­lichst entzog. Und meine Schwestern waren zu jung. D.h. nicht, daß mein Vater nicht Politik diskutierte, wann immer sich ihm Gelegenheit dazu bot. Ich erinnere eine Situation, die mir im nachhinein gespenstisch vorkommt. Wir waren in Frühjahr `45 auf der Flucht, die kein Ende nahm, auf Schloß Bristow mitten in Mecklenburg bei einem Grafen Bassewitz einquartiert. Seine riesigen Ländereien wurden von polnischen Zwangsarbeitern be­wirtschaftet. Nicht weit entfernt befand sich eine Abschußram­pe für die V2. Wenn die Dinger, riesigen Särgen gleich, in Richtung England flogen, dann erbebte das ganze Schloß, offene Fenster flogen zu, geschlossene auf. Im Osten hörten wir be­reits die russische Artillerie. Von Westen her flog ein Luft­geschwader nach dem anderen ein. Da kam die Nachricht von Roo­sevelts Tod. Und ich hörte ein Gespräch zwischen meinem Vater und dem Grafen mit. "Truman und Stalin können sich nicht aus­stehen. Das geht nicht lange gut und die beiden bekommen sich in die Haare. Sie werden sehen, dann gewinnen wir den Krieg doch noch."
Oft hörte ich später auch den Namen Ernst v. Salomon und sein `Der Fragebogen' fallen. Von der Entnazifizierung als einem ungeheuren Unrecht war die Rede oder von den Schandtaten der amerikanischen Besatzer. Derlei Gespräche hat mein Vater wohl immer mit Gleichgesinnten geführt, denn Freunde hatte er nicht einen. Aber mich interessierten die Gespräche damals überhaupt nicht.
Und ein Thema war absolut tabu: Die Verbrechen der Nazi. Das war genau so tabu wie alles Geschlechtliche. Beides gab es eigentlich nicht. Für Fotze und Schwanz wurden lächerliche Umschreibungen benutzt, die ich immer als so widerlich em­pfand, daß ich mit 15 Jahren auf die Frage eines Schweden, was kuk bzw. penis auf deutsch hieße, nichts antworten konnte. Die Naziverbrechen wurden also nicht diskutiert, weder zuhause noch in der Schule, auch nicht von dem jüdischen Direktor, der sich andererseits stundenlang über die amerikanische Demokra­tie und die herrlichen Verhältnisse dort auslassen konnte. Das tat er so ausgiebig, daß er darüber unseren Englisch-Unter­richt vernachlässigte, weshalb das Abitur im Englischen so katastrophal ausfiel, daß er vom weiteren Führen einer Abitur­klasse suspendiert wurde. Was wir natürlich mit großer Genug­tuung zur Kenntnis nahmen.
Weshalb mein Vater, der immerhin bis zum bitteren Ende Chef einer Tageszeitung gewesen ist, nicht zur Entnazifizierung mußte, das habe ich mich erst sehr viel später gefragt. Ich kann es mir nur so erklären, daß das Tabu, nicht an die Zeit `davor' zu rühren, mein Gehirn partiell lähmte. Nicht allein mein Gehirn. Meines Vaters Terror war so groß, daß ich niemals an Widerstand auch nur dachte, obwohl ich spätestens mit 15 Jahren dafür stark genug gewesen wäre. Auch meine Mutter hat mich bis in die Abiturzeit hinein geschlagen. Als ich einmal zur Abwehr ihrer Schläge die Arme hob, machte sie ein Riesen­geschrei. "Dein Sohn hat die Hand gegen seine Mutter erhoben." Worauf mein Vater herbeieilte und mir eine zusätzliche Ration zukommen ließ. Mir ist heute noch unklar, wie eine erwachsene Frau ihrem eigenen Kind gegenüber so bewußt und infam lügen kann. Nach Möglichkeit steckte ich die Prügel lautlos weg und haßte die beiden nach jedem Mal nur noch intensiver.
A propos Entnazifizierung. Meine letzten Jahre in Neustadt verbrachte ich im letzten Haus am Nordrand der Stadt, im Don­senhaug, einer winzigen Straße. Dort lernten wir die Baers kennen, eine Familie mit zahlreichen Kindern. Der alte Baer war im 1000-jährigen Reich Gauleiter gewesen und einige Jahre lang entnazifiziert worden, d.h. im Knast gewesen. Als er zu­rückkam, waren ziemlich alle Züge abgefahren und er blieb ein armer Kerl. Und er blieb Faschist - offen. Er hatte ein Stück­chen Land, auf dem er Kohl und Schweine groß zog. Mit einem Leiterwägelchen, das mit alten Fässern beladen war, machte er täglich die Runde durch alle Kneipen, um die Abfälle einzusam­meln, was natürlich eine goldige Mischung ergab, die stets gefährlich über den Rand schwappte. Trotzdem überwand ich oft meinen Ekel und half dem alten Mann den Wagen zum Donsenhaug hochzuschieben. Zu dieser Familie durften wir keinen Kontakt haben, was zum Ergebnis hatte, daß jeder von uns unter den Kindern einen Freund oder Freundin hatte. Und zu guterletzt heiratete eine meiner Schwestern einen der Baers sogar.
Warum hielt mein Vater gegenüber dem alten Baer auf Distanz, obwohl er doch Gesinnungsgenosse war? Aus schlechtem Gewissen, weil der sich auch weiterhin offen dazu bekannte? Weil der nicht so schlau wie er gewesen ist, sich rechtzeitig einen `Persilschein' zu besorgen? Weil sich die älteren Töchter mit Amerikanern abgaben? Weil die Familie arm gewesen ist? Das hat sicher eine Rolle gespielt, ob ausschlaggebend, weiß ich nicht. Zu Anfang wohl deshalb, um sich keine Blöße zu geben, da er ja davongekommen war. Außerdem trank der alte Baer gerne einen, des öfteren auch einen über den Durst, was mein Alter verabscheute. Dann konnte es auch passieren, daß er am hel­lichten Tag in der Kneipe saß und die `alten' Lieder sang, worüber sich kein Mensch aufregte, nur mein Alter rümpfte dann verächtlich die Nase, nicht wegen der Lieder, sondern wegen des Suffs.
Der drittälteste Sohn Heinrich war mein Freund oder sollte ich eher sagen mein guter Kumpan? Denn es gab viele Dinge, über die wir niemals miteinander sprachen, obwohl wir, schon durch unseren langen gemeinsamen Schulweg, unerhört viel Zeit mit­einander verbrachten. Außerdem bewunderte ich ihn zu sehr, als daß wir wirklich hätten Freunde sein können. Ich bewunderte seine weltmännische Art, seinen Charme, seinen Schlag bei den Frauen, weil er ein verdammt gut aussehender Kerl war, wie im übrigen alle Baers. Wir konnten ausgezeichnet miteinander ler­nen, vor allem auf den letzten Drücker, wenn es richtig brenz­lig wurde. Wir konnten das mit viel Spaß verbinden und oft lagen wir vor Lachen unter dem Tisch. Da es bei den Baers sehr beengt war, lernten wir immer in meiner Dachkammer, von der aus ich ihm Zeichen geben konnte, weil er ebenfalls unter dem Dach wohnte, ca. 200 m entfernt. In den letzten zwei, drei Jahren vor dem Abitur hatte Heinrich, von allen beneidet, so­gar eine feste Freundin mit eigener, sturmfreier Bude. Obwohl er also über einschlägige Erfahrungen verfügte, wagte ich ihn niemals einige der Dinge zu fragen, die man schon immer über den Sex wissen wollte.
Hier in Spanien läßt sich an den Ausländern dasselbe Phänomen rassistischer Überheblichkeit wie in Afrika beobachten. Nur sind es hier nicht die weißen Entwicklungshelfer, sondern Pen­sionäre, die sich den Traum ihres Lebens erfüllt und hier ein Grundstück mit Häuschen erworben haben und da sitzen sie nun - überwiegend ältere Frauen aus Deutschland, England, Frankreich - und wohnen ihre Möpse ab bis ans Ende ihrer Tage. Eigentlich haben sie es bald satt, aber sie haben nun einmal den Schritt getan, der sich nur schwer rückgängig machen läßt, und müssen nun dem Bild vom erfüllten Glück gerecht werden, vor allem gegenüber den Daheimgebliebenen. Und bald hassen sie das Land und die Trockenheit und die Luftfeuchtigkeit und das ganze Klima und die Leute sowieso. Die Sprache beherrschen sie meist nur unvollständig oder gar nicht, weil man sie ja im Umgang mit den Dienstboten auch nicht braucht. Sie treffen sich un­tereinander und tauschen dann ihre Erfahrungen mit `ihren' Gärtnern, Putzfrauen, Taxifahrern, Friseuren, Maurern und Ma­lern aus und wie schlecht die Zustände überhaupt in diesem Lande sind. `Ihre' Bank funktioniert nicht wie zuhause und auch nicht die Post. Und die Tischlampen, die es zuhause an jeder Ecke gibt, bekommt man hier ebenfalls nicht. Von der guten deutschen Wurst und dem schwarzen Brot ganz zu schwei­gen. Zum Glück gibt es ja `meinen' deutschen Metzger, der die Wurst zwar nicht ganz so wie zuhause in Kassel macht, aber immerhin. Und dann die Straßen und der verdreckte Strand und die Strom- und Wasserversorgung und die allgemeine Schlampe­rei.
Meine Nachbarin ist ein Prototyp für diese Haltung, die ein­deutig rassistische Untertöne hat. Weder hat sie Umgang mit Spaniern, noch sucht sie ihn. Zwar spricht sie von ihrer Freundin Carmen, die zwei Häuser weiter wohnt, aber eigentlich nur, um das Ausbeutungsverhältnis zu verschleiern, das zwi­schen den beiden besteht. Carmen ist eine einfache, nette Frau mit zwei Kindern und Ehefrau eines Klempners, der sich mit zwei Kumpanen selbständig gemacht hat. Eine völlig normale, typische spanische Familie. Da meine deutsche Nachbarin ohne Fahrzeug hier oben am Berg lebt, ist sie quasi auf ihre `Freundin' angewiesen. Die schleppt ihr die Kisten mit Bier und Sprudel hoch, die sauschweren Gasflaschen, nimmt ihren Abfall mit hinunter und näht ihr auf ihrer Maschine hin und wieder das eine oder andere. Und ihren Swimmingpool nutzt mei­ne Nachbarin auch gerne.
Für all diese Dienste wird Carmen dann ab und zu zum Kaffee eingeladen und Weihnachten wird sie natürlich auch bedacht. Ansonsten hält meine Nachbarin sie für ein dummes Stück Schei­ße. Die sei so saudumm, daß sie kaum ihren Namen lesen könne. Sie habe sie einmal animiert, Abendkurse zu besuchen, was die aber nach dem zweiten Mal aufgegeben habe. Nicht einmal kochen könne die richtig. Und wenn man der was leihe, dann sei es hinterher garantiert kaputt. Die sei halt ein Bauerntrampel.
Aber den Gipfel leistete sie sich vor ein paar Tagen. Der An­laß war folgender: Carmens Mann hatte seinem Neffen erlaubt, in einem Schuppen zur Einfahrt ihres Grundstückes mit seinen Kumpels Musik zu machen. Vor ein paar Monaten begannen sie also zu üben. Mit ihren Syntizizern und Verstärkern hauten sie derart auf die Pauke, daß einem in dem kleinen Talkessel hier die Ohren abfielen und selbst die halb taube Nachbarin die Gabel fallen ließ. Sie redete daraufhin zweimal mit Carmen und ich sprach mehrmals mit den Jungens. Danach ging es regelmäßig zwei Tage gut, d.h. der Lärm war erträglich, und dann ging das Tongewitter wieder los. Meine Nachbarin wollte nochmals ganz ernsthaft mit Carmen reden, bevor sie zur Polizei, zur Umwelt­behörde und was weiß ich wohin noch ginge. Dazu kam es aber nicht, denn vorher bekam sie einen Nervenzusammenbruch. Als Carmen, von Nachbarn herbeigerufen, ihr zu Hilfe eilen wollte, wurde sie von der heulenden, kreischenden, an ihrem Fenster­gitter rüttelnden Nachbarin empfangen: Du Mörderin, du, hau ab oder ich schlag dich tot, hau ab.
Was die entgeisterte Carmen natürlich umgehend befolgte und ihrerseits mit den Nerven am Ende war. Zwei Tage später, ich traue meinen Augen nicht, steht Carmen wieder auf der Matte und pflegt die `Schwerkranke'. Ich hätte es an ihrer Stelle wie ihr Mann gemacht, der gesagt hat: "Hätte sie das zu mir gesagt, kein Wort würde ich mehr mit der reden." Aber Carmen hat diese Bewunderung des einfachen Menschen für all jene, die etwas mehr Bildung besitzen, für die `Studierten', was von denen wiederum hemmungslos ausgenutzt wird.
Nachdem ich Carmen in Schutz genommen hatte und die Meinung geäußert hatte, daß sie, schon im eigenen Interesse sich ent­schuldigen solle, richtete sich der Haß der Nachbarin gegen mich. Sie warf mir entliehene Zeitschriften und Manuskripte über den Zaun und schnitt mir kurzerhand Strom und Wasser ab. Ich weiß schon, warum ich um die reizenden deutschen Landsleu­te einen weiten Bogen mache.
Noch spät am Abend sitze ich fast nackt auf der Terrasse. Der volle Mond wandert erstaunlich schnell hinter den ungemein hohen Eukalyptus, der einer Pappel so ähnlich sieht. Drüben türmen sich Hügel um Hügel in nebligem Dunst aufwärts zu Ber­gen und der Kreis der Lichter der Wetterstation auf dem Gipfel ganz rechts scheint sich feenhaft tanzend loszulösen und in die Lüfte zu entschweben. In dem Moment kommt in Radio Dos Clasica der Sommernachtstraum von Mendelssohn - Bartholdy. Welch hübsche Koinzidenz der Ereignisse.
Ich überlege, ob ich irgendwann, vielleicht in allerfrühester Jugend rassistische Vorurteile oder Gedanken hatte. Mir fällt dazu absolut nichts ein. Nun muß man dazu sagen, daß in jenem gottverlassenen bayrischen Kaff das konkrete Objekt für Vor­urteile so gut wie inexistent war. Außer einigen schwarzen Soldaten in der Anfangszeit der Besatzung - die Amerikaner verlegten ihr Hauptquartier alsbald nach Wildflecken - gab es keine `Andersartigen', keine Fremden, abgesehen von einer ita­lienischen Eisdiele, die von allen sehr geschätzt wurde. Sehr viel später brachte der Sohn eines Bauunternehmers von einem Studienaufenthalt eine schöne Madagassin als Ehefrau mit nach­hause. Natürlich gab es eine Menge Gerede, aber wir jungen Kerle bewunderten die Schönheit der Frau und ich außerdem den Mut des Typen. Ich nahm mir fest vor, später mit einer Afrika­nern viele Kinder zu zeugen, um `es den Spießern zu zeigen'. Jahrzehnte danach erst wurde mir anhand konkreter Fälle klar, daß man dadurch höchstens sich selbst oder anderen etwas be­weisen kann, den Kindern aber damit wahrhaftig keinen Gefallen erweist.
Später als Werkstudent kam ich mit Spaniern, Italienern, Tür­ken, Ägyptern, Iranern, Engländern, Franzosen, Albanern, Jugo­slawen zusammen und mit vielen von ihnen verband mich eine oft langjährige Freundschaft. Manche waren mir widerlich oder ex­trem widerlich, aber derlei Empfindungen unterschieden sich ja in keiner Weise von denen, wie man sie gegenüber deutschen
Volksgenossen hat. Ich kann mir auch nicht denken, daß ich nur aus einer Trotzreaktion heraus zum Antirassisten geworden bin, quasi aus Trotz meinem Vater gegenüber, wie ich aus Trotz we­der Klavier noch Geige gelernt habe. Ich glaube, das wäre in diesem Fall zu kurz gegriffen. In meinem tiefsten Innern gibt es gewissermaßen eine Ur-Liebe allen Menschen und allem Leben­den gegenüber. Sie verführt mich auch immer wieder dazu, den Menschen allzu vertrauensvoll zu begegnen, was mir oft keines­wegs gut bekommen ist. Alle Ermahnungen mir gegenüber, miß­trauischer, zumindest vorsichtiger zu sein, fruchteten nichts, weil ich es nicht sein wollte. Und, müßte ich eine Rechnung aufmachen, so bin ich sicher, daß das Gute, das ich von Men­schen, Frauen und Männern, erfahren habe, das Schlechte bei weitem überwiegt.
Gleichzeitig habe ich, so weit ich zurückdenken kann, immer auch einen beinahe instinktiven Haß gegen Unterdrückung, Willkür und Terror und jene, die sie ausübten, empfunden. Vie­le Menschen, vor allem Frauen, sind der Meinung, man dürfe nicht hassen. Nichts halte ich für verkehrter. Ich war sogar sehr früh der Meinung, die ich stets bestätigt gefunden habe, daß jene Menschen, die nicht hassen, auch nicht lieben können. Wenn ich den menschlichen Körper mit allen seinen Fasern, sei­nen offenen und geheimen Funktionen, seinen Reaktionen, seine unglaubliche Zähigkeit und extreme Verletzlichkeit wirklich liebe, den des anderen und meinen, den meinen im anderen, wie kann ich dann unberührt bleiben, wenn diesem Körper Schaden und Leid zugefügt werden? Und wie anders soll man es nennen als Haß, wenn ich alles tue, Schaden und Leid von mir und an­deren abzuwenden, wirklich alles inklusive Gewalt und mich nicht nur in allgemeinen Floskeln des Mitleids ergehe? Das Paradox, auch durch gerechte Gewalt wiederum anderen Lebewesen Schaden zuzufügen, läßt sich einfach nicht vermeiden. Gewalt ist jedoch nicht gleich Gewalt. Die Gewalt der Gerechtigkeit dient dazu, Gewalt zu stoppen, während die Gewalt der Unter­drücker der Perpetuierung der Gewalt dient. Und dem dienen auch die allgemeinen Friedensschalmeien lauer Pazifisten und Gefühlsduselanten.
Heute wollen sich Israel und die PLO anerkennen. Im Radio ist von einer `reconciliación historico', einer `historischen Wie­der-Versöhnung' die Rede. Genau davon kann nicht die Rede sein. Die Palästinenser werden dieses Papier mit größter Bit­terkeit im Herzen unterschreiben, der äußersten Not gehor­chend, weil sie die ganze Welt gegen sich haben, zumindest jene Welt, die alle Machtmittel in Händen hält. Was den Palä­stinensern angetan wurde, gehört zu den ganz großen Verbrechen der Geschichte, die für immer auf dem Gewissen der Menschheit lasten müßten - wenn sie denn eines hätte. Aber sie reiht Ver­brechen an Verbrechen und kann deswegen trotzdem ausgezeichnet schlafen.
Ausgerechnet die Araber, die über viele Jahrhunderte hinweg, vor allem seitdem Spanien durch seine katholischen Könige als erstes Land der Welt judenfrei gemacht wurde, den Juden Asyl und Heimstatt gewährten, wo sie zudem nicht unter ständigen Pogromen leiden mußten, hatten die Gründung des Staates Israel mitten in ihrem Gebiet zu erdulden, was allein durch die Waf­fen des Westens möglich war. Die Berufung auf 2000 Jahre alte Rechte diente dabei lediglich als Alibi für das schlechte Ge­wissen des ganzen christlichen Westens gegenüber den Juden. Wo kämen wir hin, wollten alle Völker 2000 Jahre alte Rechte gel­tend machen?
Hätten die Siegermächte nach dem Weltkrieg beschlossen, Bayern zu räumen, um den Juden dort eine Heimat zu schaffen, wäre das zwar nicht der Weisheit letzter Schluß gewesen (wahrscheinlich hätten wir statt mit einer PLO mit einer BBO - Bayrischer Be­freiungsorganisation - leben müssen), aber man hätte es doch verstehen können.
Aber die Christen konnten mit der Gründung des Staates Israel eine Reihe von Problemen `lösen'. Neben der Beruhigung ihres Gewissens konnte im Nahen Osten, wo der Westen `vitale Inter­essen' zu verteidigen hat, eine Polizeistation errichtet wer­den, die für Recht und Ordnung sorgen konnte. Gleichzeitig ist dadurch seit über 40 Jahren die ganze arabische Welt destabi­lisiert worden, ihre Vereinigung definitiv verhindert worden. Doch das Problem der Christen mit den Juden als den `Mördern ihres Heilands' ist nicht eigentlich gelöst, sondern nur vor die Tür gestellt worden. Und man hat sich flugs einen neuen Antisemitismus, den Haß auf die semitischen Araber, zugelegt. Daß damit der Haß auf die Juden nicht verschwunden ist, zeigen die jüngsten Ereignisse in Deutschland.
Die Palästinenser werden ihre Unterschrift also mit größter Bitterkeit im Herzen geben, d.h. die PLO, während andere Be­freiungsorganisationen schon angekündigt haben, daß sie das Abkommen nicht anerkennen werden. Für die nächste Zukunft wer­den wir also damit rechnen können, daß Palästinenser sich un­tereinander bekämpfen werden. Abermals ist dem Westen und Is­rael damit ein geschickter Schachzug gelungen: Die PLO und Arafat, bisher wirkliche Vertreter ihres Volkes, werden ge­schwächt, und der Keil in der arabischen Welt wird bis ins Herz der Palästinenser getrieben. Nicht die Konzeption der PLO von einem sozialistischen Palästina, in dem Araber und Juden brüderlich zusammenleben, wird gesiegt haben, sondern die ka­pitalistische Konzeption von `jeder gegen jeden'.
Fünf Tage, nachdem ich dies geschrieben habe, steht in El País vom 4. September 1993 ein Artikel von Robert Fisk `De Palesti­na a un país imposible' (Von Palästina zu einem unmöglichen Land). Darin zitiert er einen palästinensischen `Verleumder' Arafats in einem schmutzigen Flüchtlingslager Beiruts: "Die Israelis machen mit Arafat das gleiche, was sie mit den Liba­nesen gemacht haben. Als sie das libanesische Gebiet von Chouf verließen, inszenierten die Israelis einen Krieg zwischen Christen und Drusen. Als sie sich aus Sidon zurückzogen, in­szenierten sie einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Chri­sten. Jetzt geben sie Gaza auf unter der Kontrolle von Hamas (die militante Front des islamischen Widerstands) und überlas­sen es Arafat, sich mit denen auseinanderzusetzen. Und dann werden die Israelis sagen: `Seht ihr, wie die Palästinenser sich untereinander bekriegen? Wie können wir ihnen Cisjorda­nien überlassen, wenn sie sich in dieser Art und Weise auffüh­ren?' Und das wird als Entschuldigung dafür dienen, daß die provisorischen Abkommen definitiv werden. Die Palästinenser werden weder den Rest von Cisjordanien erhalten noch einen Teil von Jerusalem." Und Robert Fisk, der im übrigen die Clin­ton-Administration die Israelfreundlichste seit Menschengeden­ken nennt, sagt Arafat das gleiche Schicksal wie Anwar al Sa­dat und Michael Collins (dem Anführer des irischen Befreiungs­kampfes) voraus.
Heute, acht Tage nach der ersten Ankündigung der Unterzeich­nung des Vertrages mit Israel, erwartet man den Abschluß für den 13. September 1993, und inzwischen sprechen alle Beobach­ter von einem zu erwartenden Bruderkrieg zwischen den Palästi­nensern. Die Strategen des Teufels in Tel Aviv und Washington haben also richtig gerechnet.
Mein Abscheu vor Gewalt, vor allem gegenüber Schwächeren, hat mich schon auf der Schule immer wieder kopflos in Kämpfe stür­zen lassen. In der Klasse hatten wir einen Bauernsohn aus Wollbach, ein armes Dorf 5 km außerhalb von Neustadt, von sehr zarter Statur und außerordentlich schüchtern. Dieser Junge war eine beliebte Zielscheibe für Hohn und Spott und Prügel sei­tens aller Rüpel und Schläger. Bei einem dieser Kämpfe, in denen wir auf verlorenem Posten standen, wurde ihm ein Bein gebrochen. Zu dritt oder viert trugen wir ihn in das Kranken­haus, wo ich ihn mehrfach besuchte, auch später, als er wieder zuhause war. Die Familie lebte in einem dieser winzigen Bau­ernhäuser, eher Katen, in sehr armen Verhältnissen. Um so grö­ßer war die Herzlichkeit dieser Menschen. Ich glaube, damals spürte ich zum ersten Mal die Bewunderung einfacher Menschen für den Städter, den `Studierten', was ich als sehr peinlich empfand. Von dem Vater erfuhr ich erstmals etwas über die har­te Arbeit in einer Bauernwirtschaft. Über Pflügen, Düngen, Fruchtfolgen und auch das fränkische Erbrecht, das alle Söhne gleichermaßen bedachte. Das hatte die unglaublich zerstückelte Felderlandschaft zur Folge. Beim Antritt jeder neuen Genera­tion wurden die Äcker längs geteilt, so daß viele gerade hand­tuchbreit waren. Stets wurde ich bewirtet, was meinen Eltern nie im Traum einfiel, und stets gaben sie mir zum Dank etwas mit, ein paar Äpfel oder Kartoffeln, Pflaumen oder einen Mais­kolben.
Durch diese Familie erlebte ich auch das erste Kirmesfest, das gleichzeitig Erntedankfest war. Es wurde oberhalb des Dor­fes am Waldrand gefeiert. Lange Holzbänke und -tische waren aufgestellt, eine Blaskapelle war da und ein Bierausschank. Es wurde gescherzt, getrunken und getanzt. Ich war der einzige Städter und fühlte mich reichlich deplaziert. Ich nahm mein Bier, ging etwas abseits und setzte mich unter die Bäume, von wo ich weit über das Land bis nach Neustadt schauen konnte. Ein paar junge Besoffene torkelten in den Wald, um sich auszu­kotzen, was mich mit Ekel erfüllte. Das konnte aber nicht die Freude trüben, die sich von den Tischen mit den frohen lachen­den Gesichtern und den ausgelassen Tanzenden auf mich über­trug. Eine Freude, die wie alle Freuden mit etwas Trauer ver­mischt ist. `Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide' - diese Melodie hätte meinen Gemütszustand wohl am be­sten ausgedrückt. Und wie ich dort saß und über die endlos aneinandergereihten Felder und winzigen Äcker blickte, einige schon frisch gepflügt, manche noch mit Mais oder Rüben bestan­den, hatte ich zum ersten Mal das klare Bewußtsein, daß irgendetwas in unserer Gesellschaft total schief laufe, daß irgendetwas zutiefst ungerecht sei. Wie kann es angehen, daß mein Vater, der so wenig arbeitet, im Luxus lebt, während die meisten dieser Leute hier, die von früh bis spät schuften, in Armut leben? Zumal sie eine gesellschaftlich wichtige Arbeit, die wichtigste überhaupt, verrichten? Dieses Unrecht machte mich derart bedrückt, daß mir die Tränen kamen und ich mich tiefer in den Wald zurückzog. Dort verlor ich endgültig meine politische Unschuld.
Nach diesen Fragestellungen machte ich mir Gedanken, wie die­ses Unrecht abgestellt werden könnte. Ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht soziale Stellung und willkürliche Bewertung in Geld Grundlage des Verdienstes sein können, sondern als Grundmaß die Stunde geleisteter, gesellschaftlich notwendiger Arbeit sein müßte, deren Wert einheitlich festgelegt werden müßte. Ich habe dazu sogar ein Papier angefertigt, das aber verloren gegangen ist.
Eine weitere Frage, die mich in den frühen 50-er Jahren stark beschäftigte, war der Friede, angeregt durch Kants "Vom ewigen Frieden". Inwieweit mich die beiden großen Kriege jener Zeit, die Chinesische Revolution und der Koreakrieg dazu gebracht haben, kann ich nicht sagen, weil ich nur dunkle Erinnerungen daran habe. Aber ich weiß, daß ich auf der Seite der Schwäche­ren war. Und mit Sicherheit setzten im Alter von 14 oder 15 Jahren die Nachwirkungen meiner Kriegserlebnisse ein, die sich u.a. in ständigen Alpträumen äußerten. Ich glaube, daß es noch früher war, denn ich entsinne mich eines kindlichen Traums, in dem ich Stalin aufsuchte und ihn dazu bewegte, uns die Heimat wiederzugeben.
Die einzige Person in Neustadt, mit der ich derlei Fragen dis­kutieren konnte, war Dieter Lenk. Er war mein Klassenkamerad, ein Riese von einem Kerl, wie aus einem großen Holzblock grob zugehauen. Aber innerlich war er ein sensibler, gutmütiger und humorvoller Mensch und wenn er lachte, dann verzog sich sein breiter, schmallippiger Mund von einem Ohr zum anderen. Seine wässrig-blauen Augen hatten einen klugen Ausdruck, der durch die Lachfältchen einen skeptischen Touch erhielt. Er war eben­falls ein Flüchtlingskind und gläubiger Protestant, was in Bad Neustadt nicht ganz so schlimm war wie ein Heide. Auch er liebte die kleine Schrift Kants und wir diskutierten stunden­lang ihre Durchführbarkeit. Außerdem teilten wir die Liebe zur Poesie, aber so weit ich weiß, habe ich nicht einmal ihm an­vertraut, daß ich Gedichte schreibe oder ihm gar eines vorge­lesen.
Damit erschöpften sich schon meine intellektuellen Kontakte in jenem verdammten Nest. Dazu kommt der hundsmiserable Unterricht am Gymnasium, obwohl es zu einem der besten Bayerns zählte. Die Geschichte blieb in der Weimarer Republik stehen, die Literatur bei Goethe, Schiller und Lessing, und Musik- und Kunstunterricht waren unter aller Sau. Derart `gebildet', trat ich also 1955 ins Leben ein.
Allerdings gab es da ein Problem. Was ich werden oder studie­ren wollte, darüber hatte ich mir nie die geringsten Gedanken gemacht. Seit dem 15. Lebensjahr schrieb ich Gedichte, was außer mir niemand wußte. Und für mich war klar, daß ich eines Tages ein großer Dichter sein würde. Wozu sich also Gedanken über so profane Dinge wie Studium und Beruf machen? Also rasch etwas finden, denn von meinem Schreiben hätte ich meinem Vater zuallerletzt etwas gesagt. Da ich das Abitur in Zeichnen mit summa cum laude gemacht hatte, dachte ich an die Kunsthochschule. Nur hatte ich überhaupt nichts auf Lager, weil ich mich außerhalb der Schule nie mit Zeichnen und Malen beschäftigte. Die Zeichnung in der Schule hatte ich quasi mit links aus der hohlen Hand gemacht. Ich pfuschte flink etwas zusammen, schickte es irgendwohin und bekam den Quatsch natür­lich postwendend zurück.
Die nächste Idee war Landwirtschaft. Das wäre etwas Solides, das seinen Mann nähren würde, für den beinahe undenkbaren Fall, daß das mit den Gedichten vielleicht doch nicht so gut liefe. Aber da hatten die Götter vor den Lohn den Schweiß ge­setzt. Bevor man in eine landwirtschaftliche Universität ein­treten konnte, mußte man ein Jahr als Volontär auf einem Guts­hof vorweisen können. Der Hof war bald gefunden. Er gehörte einem kinderlosen Ehepaar, das lose mit der Ludendorff - Sipp­schaft verbunden war. Er lag ganz in der Nähe von Coburg und war über 60 ha groß. Das war damals und vor allem für süddeut­sche Verhältnisse außerordentlich viel.
Eines Tages trat ich also mit dem Raderl die 80 km lange, recht bergige Strecke nach Coburg an. Der Hof gefiel mir sehr gut, weil er außerordentlich diversifiziert war. Es gab Kühe, Schweine, Hühner, Gänse, Enten und Pferde. Der Besitzer züch­tete Stiere, hatte eigenen und gepachteten Wald, Wiesen und Weiden, Obst- und Erdbeerplantagen, baute Getreide, Mais und Zuckerrüben an. Mit mir arbeiteten ständig 12 Leute dort. Ich lernte, Unkraut hacken, was ich zuhause bereits zur Genüge getan hatte, mit der Fräsmaschine umgehen, Doppelzentnersäcke mit Getreide steile Treppen auf den Kornboden hochzuschleppen, Bäume fällen und die Stämme mit Pferden aus dem Wald zu zie­hen, Hühner- und Schweineställe auszumisten, die Pferde zu striegeln und was halt sonst noch so alles anfällt. Und das alles von 5 Uhr in der Frühe bis 22 Uhr in der Nacht und für ein mickriges Taschengeld. Abends fiel ich wie ein Sack ins Bett, bis ich am Morgen von der Frau des Besitzers, eine Nord­deutsche, die im übrigen hervorragend kochte, durch lautes Klopfen an meine Tür geweckt wurde. Ich kam weder zum Lesen, noch zum Gedichte schreiben, noch gab es Musik oder sonstige geistige Anregungen. Zwar mochte ich die Arbeit gerne, aber nicht siebzehn Stunden am Tag. Alle vierzehn Tage hatte ich einen Sonntag frei. Am Samstag abend durfte ich bereits nach­hause radeln, was ich notgedrungen und ungern deshalb tun muß­te, um meine Wäsche auszuwechseln.
Am Ende von drei Monaten, wir waren gerade dabei, die Kartof­feln durch die Sortiermaschine zu jagen, d.h. das Tempo hing davon ab, wie schnell ich die Handkurbel bediente, als ich zu der festen Überzeugung gelangte, daß ich nicht mein Leben lang die Handkurbel einer Kartoffelmaschine drehen wollte. Zum gro­ßen Leidwesen meines Vaters, der schon Pläne und wohl auch Absprachen getroffen hatte und sich schon als Gutsbesitzer mit Reitpeitsche und Lackstiefeln gesehen hatte, warf ich den gan­zen Krempel hin.
Ich tat meinen festen Entschluß kund, Philosophie und Sprachen zu studieren. Ich überlegte nur kurz, welche Universität am weitesten von zuhause entfernt lag - das war Hamburg - trat die Reise an und langte gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Wintersemesters `56 an.
Bei meiner damaligen Dummheit war das - ursprünglich als Not­lösung gedacht - gar kein schlechter Entschluß. Jedenfalls habe ich ihn nie bereut. Als erstes erwartete mich aber in Hamburg eine herbe Enttäuschung. Am zweiten Tag stellte ich mich vor den Eingang des alten Universitätsgebäudes mit der stolzen Aufschrift `DER FORSCHUNG DER LEHRE DER BILDUNG'. Ich schaute mir genau die Gesichter all der Studenten und Studen­tinnen und der Herren Professoren und Lehrenden genau an und dachte nur eins: Verdammt, das sind ja die gleichen Idioten, wie ich sie gerade eben in Bad Neustadt a.d. Saale hinter mir gelassen zu haben glaubte. Statt neugieriger, wissenshungri­ger, lebendiger, lebensfroher Gesichter, las ich in ihnen, mit wenigen, zu wenigen Ausnahmen, nur Stumpfsinn, Langeweile, Karrieresucht, Eitelkeit und Intrigantentum, Überheblichkeit und Rachsucht, Feigheit und Duckmäusertum und Arschkriecherei. Vor allem das: Arschkriecherei. Von der Sorte Mensch sollte ich an der Uni wahrhaftig mehr als genug kennenlernen. Es em­pörte mich bis in die Eingeweide, diese Speichellecker zu se­hen, wie sie um die Professoren, Dozenten und Assis herumschlichen und mit dem Schwanz wedelten. Aber noch mehr empörte mich, daß all diese Herren sich das gefallen ließen, es offenbar sogar noch genossen, anstatt dieses ganze Gesockse mit Fußtritten zum Hörsaal hinauszubefördern.
Eigentlich hatte ich an jenem Tag schon genug von der Uni. Wäre an jenem Tag jemand zu mir getreten und hätte gesagt: Wie findst'en das? Vergiß diese Scheißer und komm mit. Ich wäre mitgegangen und hätte mit ihm auf einem Schiff angeheuert und wäre Vagabund und Abenteurer geworden. Es ist niemand zu mir getreten und ich fühlte mich hundeelend und verdammt allein. Ich erledigte einige Formalitäten und ging zurück in meine Bude, die ironischerweise in der Himmelstraße lag.
Die ersten beiden Semester kam ich nicht groß zum Nachdenken, denn ich war vollauf damit beschäftigt, die Scheine zu liefern, die für mein Stipendium notwendig waren. Zum Glück änderte sich das bald. Es wurde mir trotz meiner guten Arbei­ten gestrichen, weil mein Vater die Behörde durch falsche An­gaben zu seinem Einkommen beschissen hatte. Ich weigerte mich, von ihm Geld anzunehmen und es kam zum Bruch, der leider nicht der endgültige sein sollte.
Aber endlich war ich frei, zu tun und zu lassen, was ich woll­te. Frei, frei, frei. Und frei bin ich bis zum heutigen Tag geblieben. Das hieß von jenem Spätsommer '57 an: Auch frei von jeder müden Mark. Und so wurde ich Mitglied jener großen Schar von Werkstudenten, die sich ihr Studium durch Arbeit verdienen mußten. Obendrein mußte damals noch der Platz an der Univer­sität teuer bezahlt werden, was in etwa dem Monatsgehalt eines Arbeiters entsprach.
Trotzdem: Was ich in den kommenden 12 Jahren in zahllosen Be­rufen gelernt habe, überwiegt das, was ich der Uni zu verdan­ken habe bei weitem. Ich möchte sogar wie Gorki sagen, daß das meine eigentliche Universität gewesen ist. Damit will ich nicht behaupten, daß unser Leben als Werkstudent nur im ent­ferntesten so hart, entbehrungsreich und bitter wie Gorkis Leben gewesen ist. Das war es nicht. Es waren die Jahre des Wirtschaftswunders und man konnte eigentlich an jeder Ecke einen Job bekommen.
Hier in Spanien hat das Tauziehen um den sogenannten Sozial­pakt begonnen. Es ist ekelerregend, mit welch monotoner Regel­mäßigkeit die Regierungen, ob konservativ oder sozial oder liberal, den Griff in die Kiste oller Klamotten tun. Die Löhne möchte man am liebsten einfrieren, scheut aber davor zurück, weil das zu sehr an die Franco-Zeit erinnern würde. Also macht man einen Winkelzug und läßt sie nicht über die Inflationsrate steigen, was einer Lohnkürzung gleichkommt. Und das möchte man gleich für die nächsten drei Jahre festschreiben. Sind je die Unternehmer hinsichtlich ihrer Profite zu einem Nullwachstum, wie es so schön heißt, aufgefordert worden oder gar zu einem Minus-Wachstum? Arbeitslosenhilfe und -geld will man natürlich auch kürzen und überhaupt am sozialen Netz herumschnippeln, das ohnehin um einiges löchriger ist als bei uns. UGT und CCOO wehren sich natürlich, aber ihr Widerstand wird einigermaßen lahm sein, da der Arbeiterschaft der Kampfeswille fehlt. Kürz­lich wunderte sich José, daß in den USA die Ankündigung Clin­tons, den wahnsinnig niedrigen Benzinpreis um ein paar Cent anzuheben, einen Sturm der Entrüstung hervorrufe, und hier der Benzinpreis alle paar Monate angehoben werde und kein Mensch nur den geringsten Laut von sich gäbe. In den 8 Monaten - seit ich hier bin - ist er um 17 Peseten gestiegen, d.h. etwa 25 Pfennige. Und dies ist ja nur ein Beispiel unter vielen.
Auch die Arbeitslosigkeit von fast 20 % wird mit einer beispiellosen Gleichgültigkeit hingenommen. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zu Deutschland: Arbeitslose, die sehr viel weniger Geld als bei uns bekommen, machen daraus kein Staatsgeheimnis und gehen nicht an selbstquälerischen Anklagen und Grübeleien zu Grunde. Allein in unserem Petanca - Club gibt es ein knappes Dutzend Arbeitslose, die entweder mit ihrem wenigen Geld zufrieden in den Tag hineinleben oder aber sich kleine Nebenverdienste beschaffen und dann besser leben als ein Arbeiter mit seinem normalen Einkommen.
Die Heuschreckenwolken der Touristen haben das Land endlich wieder verlassen. Als ich vor zwei Tagen zum Strand hinunter­radelte, war er vergleichsweise menschenleer. Dort, wo Fabiola ihren Sommersitz hat, ist das Meer eigentlich immer sauber gewesen, aber diesmal habe ich schleunigst die Füße wieder aus dem Wasser gezogen, als ich überall die braunen Scheißefäden herumschwimmen sah. Ich weiß nicht, ob die anderen Leute das nicht sehen oder zwar sehen, aber sich keine Gedanken darüber machen. Vor einiger Zeit war ich mit Freunden am Strand neben dem Hafenbecken verabredet. Und was ich dort im Wasser schwim­men sah, konnte einem den Magen umdrehen. Neben Plastiktüten, Plastikflaschen, Essensabfällen gab es da schön gedrehte Kack­würste und jede Menge Präservative zu sehen, was die Mensche­menge aber nicht daran hinderte, mit Kind und Kegel im Wasser herumzuplanschen. Wenn ich früher über vergleichbare Zustände an italienischen Stränden las, wo die deutschen Touristenhor­den sich im Wasser vergnügten, hielt ich das immer für eine maßlose Übertreibung der Journalisten. Glauben die Leute, das spiele keine Rolle, weil sie eh in der Scheiße steckten?
Dieser Tage sind die Morgen so mild und samten wie die schön­sten Herbsttage bei uns. Erst gegen Mittag wird die Sonne so heiß, daß es keinen Zweifel geben kann, wo man sich befindet. Auch die Vögel kehren zurück oder tauchen wieder auf, die in der größten Hitzeperiode vor allem tagsüber sich unsichtbar hielten. Heute morgen kreiste auch wieder ein Adler über dem Berg, ein Fischadler, dem hellen Kopf nach zu urteilen, aber selbst durch das Glas konnte ich es nicht genau erkennen. In der Vega hat die Aussaat und das Pflanzen für die zweite Ernte begonnen, das Gemüse, das im Winter dann zu uns kommt. Und das Zuckerrohr, dessen Säson erst vor zwei Monaten zu Ende ging, steht schon wieder mannshoch.
Dabei fällt mir ein, daß ich die Jahre meiner Studentenzeit in Hamburg fast ausschließlich in der Stadt zubrachte. Für Jahre vergaß ich die Natur und auch die Berge vergaß ich. Ich gewöhnte mich derart an die flache norddeutschte Landschaft, daß ich vom Auftauchen der Berge völlig überrascht wurde, als ich beinahe zwei Jahre später wieder nach Süden fuhr. Sicher machte ich mit Freunden oder Freundinnen mal einen Ausflug zum Baden an das Meer oder wanderte ein paarmal an den Großen See, aber die Natur hatte ihre Bedeutung für mich verloren - zeit­weise.
Wichtig wurden mir zum ersten Mal die Menschen. Von ihnen lernte ich genauso viel wie durch die Arbeit. Von den Spaniern ich die Großzügigkeit, von den Italienern die Leichtigkeit, von den Iranern und Türken, allesamt überzeugte Kommunisten, die Herzlichkeit und das Einmaleins sozialer Fragen. Und ich lernte erstmals auch die wirklich wichtige Literatur kennen. Durch Paco den Garcia Lorca, durch Marie- Louise das `Große Testament' von François Villon, durch die deutschen Freunde die Bücher von Musil, Broch, Jahnn, die Stücke von Brecht und Dürrenmatt. Das kam nicht auf einen Schlag, sondern ganz all­mählich nach und nach. Mit der Zeit entwickelte ich ein feines Sensorium dafür, was für mich wichtig sein könnte, je nachdem, wer mir etwas erzählte und wie. Ich lernte unterscheiden, ob man von etwas in dem Sinne sprach, daß `man' es gelesen haben müßte, aus Bildungs- oder beruflichen Gründen oder wie auch immer oder deswegen, weil der Schriftsteller etwas zu sagen hatte, was uns, mich, alle anging. Durch einen glücklichen Zufall hatte ich sehr früh den Mut gefunden, Bücher einfach zuzuklappen, wenn sie mir nicht gefielen, egal wie `wichtig' sie waren. Auf diese Weise ist mir der größte Teil der deut­schen Nachkriegsliteratur erspart geblieben, die Böll und Johnson und Walser und wie sie alle heißen. Bücher, ohne Saft und Kraft und Feuer und inneres Anliegen geschrieben, nur um halt was zu Papier zu bringen, so wie ein drittklassiger Schauspieler seine Stunden auf der Bühne runterreißt. Aber mit dem lächerlichen Ernst eines Oberguru vom Himalaya, was ja überhaupt die Deutschen auszeichnet. Ihr Bierernst.
Ach ja, die Deutschen. Gerade lese ich, daß Kohl an die `tra­ditionellen Werte der Arbeit und Sparsamkeit' erinnert, an die `Tugenden der Gründer der Republik' und die Deutschen auffor­dert, mehr und länger zu arbeiten, später in Rente zu gehen und früher mit dem Arbeitsleben zu beginnen. Außerdem kündigt er neue Steuern an und die weitere Privatisierung von Bahn und Post. So viel Unverfrorenheit grenzt schon an Mut oder ist es nur der Mut zur Unverfrorenheit? Diese Typen, die sich im Par­teienfilz dick und fett wie die Maden gefressen haben, auf Kosten aller Steuerzahler natürlich, fordern die ärmsten Schweine der Republik auf, den Gürtel enger zu schnallen und mehr zu arbeiten und verschleudern obendrein die staatlichen, ebenfalls mit den Geldern aller Steuerzahler geschaffenen Reichtümer für einen Pappenstiel an die ohnehin verhätschelten Privatkapitalisten. Das alles ist machbar, so lange die Deut­schen, geduldig und fromm wie die Schafe, es einfach hinneh­men.
In die Hamburger Studentenzeit fielen auch meine ersten, so mühsamen, von Angst geprägten Erfahrungen mit Frauen. Meine Mutter hatte es nicht lassen können, mir auf den Weg in die Freiheit den Satz `Wenn man mit Frauen geht, wird man krank' mitzugeben. Ihr Beitrag zu meiner Aufklärung gewissermaßen. Zwar wußte ich durch meine Schwestern und durch Zufall entdeckte halbpornographische Hefte meines Vaters über das Aussehen von Frauen Bescheid, aber was und vor allem wie man es mit ihnen anfängt, das war für mich ein Mysterium. Schon in Bad Neustadt hatte ich ein paar platonische Liebschaften, bei denen es über Küsse nicht hinausging. Selbst eine verheiratete Frau, mit der ich mich unter konspiratorischen Bedingungen hin und wieder in dunkler Nacht traf, hat mich - leider - nicht verführt.
In Hamburg wiederholten sich diese Art Beziehungen drei Jahre lang nach immer gleichem Muster. Ich kannte die schönsten Frauen und alle hielten mich für einen großen Verführer und nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Küsse und höchst `zufällige' Berührungen der Brüste, so lange, bis die Frauen von diesem dummen Einfaltspinsel genug hatten. Bis eines Ta­ges, d.h. Nachts, eine um etliche Jahre ältere Frau die Sache in die Hand nahm, im wörtlichen Sinne. Ich hatte sie im `Cam­pari', einem italienischen Café der Innenstadt kennengelernt. Auf dem Nachhauseweg hat sie auf einer Bank in einem kleinen Park meinen Pimmel ausgepackt, sich einfach draufgesetzt und ihn halb zuschanden geritten. Zu meiner üblichen Angst kam die Nervosität wegen eines Typen, der mit der Taschenlampe Regen­würmer suchte und immer engere Kreise um unsere Bank zog, was sie aber nicht zu stören schien. Nach dieser brutalen Entjung­ferung brannte mir der Schwanz wie nichts Gutes. Als wir end­lich vor ihrem Haus angelangt waren, zog sie mich ins Treppen­haus und gab nicht eher Ruhe, bevor sie die Prozedur auf den Stufen wiederholt hatte. Und als ein Spätheimkehrer zur Haus­tür hereinkam, schien sie das wieder nicht zu stören, während ich wohl bis zu den Arschbacken rot geworden bin.
Am folgenden Tag schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich er­klärte, daß ich sie nicht liebe und deshalb auch nicht wieder­sehen möchte, worauf sie gewiß auch keinen gesteigerten Wert legte. Acht Tage lang tat mir der Pimmel weh und ich schwor mir, nie wieder Liebe ohne jedes Gefühl zu machen. Ich habe diesen Schwur auch gehalten, d.h. mit ganz wenigen Ausnahmen, die ich immer bedauert habe. Ich glaube, es ist ein wichtiges Prinzip, das aber in den allermeisten Beziehungen nicht beach­tet wird. Es gibt wunderschöne `Onenightstands' voller Zärt­lichkeit, Zuneigung und Sex und beide wissen, daß es bei die­ser einmaligen Begegnung bleiben wird. Das finde ich völlig in Ordnung. Nur darf man nicht einen guten Fick mit Liebe verwechseln oder umgekehrt. Und man sollte auf keinen Fall Beziehungen eingehen, wo sowohl das eine als auch das andere fehlt.
Und eines habe ich nie verstanden: Wie man zäh und verbissen hinter jemandem hersein kann, der keinerlei Interesse für ei­nen zeigt. In den Fällen, wo der oder die `Verfolgte' dem un­ermüdlichen Werben nachgibt - in der Regel sind das Frauen - fällt er oder sie furchtbar auf die Schnauze. Es rächt sich einfach, wenn man nicht seinem Instinkt gehorcht. Der ist oh­nehin schwach entwickelt und wird durch unsere Erziehung zu­sätzlich verbogen. Zahllos sind die Geschichten, die mir Frau­en erzählten, in denen es genau um dieen Punkt geht. Eigent­lich hatten sie in ihrer frühen Kindheit einen ganz anderen Typ Mann geliebt. Aber die Umstände verboten jedweden Kontakt oder wenn es dazu kam, wurde es entdeckt und hart sanktioniert. Das Ergebnis war, daß sie am Ende einen ganz anderen Typ wählten, was einfach unglücklich enden mußte. Der­lei Geschichten passieren, wenn man nicht eisern an seinen Träumen, den Träumen der Kindheit festhält, sondern sie ver­rät. Das zuzugeben, fällt sehr schwer. Und die meisten Männer und Frauen haben irgendwann sogar ihre Träume vergessen.
Als ich einer Frau, mit der ich zufällig im Café ins Gespräch gekommen war, die mir die Leidensgeschichte ihrer gerade been­deten Ehe mit Kindern und allem erzählt hatte, dies auf den Kopf zusagte, verharrte sie in langem Schweigen. Am Ende sagte sie: Du hast Recht, ich habe meine Träume verraten. Ich will versuchen, es wieder gutzumachen. Und mir war bei diesem Ge­ständnis zum Heulen elend zumute.
Was die Liebe angeht, leben wir in einer beispiellosen Unkul­tur oder besser noch, mitten in atavistischer Barbarei. Nun ja, es ist das getreue Spiegelbild unserer Unkultur insgesamt. Gefühllos, herzlos, rücksichtslos, unsolidarisch. Barbarisch ist eigentlich ein völlig falsches Wort, ein frühes Beispiel rassistischer Überheblichkeit eines `Kulturvolkes', das die Hellenen für ihre Nachbarn erfanden. Wenn ich lese, wieviel Zärtlichkeit und Mitgefühl die letzten Steinzeitmenschen auf der Erde, die Aborigines in Australien, die Bewohner Neuguine­as oder die Indianer am Amazonas für Mensch und Umwelt aufbringen, dann ist das Wort Barbaren zutiefst ungerecht. Dann kann man nicht umhin, das, was wir gemeinhin darunter verstehen, auf uns anzuwenden, auf alle sogenannten Kulturvöl­ker, ob das die Chinesen, die Inder oder, erst Recht, die Völ­ker des christlichen Abendlandes sind. Da hat Lundquist abso­lut Recht mit seinem Buch `Die Barbaren sind wir', das er nach langjährigem Aufenthalt auf Neuguinea geschrieben hat.
Da muß ich an Bertil Ericsson denken, einen Förster in Schwe­den, bei dem ich 1961 als Holzfäller gearbeitet habe. Im ver­gangenen Jahr traf ich ihn nach 15 Jahren wieder, inzwischen pensioniert und seinen Lebensabend auf dem wunderschönen vä­terlichen Bauernhof verbringend. Ich bat ihn, mit mir zusammen in jenen Wald hochzufahren, den ich damals mit 120 anderen Männern abgeholzt hatte. Es war ein regnerischer Herbsttag und als wir durch den inzwischen wieder hoch gewachsenen Wald gin­gen, bemerkte ich seine Traurigkeit und fragte ihn: Bertil, du hast doch ein erfülltes Leben gehabt, hast eine nützliche Ar­beit geleistet und gut obendrein, wie ich denke. Bist du nicht zufrieden? Und er antwortete: Tja, schon, wenn da nur nicht die Dinge wären, die man nicht getan hat. Und er erzählte mir, was er mir damals, als er noch jung verheiratet war, nicht gestanden hatte, vielleicht, weil es in zu frischer Erinnerung war.
Er hatte bei eben jenem Eric Lundquist, Professor für Forst­wissenschaften, studiert und natürlich auch alle seine hinrei­ßenden Bücher gelesen und war durch ihn auf den Gedanken ge­bracht worden, einige Jahre in den jungen Staat Indonesien zu gehen, wo dringend Förster gesucht wurden. Er war Feuer und Flamme und Lundquist erledigte alle Formalitäten, bis auf ei­ne, die Bertil nicht umhin konnte, selbst zu erledigen. Er mußte nach Stockholm fahren und seine Braut schonend von sei­nen Absichten unterrichten. Und die gestand ihm, daß sie schwanger wäre. Aus und vorbei waren alle Träume von Indone­sien und er mußte alles rückgängig machen, denn seine spätere Frau war nicht bereit, ihm in das fremde Land zu folgen. Und dieses Versäumnis nagt heute noch an ihm als altem Mann.
Auch in Hamburg schrieb ich weiter Gedichte, allerdings wie immer nach dem Lustprinzip. Was das Schreiben anging, war ich ein fauler Hund. Erstens hatte ich nie einen Stift bei mir und auch neben dem Bett hatte ich nie Papier und Bleistift liegen. Und es waren immer die Spaziergänge und die Zeit vor dem Ein­schlafen, wo ich die besten Einfälle hatte. Da hatte ich fer­tige Zeilen, Verse, ja ganze Gedichte im Kopf und ich vertrau­te darauf, sie am nächsten Tag auch noch zu wissen. Von wegen, sie waren weg. Sie werden wiederkommen, dachte ich. Aber sie kamen auch nicht wieder.
Irgendwann war ich mir vollkommen darüber im klaren, daß ich ernsthaft arbeiten müßte, wenn ich wirklich gut werden wollte. Und ich fragte mich gewissenhaft, ob ich das wolle. Tag und Nacht einen Stift bei mir zu haben, alles aufzuschreiben, was immer mir durch den Kopf ginge, jeden Furz und Quatsch und dann aussortieren, überarbeiten, feilen und nochmals feilen, nichts anderes mehr denken, als Verse und Gedichte und noch­mals Verse, bis ich tatsächlich in Versen zu denken begänne. Und ich habe mich dagegen entschieden. Ich wollte leben und lieben. Ich wollte nicht in einem Elfenbeinturm sitzen, weit entfernt von der Welt wie Rilke, dessen Verse ich übrigens sehr bewundere, und ich wollte kein Schmarotzer sein wie er. Er war als Mensch ein Versager und als Liebhaber ebenfalls, wie die Goll berichtet. Ich wollte nach Lust und Laune meine Gedichte schreiben, für mich, meine Freundinnen und Freunde. Und ich habe diese wohl überlegte Entscheidung niemals bereut.
Sehr viel später, im Verlauf der 68-er, als ich mich stärker den unmittelbaren politischen Fragen zuwandte, hörte ich mit den Gedichten allmählich ganz auf. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Um ein politischer Mensch zu werden, fehlten mir vorerst alle Grundlagen. Mir fehlte es an allem: Bildung, Bewußtsein und Erfahrung in jeder Hinsicht. Oft hatte ich das intensive Ge­fühl, die ersten 18 Jahre meines Lebens nicht gelebt zu haben. Und in gewisser Weise war das auch so. Ich war ständig krank, hatte sämtliche, nur denkbaren Kinderkrankheiten bis hin zur Gelbsucht, hatte mit einem Jahr meine erste Operation wegen einer Mittelohrentzündung, mit fünf Jahren wurde mir der Blinddarm herausgenommen, die Polypen und die Mandeln kurz darauf. Mit 15 Jahren hatte ich einen komplizierten Beinbruch bei einem Sportunfall, ein Jahr darauf eine mysteriöse Krank­heit im anderen Bein, weshalb ich insgesamt 1 1/2 Jahre nicht zur Schule gehen konnte. Ich schaffte die Abschlüsse trotzdem mit Hilfe eines Schülers, der selbstlos Tag für Tag mir die Aufgaben brachte und alles erklärte. Ich fiel von Bäumen, hackte mir mit der Axt ins Bein und meine schwersten Unfälle hatte ich mit dem Fahrrad.
Sehr viel später wurde mir klar, daß alle diese Unfälle und Krankheiten zu über 90% psychischer Natur gewesen waren. Eine Reaktion auf die kranke Situation zuhause. Ich funktionierte irgendwie, aber leben, leben konnte man das nicht nennen. Es war eher ein Vegetieren, ein Dahindämmern wie eine Schnecke in ihrem Schneckenhaus, das ich nur verließ, wenn niemand in der Nähe war und das war in der Einsamkeit der Natur. Und kaum hatte ich das Elternhaus verlassen, bin ich nie mehr krank geworden.
Ich mußte mir also über vieles erst einmal im klaren werden, über mein ganzes früheres Leben, über meine Beziehung zu den Eltern, über das, was ich will. Mehr Verständnis für das, was zuhause abgelaufen war, brachte mir ein Gespräch mit der Groß­mutter mütterlicherseits. Wir trafen uns in Hamburg in `Plan­ten un Bloomen'. Ihre Tochter sei eine lebenslustige Göre ge­wesen, die das Pech hatte, mit 13 Jahren meinen Vater kennen­zulernen, den sie mit 17 oder 18 heiratete. Schlag auf Schlag bekam sie Kinder. Das erste starb nach wenigen Monaten, das zweite ebenfalls. 1937 wollte sie sich, 21 Jahre alt, von mei­nem Vater trennen. Da hatte der einen Verkehrsunfall, bei dem er ein Bein verlor, und gleichzeitig merkte sie, daß sie wie­der schwanger war. Und zwar mit mir. Damit waren alle Träume von Trennung und Freiheit ausgeträumt. Und daß ich unter die­sen Umständen nicht geliebt werden konnte, war mir dann auch klar, ebenso wie meine Reaktion darauf. Meine Großmutter konn­te meinen Vater nicht leiden und sie hatten ewig Krach mitein­ander, aber daß sie die Trennung befürwortet hatte, obwohl mein Vater eine gute Stellung hatte, habe ich ihr hoch ange­rechnet. Ansonsten hatte ich für sie nicht viel übrig und es war auch unser letztes Treffen.
Nach dem Verlust meines Stipendiums konnte ich frei auswählen, was mir gefiel, mußte nicht mehr in vorgeschriebenen Fächern blöde Scheine schreiben. Petriconi, dem damaligen Chef des romanistischen Seminars, habe ich viele Einblicke in die roma­nische Literatur zu verdanken. Er war ein kritischer Geist und Atheist, dessen Vorlesungen geistreich, scharf und witzig wa­ren, weshalb der Hörsaal regelmäßg völlig überfüllt war und die Studenten sich noch in den Fluren drängten. Er hatte sogar den Mut, uns zu sagen: Leute, vergeßt die Sekundärliteratur und geht zu den Quellen. Das sagt kein mieser Staubbeutel von einem Professor, der zutiefst beleidigt ist, wenn man seine Werke nicht studiert hat.
Am besten gefiel uns, wenn Petriconi den bornierten katholisch-französischen Provinzialismus eines Montherlant, Bernanos, Maurois oder Claudel gnadenlos verriß und dem die Größe eines Camus oder Sartre oder die Weitherzigkeit, den Humor und die Weltoffenheit etwa eines Jean Giono gegenüber­stellte, obwohl der kaum jemals seine geliebte Provence ver­lassen hat.
Eine Schwäche hatte ich auch für Borinski, den Chef des ang­listischen Seminars. Er war der Sohn eines Maurers und so sah er auch aus: Ein vierschrötiger, großer Kerl, der aber außer­ordentlich kompetent war und einen feinen Sinn für Humor hat­te. Außerdem gefiel mir seine einfache und direkte Art.
Zeitweise hörte ich philosophische Vorlesungen, u.a. bei dem eitlen Fatzke Weizsäcker, die mir aber zu nichtssagend und langweilig waren. Da las ich lieber für mich zuhause den Kant, Fichte oder Schopenhauer, einige meiner damaligen Lieblinge. Hegel zu studieren, gab ich nach mehreren Anläufen auf; mich ärgerte maßlos, daß man jeden Satz vier oder fünf Mal lesen muß, bevor man verstand, was er eigentlich meint.
Aufschlußreich für mein damaliges politisches (Un)Bewußtsein und das allgemeine Klima in der Adenauerzeit ist folgende Anekdote. Ich war Mitglied einer Studentenbühne und für den jährlichen Uni-Abschlußball im Viersternehotel Atlantic hatten wir eine Reihe von Sketchen einstudiert. Da ich etwas russisch gemacht hatte und den Akzent gut drauf hatte, fiel mir einer der damals so beliebten typischen Anti-Russen-Sketche zu, was ich keineswegs absonderlich fand. Wir hatten weder eine Probe im Saal noch vor den Mikrofonen gemacht, so daß ich maßlos vor meiner eigenen Stimme erschrak, als ich zum ersten Mal in mei­nem Leben vor einem Mikro stand, noch dazu vor einer riesigen Menschenmenge und dem ganzen versammelten Lehrkörper. Ich fing mich jedoch schnell und erntete stürmischen Beifall. Wer sich kaum mehr einkriegen konnte, auf mich zugestürmt kam, mir kräftig auf die Schulter hieb und mich zum Sekt einlud, war der damalige Unirektor und spätere Wirtschaftsminister Karl Schiller. Das waren unsere geistigen Führer!
Aber so entstehen Karrieren. Ich hätte nur in dieser Richtung weiterzumachen brauchen, wäre dann, wie so viele meiner Freun­de beim Aufbau des Fernsehens mit eingestiegen und wäre ein gemachter Mann gewesen. Hätte `ein Häuschen mit Garten' gehabt, wie Neuß gesungen hat, und viele niedliche Kinderchen gehabt und eine Frau, die mir mit Sicherheit bald zum Hals herausgehangen hätte - und ich ihr - und natürlich hätte ich ein dickes Auto und Bankkonto gehabt. Und ich hätte beim Wie­dersehen mit einem Vogel wie mir beim zweiten Bier Tränen in den Augen gehabt und gesagt: Ja, siehst du, du bist frei und kannst tun und lassen was du willst. Und hätte von dem ange­fangenen großen Roman gesprochen, der zuhause in der Schublade liegt, und von dem ich genau wüßte, daß er nie vollendet wer­den würde. Naja, diese Klippen habe ich jedenfalls glücklich umschifft, ohne die Ohren mit Wachs verstopfen zu müssen.
Stattdessen malochten wir weiter, im Hafen oder bei Reemtsma, dem Tabakgiganten, bei der Alstermilch oder der Schultheiß-Brauerei. Für einsfuffzig die Stunde und verdienten im Monat so etwa 350 DM, ein Drittel dessen, was die Fernsehleute halb­tags verdienten, ohne sich die Knochen kaputt zu machen. Diese Jobs nahm man begreiflicherweise nur im Notfall an. Alle Tricks und Kniffe waren recht, um an die lukrativeren und nicht so harten Jobs heranzukommen. Und das war nicht einfach. Der Chef des Studentenwerks war ein alter, gerissener Fuchs, der seine Lieblinge hatte, die er immer zuerst versorgte, ob­wohl wir damals schon das schwedische Nummernsystem hatten. Eines Tages kam ich mit zwei Freunden mal wieder zu spät. Es waren schon ca. 50 Leute vor uns da. Ich ging nach unten in das Telefonhäuschen, legte mein Taschentuch über den Hörer, rief das Studentenwerk an und meldete mich mit Dr. Schäfer vom Norddeutschen Rundfunk. Ob 50 Leute greifbar wären für eine Geräuschkulisse. Fünf Mark die Stunde. Aber schnell müßte es gehen. Und beim Pförtner melden.
Oben beobachteten wir amüsiert das einsetzende hektische Trei­ben und bald brachen 50 Studenten unter Führung meines Erzri­valen zum Rundfunk auf. In der Zwischenzeit erhielten wir fei­ne Jobs für den nächsten Tag, gingen aber nicht nachhause, sondern wollten den Erfolg unseres Tricks abwarten. Es dauerte endlos lange, so daß wir schon befürchteten, die Jungs hätten womöglich doch einen Job bekommen. Aber nein, nach zwei Stun­den kamen sie angetobt. Die hatten so lange gebraucht, um den Pförtner zu überwältigen, das ganze Haus nach einem Dr. Schä­fer abzusuchen und endlose Telefonate zu führen. Mein Intim­feind hatte den Braten gerochen und schon beim Hochstürmen der Treppen schrie er: Der Schlereth war das, der Schlereth. Nur beweisen konnte er nichts.
Am beliebtesten waren Jobs beim Film. Hamburg war eine Film­stadt und immer wieder wurden Statisten gesucht. Aber es war verdammt schwer, da ranzukommen, weil diese Jobs meistens un­ter der Hand verschoben wurden. Wenn man gar eine Minirolle als Tänzer oder dergleichen bekam, dann schwammen wir regel­recht im Geld. Weder vorher noch nachher hatten wir Arbeiten, bei denen wir am Ende mehr Geld erhielten, als wir erhofft hatten. Es gab diese Zuschläge und jene, Spesen und Diäten bei Außenaufnahmen und Fahrgeld und Urlaubsgeld und was weiß der Teufel alles. Bei den Aufnahmen zu den `Buddenbrooks' hatten wir besonderes Glück. Wir hatten am Morgen sogleich ein Schachtischchen entdeckt, das nun einmal zu den Requisiten in großbürgerlichen Häusern gehörte, und mein Freund und ich fin­gen umstandslos zu spielen an. Irgendein Idiot von einem Re­gieassistenten, die sich immer besonders wichtig nahmen, fing zu toben an: Was uns denn einfiele, wer uns das erlaubt hätte und so. Bis der Regisseur einschritt - ich glaube Käutner - und unsere Idee ganz ausgezeichnet fand. Und so spielten wir den ganzen Tag ungestört Schach, was wir ohnehin oft genug taten, allerdings ohne dafür einen Haufen Geld zu bekommen.
Manche Studenten, im Umgang mit so viel Geld nicht geübt, hau­ten dann maßlos über die Stränge. Ein Albaner setzte es Klei­dung aus den feinsten Läden am Jungfernstieg um- was an seinem bäurischen Aussehen nicht das Mindeste änderte - oder kaufte pfundweise Backwaren, andere steigerten den Umsatz auf der Reeperbahn, aber den Vogel schoß ein Typ namens Schlemmermeyer ab - ein Spitzname, den er nicht ganz zu Recht trug, weil es ihm bei seinen Schlemmereien weniger auf Qualität denn auf Quantität ankam. Er hatte für eine kleine Rolle 800 DM verdient, am Tag, was damals unermeßlich viel Geld war. Als er nachts um 23 Uhr auf dem Nachhauseweg am Flughafen vorbeikam, hörte er die Ankündigung für einen Flug nach Stockholm. Er sauste hinein, kaufte ein Ticket, flog nach Stockholm, aß dort am Flughafen ein paar Würstchen und flog mit dem nächsten Flugzeug zurück. Das Geld war restlos weg, so daß er am näch­sten Tag wieder Bierkisten schmeißen mußte, für einsfuffzig die Stunde, wie er uns glücklich grinsend erzählte.
Ich hatte mir einen bescheidenen Lebensstil angewöhnt, so daß ich immer ein wenig Geld auf die Seite legen konnte, um in den Semesterferien ins Ausland fahren zu können, wo ich in der Regel auch einen Job annehmen mußte. Das war mit vielen Um­ständen verbunden: Man mußte die Bude aufgeben - um das Geld zu sparen - seine Klamotten irgendwo unterstellen, und bei der Rückkehr begann wieder die elende Sucherei nach einer neuen Bude. Und nicht selten kam ich völlig abgebrannt wieder in Hamburg an. Ich achtete allerdings immer darauf, wenigstens 50 Pfennige übrig zu behalten, mit denen ich die Straßenbahn zu meiner alten Tante Emma nehmen konnte, um dort eine Portion wundervoller Bratkartoffeln zu essen, wie nur sie sie machen konnte.
Meine erste Reise in den ersten Semesterferien ging nach Pa­ris. Es war März und saukalt und regnerisch. Die schönste Stadt verliert unter solchen Bedingungen an Reiz. Zum Ausgleich wohnte ich in einer schönen Jugendherberge, die in einer alten Villa in St. Cloud untergebracht war, allerdings den Nachteil hatte, weit draußen zu liegen und um 22 Uhr ihre Pforten zu schließen. Und die mit Glasscherben gekrönte Mauer zu überklettern war nicht möglich. Dafür war dort eine groß­artige Gesellschaft versammelt. Musikgruppen aus aller Welt, die gerade von einem Festival in Moskau zurückgekehrt waren und noch im Stadion Olympia für die Kommunistische Partei Frankreichs auftreten mußten. Es waren viele Indios aus Peru und Bolivien da und mehrere afrikanische Gruppen und alle tru­gen sie wegen der Kälte die russischen Pelzmützen mit herun­tergeklappten Ohrschützern, die sie zum Abschied geschenkt bekommen hatten. Das sah urkomisch aus, machte den Jungens aber gar nichts aus.
Eine spontane Freundschaft entwickelte sich zu den Afrikanern. Ihre Freundlichkeit und warme Menschlichkeit nahmen mich so­fort gefangen. Mit François aus Senegal lernte ich den ersten Jazzkeller meines Lebens kennen, in der Rue Hachette. Wenn es für die Heimkehr zu spät wurde, nahm er mich zu afrikanischen Freunden mit, wo Musik gehört oder gemacht wurde und wir zu später Stunde dann auf einem windschiefen Sessel ein wenig pennten. Am besten gefielen mir damals die Abende in der Ju­gendherberge, wo ständig irgendwelche Musiker übten, für sich oder mit anderen, und ich die wundervollsten Melodien afrika­nischer und lateinamerikanischer Volksmusik hörte. Leider war ihr Aufenthalt begrenzt und viel zu schnell mußten sie abrei­sen.
Bei jenem ersten Parisaufenthalt im Frühjahr 1957 hatte ich noch drei wichtige Begegnungen, genau genommen zwei, weil die dritte schon unterwegs nach Deutschland im Zug stattfand. Friedmann, seinen Vornamen habe ich vergessen, ein amerikani­scher Jude aus New York, war die eine. Ich weiß auch nicht mehr, in welcher Sprache wir uns unterhielten, wahrscheinlich englisch oder deutsch, denn französisch spricht ja kaum ein Amerikaner. Jedenfalls führten wir stundenlange Gespräche und natürlich über das Dritte Reich und Auschwitz und all dies. Erstmals sprach da ein Betroffener zu mir mit einer sanften, leisen Stimme. Seine Familie hatte fliehen können, aber viele Verwandte hatten nicht das Glück gehabt. Ich glaube, er war es, der mir die letzten apologetischen Argumente austrieb, die selbst bei jenen Deutschen gang und gäbe waren, die sich kei­neswegs mit der Elterngeneration identifizierten. Viele Deut­sche wußten nichts und nicht alle sind schuldig und sechs Mil­lionen werden es wohl nicht gewesen sein und wie die Argumente alle lauteten, die man vielleicht deshalb benutzte, um der Ungeheuerlichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Aber so wie Eltern für ihre Kinder haften, haften eben auch Kinder für ihre Eltern. Sonst wäre ja auch die ganze Frage der Reparationen und Wie­dergutmachung hinfällig. Warum hätten wir Kinder Wiedergutma­chung zahlen sollen?
Erst kürzlich diskutierte ich mit einem schwedischen Freund diese Frage. Er meinte, er hätte nie verstanden, weshalb junge Deutsche, die mit den Verbrechen nichts zu tun hatten, ständig diese Gefühle der Schuld hätten. Aber wir leben doch nicht im luftleeren Raum und werden nicht anonym in vitro geboren, son­dern wir haben leibliche Eltern und Großeltern und Urgroßel­tern und eine Heimat und ein Vaterland, die alle uns geprägt haben. Wir sind aufgewachsen mit diesen Mördern, Seite an Sei­te, haben neben ihnen geschlafen, sind von ihnen erzogen wor­den, haben sie geliebt oder auch nicht, sind von ihnen gestreichelt oder geschlagen worden. Und das Erbe besteht ja nicht nur aus Bankkonten und Häusern und dergleichen, sondern eben auch aus all diesen immateriellen Dingen.
Wir Söhne und Töchter jener Deutschen tragen also sowohl Ver­antwortung als auch Schuld. Und die Ablösung der Schuld besteht ja in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, im Stellungbeziehen, im Kampf gegen eine Wiederholung solcher Dinge (was zur gleichen Zeit ein Eingeständnis der Schuld ist, sonst wäre das alles ja überflüssig). Wir tragen Schuld, wie im weiteren Sinne alle Weißen Schuld an den ungeheuerlichen Verbrechen der vergangenen 500 Jahre an den Völkern der ganzen Welt tragen. Und wir als Kommunisten tragen auch die Schuld an den Verbrechen, den Fehlern und Versäumnissen, die im Namen des Kommunismus oder von Marxisten begangen worden sind. Da kommen wir nicht drum herum. Eh bien, und den Keim dieser Überlegungen habe ich Friedmann zu verdanken, den ich nie wie­dergesehen habe.
Die zweite Begegnung fand mit einem jungen deutschen Arbeiter statt, der ständig im Blaumann herumlief und in der Jugendher­berge irgendwie deplaziert wirkte. Er war ein hagerer, hoch aufgeschossener Kerl mit Brille. Er erzählte mir, daß er aus der Bundesrepublik geflohen sei wegen der Verfolgungen der Kommunisten durch Adenauer. Von Freunden, die ins Gefängnis geworfen worden seien, vom Verbot der Partei, ihrer Zeitungen und Organisationen, von Schlägen und Folter durch die Polizei. Mir hat sich das deshalb so eingeprägt, weil ich kein Wort davon glaubte, sondern ihn für einen Spinner hielt, der ganz einfach unter Verfolgungswahn leidet. Gewiß hatte ich von dem Verbot der KPD gelesen, aber ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken, genausowenig wie beim Verbot der Ludendorffer. Von demokratischem Bewußtsein konnte man also damals noch nicht sprechen. Hiermit möchte ich Abbitte leisten, junger Freund, der du nicht mehr jung bist, vor allem, weil ich wegen meiner Ungläubigkeit auch nicht an Hilfe dachte, der du vielleicht bedurft hast.
Die dritte Begegnung fand, wie gesagt, auf dem Rückweg nach Deutschland im Zug statt. Im Coupé mir gegenüber saß eine Französin, eine ältere Dame, so damenhaft streng, wie es nur Französinnen sein können. Wir kamen ins Gespräch, das sich um die Deutschen, meine Erlebnisse in Frankreich und den Krieg drehte. Kurz vor der Grenze mußte sie den Zug verlassen und zum Abschied gab sie mir die Hand und sagte: J'ai confiance en Vous. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Mit Tränen in den Augen sah ich ihr nach und fragte mich, womit ich das Vertrauen verdient hätte. Und ich kann sagen, daß ich fortan auch dafür lebte, mir dieses Vertrauen zu verdienen, diesem Vertrauen gerecht zu werden.
Um Vertrauen ging es auch, allerdings in ganz anderem Sinne, als ich mich im Frühjahr 1958 beim Direktor der Brüsseler Weltausstellung vorstellte, um einen Job zu bekommen. Eine Studentin in Hamburg war mit ihm bekannt oder verwandt oder was weiß ich, jedenfalls gab sie mir seine Adresse. Von Paris aus kommend, hatte ich mich zuerst in die Jugendherberge bege­ben und sodann diesen Herrn aufgesucht. Mir schlug beim Betre­ten seines Büros eine so offene und arrogante Feindseligkeit entgegen und gleichzeitig schlug er einen derart scharfen Ton mir 20-jährigem gegenüber an, daß ich kaum ein Wort herausbrachte, schon gar nicht in korrektem Französisch. Es war wohl eher ein Gestammel. Und da legte dieser ältere Herr erst recht los. Höhnisch sagte er: Soso, du hast die Studentin benutzt, um dich bei mir ins Vertrauen zu schleichen, ohne eine Wort französisch zu können. Welch eine Unverschämtheit! Raus! Na, das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Tief beschämt wegen seiner infamen Unterstellung und wie betäubt stand ich auf der Straße und fragte mich, was eigentlich pas­siert wäre. Nichts anderes als meinem Klassenkameraden Bremau­er auf dem Gymnasium, der vor versammelter und grölender Klas­se an der Tafel stand und vom Mathematik- und Biologielehrer vorgeführt wurde: Also Bremauer, ganz von vorn, was ist eins und eins? Und Bremauer stand da mit offenem Maul und heraus­quellenden Augen und brachte keinen Ton heraus. Und das Grölen der Klasse schwoll zum Orkan an. Ich schwor mir, daß mir so etwas nicht noch einmal passieren sollte, daß ich meine Angst vor Autoritäten unbedingt ablegen müßte.
Nach und nach hatte ich durch direktes Angehen alle meine Äng­ste verloren. Als kleiner Junge hatte ich Angst vor den großen Kerlen, die mich verdroschen. Ich stellte mich ihnen und wurde verdroschen, aber ich hatte mich gewehrt. Und die Schmerzen waren nicht so schlimm wie die Angst. Ich hatte Angst vor Spinnen und ich nahm sie in die Hand. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit und ich ging in den Wald und schlief auf einem La­ger, das ich mir in einem Baum gemacht hatte. Am Morgen wäre ich fast heruntergefegt worden durch einen starken Wind, der sich plötzlich erhoben hatte.
Und nun galt es also meine letzte Angst zu verlieren, die vielleicht die größte von allen ist. Die Angst vor dem Vater, vor der Gewalt des Vaters, vor seinem Terror. Als ich den showdown mit ihm hinter mir hatte, war es wirklich, als würden schwere Felsen von meinem Herzen gewälzt. Angst lähmt, Angst macht krank und unfrei, Angst macht Sklaven. Deswegen leben wir ja in einer Untertanen-Gesellschaft, weil die große Mehr­heit in ständiger Angst lebt. Angst vor dem Gerede der Leute, Angst vor dem Alleinsehen, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Nachts-auf-die-Straße-gehen. Aber die Angst vor dem Boß, die Angst vor der Zukunft, die Angst vor dem Tod, das sind wohl die drei Hauptängste mit ihren tausend Nebenängsten, die aber immer irgendwie mit diesen zusammenhängen.
Trotzdem war mit diesem Paukenschlag zuhause noch nicht alles vorbei. Noch zehn Jahre lang nach meinem Weggang plagten mich furchtbare Alpträume. In ihnen ging es immer um die zwei gro­ßen Themen meiner Kindheit: Die elterliche Gewalt und der Krieg. Es kamen die Bomben vor, die Tieffliegerangriffe, die Toten und die Sirenen vor den Luftangriffen, wildgewordene Pferde, die Schläge meiner Mutter oder meines Vaters, Stürze von den allerhöchsten Bäumen und in die allertiefsten Schäch­te. Es war ein Inferno. Aber je mehr ich mich mit dem Krieg und dem Elternhaus auseinandersetzte, umso mehr verlor dieses Inferno seinen Griff über mich, rückte es immer größere Ferne. Und als ich mit 28 Jahren meine große Liebe getroffen hatte und mit ihr in Schweden, meiner Wahlheimat, lebte, da verschwanden die Alpträume völlig.
Wieso Schweden meine Wahlheimat wurde? Durch einen der wenigen glücklichen Zufälle meiner Kindheit. Mein Vater war aus seiner Leipziger Studienzeit mit einem schwedischen Kunstmaler befreundet. Worin diese Freundschaft bestanden hat, ist mir immer ein Rätsel geblieben. Egal, jedenfalls beschlossen die beiden Väter gleichaltriger Söhne, diese in den Schulferien auszutauschen. 1952, die Währungsreform lag gerade 4 Jahre zurück und das Wirtschaftswunder steckte in der BRD noch in den Anfängen, fuhr ich also nach Linköping. Die Reise dauerte damals eine halbe Ewigkeit, über 70 Stunden. Die Belohnung war das Paradies. So und nicht anders habe ich das Land erlebt, eine Erfahrung, die sich mit der anderer junger Menschen deckt, die zu jener Zeit in schwedische Familien geschickt wurden, um aufgepäppelt zu werden. Ich wurde von der ganzen Familie mit dem Taxi, einem jener riesigen amerikanischen Schlitten, wie sie damals üblich waren, abgeholt und wir fuh­ren mitten in den Wald, wo sie ihr Sommerhäuschen hatte. Es war einer jener wunderschönen schwedischen Sommer, wie ich sie später noch oft erleben sollte. Wir badeten und radelten und ruderten und wanderten und morgens beim Aufwachen konnte ich durch das Fenster den Eichhörnchen bei ihren Sprüngen in den Fichten zuschauen.
Am meisten beeindruckte mich die Wärme und Herzlichkeit, die in jener Familie herrschten, und ihre Gastfreundschaft. Mit Jerker, dem Sohn, verstand ich mich prächtig und auch mit sei­ner viel jüngeren Schwester. Nicht ein einziges Mal gab es Zank oder Streit. Und es gab wundervolle Gerichte - Jerkers Mutter war eine sehr gute Köchin, was ich Jahrzehnte später bestätigt fand. Sie waren also nicht nur deshalb gut, weil wir im Hunger-Deutschland nicht gerade verwöhnt waren.
Anschließend reisten wir zu ihren Freunden, denen eine ganze Insel in den Schären von Karlskrona gehörte. Der Mann war Ad­miral und nur seinem Einfluß war es zu verdanken, daß ich 15-jähriger Ausländer eine Sondererlaubnis für jenes streng ge­heime Sperrgebiet erhielt. Später sollten sich genau dort ganz zufällig russische U-Boote `verirren'.
Die letzte Station in Schweden war Annelöv bei Lund, wo Jer­kers Mutter Lehrerin war. Ihr Haus hatte einen riesigen Garten mit dem wundervollsten Obst und mitten drin stand das Atelier des Vaters. Darüber befand sich ein kleines Zimmer, das nur über eine Leiter zu erreichen war, wo Jerker und ich schlie­fen. Es war auch eine Art Rumpelkammer mit Kisten alter Bücher und - Briefmarken, die zu sortieren wir ganze Nachmittage ver­brachten.
Und je mehr ich durch das Land gereist war mit seinen endlosen Wäldern, den unzähligen Seen, den ochsenblutfarbenen Häusern (dem Falun-Rot) aus Holz mit den weiß gestrichenen Fensterrah­men, umso mehr liebte ich es. Dabei spielt selbstverständlich eine Rolle, daß es so sehr meiner Heimat in Westpreußen ähnelt. Noch heute geht es mir so, daß ich, sobald ich schwe­dischen Boden betrete und diese Häuser erblicke, die schon von außen so wohnlich aussehen, ich verrückt vor Freude werde und am liebsten tanzen möchte. Viel später merkte ich, daß es nicht nur ein Paradies ist, sondern auch ein Land der Einsam­keiten, der Schwermut, der Trauer ist. Gleichwohl liebe ich es so intensiv, wie man eine Frau liebt.
Ich glaube, in Schweden habe ich auch am häufigsten den Traum von einem eigenen Häuschen geträumt, einem jener phantastischen Blockhäuser mitten im Wald und dicht an einem See, wenngleich ich diesen Traum auch in anderen Ländern hat­te. Dabei geht es mir nicht eigentlich um Besitz - nie wollte ich etwas besitzen - sondern meinetwegen um eine Art Wohnrecht in einer Höhle, wo man seine sieben Sachen lassen kann, kommen und gehen und reisen kann, ohne dafür ein Vermögen bezahlen zu müssen. Hunderttausende habe ich schon diesen verdammten Haus- und Wohnungsbesitzern in den unersättlichen Rachen geworfen und besitze nicht einen Stein. Es ist mir unbegreiflich, wie die Menschen eine solche Ordnung der Dinge einfach hinnehmen können. Auch hier in Andalusien wollte ich mich nach einem Häuschen umsehen angesichts der ins Unermeßliche steigenden Mieten bei uns und der desolaten Lage freier Schriftsteller. Denn hier kann man in den Dörfern der Alpujarras für 20-30 000 DM durchaus noch etwas bekommen, was für mich gerade noch er­schwinglich wäre. Und wieder habe ich mich, wie so oft zuvor, gegen den Besitz entschieden. Genauer gesagt: Es wäre für mich, da ich nicht so viele Optionen habe, eine endgültige Entscheidung. Ich wäre dann sehr weit weg von Deutschland und Schweden, die beiden Länder, an die ich halt emotional sehr gebunden bin. Deshalb habe ich immer dann, wenn ich mich kon­kret für etwas entscheiden soll, das Gefühl, als würde ich mir damit eine Bleikugel ans Bein binden wollen. Und ich denke auch, daß ich die paar Jahre, die mir noch bleiben, auch noch besitzlos hinter mich bringen kann.
Kurioserweise hat übrigens Spanien den höchsten Prozentsatz an Eigenheimbesitzern in Europa und die Schweiz den niedrigsten. Das ist auch der Grund dafür, daß die vielen Arbeitslosen mit den knapp 50 000 Peseten (keine 500 DM), die sie als Stütze erhalten, ganz gut über die Runden kommen, ebenso wie die Ar­beiter, die erheblich weniger als bei uns verdienen, dafür aber nicht ein Drittel ihres Gehalts für Miete bezahlen müs­sen.
In Hamburg lernte ich 1958 durch Peter, einen Freund aus Mel­dorf, den Spanier Paco kennen. Paco stammte aus Orihuela und war Millionär, der sein Geld mit Orangen und ihrer Verschif­fung nach Hamburg machte. Paco war blond mit blauen Augen und etwas gehbehindert und hatte nicht im geringsten die Allüren eines reichen Mannes. Stundenlang saßen wir in den italieni­schen Kneipen, diskutierten über Gott und die Welt und wenn er in Laune war, trug Paco Gedichte von García Lorca vor, von denen er sehr viele im Kopf hatte.
Durch ihn erhielt Peter einen Wahnsinnsjob: Einen Mercedes nach Südspanien fahren, wofür er 300 DM plus Spesen plus drei Wochen Spanienaufenthalt plus Rückfahrkarte für den Zug bekom­men sollte. Doch Peter hatte gerade auch einen lukrativen Job in Hamburg, den er gerne zu Ende bringen wollte. Aus der Zwickmühle erlöste ihn Paco, der inzwischen noch einen Merce­des gekauft hatte, der ebenfalls nach Spanien sollte. Peter bot mir also `seinen', den ersten Wagen an. Wunderbar, das Problem war nur, daß ich keinen Führerschein hatte und der Abfahrtstermin sehr knapp war. Wie der Teufel sauste ich zur nächsten Fahrschule, schrieb mich ein, ja, ja, ich könne schon fahren, was glatt gelogen war, ließ mir von einem Freund genau alle Hand- und Fußgriffe beschreiben, setzte mich ins Auto und es ging unter äußerster Konzentration wunderbar. Und in vier Wochen hatte ich meine beiden Führerscheine, für Auto und Mo­torrad.
Und wenige Tage später ging es los, das Auto mit Paco und drei weiteren Spaniern voll geladen, von denen keiner einen Führer­schein hatte, außer Paco, der aber wegen seiner Behinderung nur seinen automatischen Studebaker fahren konnte. In 75 Stun­den brausten wir bis Orihuela durch, nur mit Kaffee- und Es­senspausen, ein völliger Irrsinn. Autobahnen gab es nur ein paar Teilstücke bei uns und die Straßen in Spanien, die spot­teten jeder Beschreibung. Hinzu kam, daß in Spanien nachts unzählige Eselskarren ohne jede Beleuchtung von Dorf zu Dorf trotteten, aber auch Autos, Motor- und Fahrräder meist auf Beleuchtung jedweder Art verzichteten. Trotz aller Hindernisse kamen wir heil und ganz in Orihuela an.
Paco quartierte mich in einem kleinen Hotel in Alicante ein, wo ich Peters Ankunft abwarten wollte, um mit ihm zusammen die Rückreise anzutreten. Es vergingen eine, zwei, drei Wochen und Peter tauchte nicht auf. Schließlich fuhr ich alleine nach Hamburg zurück.
In der alten Villa in der Hochallee war nicht einer der vielen Studenten zuhause. Ich klingelte ganz oben, wo ein Ehepaar mittleren Alters wohnte, mit dem wir immer gut zurecht gekom­men waren. Die Frau öffnete mir, sah mich und brach in einen Schreikrampf aus. Ich wollte sie beruhigen und sie wich schreckensbleich zurück. Nach einer Weile beruhigte sie sich und ich erfuhr den Grund ihres merkwürdigen Verhaltens: Peter hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit mir, aber Peter hatten sie am Tag zuvor beerdigt. Ich war völlig fassungslos.
Nach und nach erfuhr ich den Hergang: Peter hatte vor der Ab­fahrt in der Villa ein rauschendes Fest gefeiert, hatte sich dann allein in den Wagen gesetzt und war losgebrettert. Er kam bis an die französische Grenze bei Kelheim, wo man ihn auf Grund irgendwelcher Mängel an seinen Papieren nicht durchließ. Er rief noch in Hamburg an, drehte ohne Pause um und fuhr zu­rück. Ohne ein Auge voll Schlaf. Und bei Karlsruhe donnerte er mit voller Fahrt unter einen Lastwagen. Er war auf der Stelle tot. Er hinterließ eine junge Frau, die bereits hochschwanger war. Wie leicht hätte mich das gleiche Schicksal ereilen kön­nen, der ich genauso einen Schwachsinn gemacht hatte, aller­dings ohne vorher zu saufen. Christian und ich, Peters beste Freunde, hatten durch dieses Ereignis von der Villa und von Hamburg die Nase voll.
Christian war es, der Freiburg/Bg als die richtige Universität für uns aussuchte. Vorher mußte ich allerdings erst noch einen Mercedes nach Spanien fahren, da der zweite Wagen ja durch Totalschaden ausgefallen war. Ende November 1961 fuhr ich im Zug dann nach Freiburg, wo Christian inzwischen eine Bude für uns gefunden hatte.
Ein paar Monate später gelangte ein Einschreiben in meine Hän­de, das auf dem Umweg über mein Elternhaus dort geöffnet wor­den war, was allein mich schon auf die Palme brachte. Und erst der Inhalt: Ich war in Spanien in Abwesenheit wegen unerlaub­ten Imports eines Mercedes 220 S zu der damals unvorstellbaren Summe von 20 000 DM Geldstrafe verurteilt worden. Das war na­türlich ein gefundenes Fressen für meine Eltern und der Beweis dafür, daß ich auf die schiefe Bahn geraten sei.
Ich nahm den nächsten Zug nach Orihuela, was Christian unbe­dingt verhindern wollte. Er glaubte, ich würde von den Spaniern erstochen, gevierteilt und in den Fluß geworfen wer­den. Als er mich nicht von meinem Vorhaben abbringen konnte, ließ er es sich nicht nehmen, mich mit Totschlägern und Schlagringen auszurüsten. Ich kam am Vormittag in Orihuela an, sah den nagelneuen Mercedes bei der Brücke stehen, den ich kurz zuvor hinuntergebracht hatte, daneben einen deutschen Studenten, den ich flüchtig kannte, und der als Chauffeur an­gestellt worden war. Ich nahm als erstes den Wagenschlüssel an mich, ging dann hinüber zu Paco, der mit Freunden auf der Ter­rasse eines Cafés in der Nähe saß. Natürlich regte er sich darüber auf, daß ich den Schlüssel hatte, willigte dann aber ein, die Angelegenheit zu regeln. Es stellte sich heraus, daß die notarielle Übertragung des Wagens in Spanien von meinem auf Pacos Namen nur eine Farce gewesen war, d.h. null und nichtig. Wir mußten zum Gericht und dort bezahlte Paco die Geldstrafe und er bekam den Autoschlüssel zurück. Er und seine Bande haben trotzdem noch ein enormes Geschäft gemacht. Für den Wagen hatten sie 15 000 bezahlt plus 20000 Strafe (sie enthielt die Zollgebühren) plus meinetwegen 5000 sonstige Unkosten, zusammen 40000 DM. Verkauft haben sie das Auto für sage und schreibe 80000 DM. Ich war jedenfalls mit einem blau­en Auge davongekommen; ich erfuhr von anderen Studenten, die deswegen ihr Studium aufgeben mußten. Ich war empört, daß man die Naivität und Leichtgläubigkeit von Studenten für diese dunklen Machenschaften ausnutzte. Und Paco, den ich so sehr geschätzt hatte, sah ich danach nie wieder.
Der Anstand reicher Leute reicht halt immer nur so weit, wie ihre materiellen Interessen nicht tangiert werden. Sie können liebenswert, charmant und eventuell auch großzügig sein, kön­nen ihre Bildung herauskehren, so weit vorhanden, aber irgend­wann kommen immer ihre Wolfszähne zum Vorschein. Aber sie rei­ßen immer nur dort, wo sie die stärkeren zu sein glauben, denn ihre Feigheit ist ganz außerordentlich. Zeigt man ihnen die Zähne, scheißen sie sich ins Hemd.
Einen typischen Fall erlebte ich ich Freiburg. Ich arbeitete auf einer Tankstelle, mit dessen Chef ich mich ausnehmend gut verstand. Neben dem Auftanken machten mir Ölwechsel, Abschmie­ren, Reifenwechsel u. dgl. Nach 17 Uhr war ich meist allein bis zum Schluß um 20 Uhr.
Die Tankstelle gehörte dem Privatbankier Krebs, einem der reichsten Männer Freiburgs, ein Widerling, wie er im Buche steht, der einen seinen Söhne bereits in den Tod getrieben hatte. Ich war gerade dabei, die Garage zu schließen, als er zwei Minuten vor 20 Uhr mit seinem dicken Mercedes zum Tanken auf den Hof gefahren kam. Ich wußte zwar, wer er war, da er mir aber nie vorgestellt worden war, kannte ich ihn offiziell nicht. Er sah mich rauchen, was uns in der Garage erlaubt war, und brüllte mich an wie ein Ochse. Damit war er bei mir an den Richtigen geraten. Vor den letzten Kunden machte ich ihn fer­tig: "Was fällt dir altem dreckigen Schwein ein, hier so rum­zubrüllen. Wer bist du Scheißer überhaupt? (Dabei klappte ihm schon der Kiefer herunter.) Wenn du nicht sofort dein Maul hältst und verschwindest, dann hau ich dir eine in die Fresse, daß du rüber in deine alte Mistkarre fliegst." Und er, ein Bulle von einem Kerl, machte einen Satz rückwärts, flitzte zum Auto und war wie der Blitz verschwunden, unter dem Gelächter der Kunden, die diesem stadtbekannten Ekel auch nicht wohlge­sonnen waren.
Am nächsten Morgen kam ich zur gewohnten Stunde auf den Hof und, wie groß war mein Erstaunen, mein Chef, der freute sich diebisch. Er war natürlich von Krebs sofort angerufen worden, der meinen umgehenden Rauswurf verlangt hatte. Aber mein Chef dachte nicht daran, was ich ihm hoch anrechnete. Schließlich konnte ich mich darauf berufen, den Flegel überhaupt nicht gekannt zu haben.
Ähnliches spielte sich, ebenfalls mit einem Bankier, in Ham­burg und mit einem Großkapitalisten in Stockholm ab, die beide glaubten, ihre Untergebenen wie ein Stück Dreck behandeln zu können. Droht man ihnen Prügel an, dann treibt ihnen ihre Feigheit den Angstschweiß auf die Stirn. Sie rächen sich dann auf ihre Weise, indem sie ihre Machtmittel spielen lassen und einen rausschmeißen. Aber das war es mir immer wert, denn das, was sie von mir zu hören bekommen haben, das haben sie weder vorher noch nachher gehört und das kauft ihnen kein Schwein mehr ab.
Zu meiner großen Zufriedenheit habe ich diesen Angstschweiß auch einmal auf der Stirn des Herrn Genscher gesehen, zumal ich daran nicht unbeteiligt gewesen bin. Zur 700-Jahrfeier der Universität Tübingen, das mit einem großen Symposium über Süd­ostasien unter Anwesenheit der Außenminister aller ASEAN-Staa­ten verbunden wurde, schickte man mich vom NDR mit einem Ü-Wagen hin. Gleichzeitig fand eine Gegenveranstaltung der indo­nesischen Studenten statt, zu der ich als Gastredner eingela­den war.
Da zu allen öffentlichen Auftritten der Außenminister von den Studenten Demonstrationen angekündigt waren, verlegten die Deutschen schlauerweise ständig die Termine. Aber siehe, die Demo war jedesmal zur Stelle. Es war wie die Geschichte vom Hasen und dem Igel: Ich bün oll da. Da die Journalisten natür­lich von diesen Verschiebungen unterrichtet wurden, konnte ich das immer gleich weitergeben. Und beim großen Empfang aller geladenen Außenminister durch Genscher in der Stadthalle hatte sich auch wieder eine kleine Demonstration eingefunden, die völlig friedlich verlief, lediglich Schlagworte gegen Malik, den Vertreter des faschistischen Indonesien schrie. Die Stu­denten durch die Polizei wegknüppeln zu lassen, hätte schlecht ausgesehen. Also bahnten sich die Herren den Weg durch die Menge und schweißgebadet gingen sie an uns Journalisten, die wir drinnen warteten, vorbei. Ich gönnte es ihnen von Herzen.
Im Verlauf der ganzen Feier ereigneten sich noch ein paar Din­ge, die nicht der Pikanterie entbehrten. Beim Festakt hieß irgendjemand die hohen Herren willkommen. Genscher ganz vorne, rechts neben ihm der indonesische Außenminister Malik und links ein Mann, den ich nicht kannte. Ich fragte einen Kolle­gen, ob das, so wie der aussieht, ein Geheimdienstmann sei. "Wo denkst du hin, das ist der Verleger Erdmann!" Soso, da hatte ich mich wohl getäuscht.
Am letzten Tag der Feierlichkeiten nahm mich ein Kollege von der dortigen Presse in einer Kneipe auf die Seite. "Weißt du, wer der Erdmann eigentlich ist?" Nein, ich kannte ihn nur als Chef eines florierenden Verlages, der recht aufwendig gemachte Bücher verlegte, Länder-Anthologien und Reprints bedeutender deutscher Forscher und Entdecker. Und ich wußte, daß er am Zustandekommen des Südostasien-Symposiums einen entscheidenden Anteil hatte. "Nun, ich will es dir erzählen. Wir können hier darüber nichts schreiben, sonst sind wir sofort unseren Job los, aber vielleicht kannst du ja etwas draus machen." Erdmann war ehemaliger SS-Mann, hatte sich nach dem Krieg eigenmächtig einen Doktortitel zugelegt, weswegen er verurteilt wurde, war dann zum Chef der Ostspionage mit ihrer Zentrale in Berlin aufgestiegen, hatte irgendwann dann den Verlag gegründet, der durch die staatlichen Garantieabnahmen, die ihm seine Kumpane Kiesinger & Co. zuschanzten, außerordentlich florierte. Der Kollege gab mir auch gleich noch einige Dokumente mit auf den Weg. Nun, ich machte was draus. Ich breitete mein Wissen ge­nüßlich aus, was ein wütendes Protestschreiben Erdmanns an den NDR-Chef zur Folge hatte, in dem er versuchte, mir am Zeug zu flicken, was aber leicht zu entkräften war. Die Formulierung des Antwortschreibens wurde im übrigen mit überlassen.
Bald danach wurde Erdmann auf dem Flughafen Stuttgart wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe verhaftet und verschwand hinter Gittern. Daraufhin hörte ich nur noch, daß der Verlag verkauft worden sei. Möglicherweise sind ja durch meinen Bei­trag auch die Blicke der neugierigen Herrn vom Finanzamt auf diesen sauberen Herren gelenkt worden. Aber vielleicht bilde ich mir das ja auch bloß ein.
Auf dem Rückweg von meiner ersten Spanienreise fand eine für mein weiteres Leben entscheidende Begegnung statt. Ich nahm den Umweg über die Schweiz und besuchte in Zürich eine Frau, die ich mit 16 Jahren in München kennengelernt hatte. Beim Besuch der Pinakothek war sie mir aufgefallen und ich war sprachlos angesichts ihrer Schönheit. Ich wartete draußen ne­ben meinem Raderl, um sie noch einmal zu sehen, denn nie im Leben hätte ich gewagt, sie anzusprechen. Als hätte sie genau gewußt, daß ich warte, kam sie lächelnd die Treppe herunter, direkt auf mich zu und sprach mich an. Wir machten einen klei­nen Spaziergang, weil sie mit ihrem Mann verabredet war und nicht viel Zeit hatte. Als sie ging, blieb ich versteinert zurück, als hätte sie, die vor Vitalität und Sinnlichkeit sprühte, alle meine Lebensgeister mit sich fortgenommen. Ihre Klugheit, ihre hinreißende Stimme, ihr Selbstbewußtsein hatten mich in ihren Bann geschlagen. Seit jener Zeit schrieben wir uns regelmäßig. Aber erst mit 21 Jahren brachte ich den Mut auf, sie zu besuchen.
Sie war tatsächlich zuhause und als ich endlich vor ihrer Vil­la stand und klingelte, klopfte mein Herz bis zum Hals. Und dann öffnete sie und lachte und wir fielen uns in die Arme und es war, als hätte es die fünf Jahre Zwischenzeit nie gegeben. Sie nahm mich bei der Hand, führte mich in das Haus und mit ihrer so wohlklingenden, zärtlichen Stimme stellte sie mich ihrem Mann vor. Ein wunderbarer Typ und eine ebenso starke Persönlichkeit wie sie, den ich sofort in mein Herz geschlos­sen habe. Besonders liebte ich ihn, wenn er Musik machte oder dirigierte. Durch äußerste Disziplin sah sein Gesicht wie in Granit gemeißelt aus, wodurch dessen Schönheit noch mehr her­vorgehoben wurde. Und er machte keine Mätzchen, wie das allzu viele Dirigenten so gerne tun.
Irgendwann führte mich meine Freundin in ihr Schlafzimmer und wir liebten uns bis in die frühen Morgenstunden, mit einer Leidenschaft und Besessenheit, wie ich sie selten erlebt habe. Und sie erzählte mir von ihrem Konzept des Zusammenlebens, das sie gemeinsam mit ihrem Mann entworfen hatte. Einander in tie­fer Liebe zugetan, vermieden sie dennoch, sich gegenseitig Fesseln anzulegen. Dadurch hatten sie es auch nicht nötig, einander zu betrügen und zu belügen. Durch die Freiheit, die sie dem anderen ließen, wurden sie selbst frei. Und ihre Liebe wuchs. Als ich diese Frau 33 Jahre später wiedertraf und sie nach ihrem Mann fragte, sagte sie spontan und aus tiefem Her­zen: Oh, ich liebe ihn jeden Tag mehr.
Hier hatte ich endlich das Modell des Zusammenlebens gefunden, das mir immer vorgeschwebt hatte. Mir war seit langem klar, daß die Institution der Ehe versagt hatte - in welchem Ausmaß und in welch gewaltigen Zeiträumen, das wurde mir erst später deutlich. Ich habe nie verstanden, wieso die Menschen angesichts eines solch eklatanten Versagens nicht nach neuen Modellen suchten. Es ist, als würden sie Häuser bauen, die bei jedem Windstoß umfallen, aber eisern an dem festgelegten Haus­typ festhalten. Natürlich weiß ich, daß die Ehe oder monogame Kleinfamilie, wie sie heute in Mode kommt, vor allem der Kir­che und dem Staat nützlich ist. Trotzdem ist es erstaunlich, daß die Menschen, obwohl sie bis zum Hals in der Scheiße stecken, nicht versuchen herauszukommen. Aber zu Anfang, wenn sie jung sind, glauben ja alle, daß sie selbst etwas ganz Besonde­res seien, daß sie die große Ausnahme sein würden und es be­stimmt schaffen würden. Später schlagen sie schicksalsergeben die Augen auf und sagen: "Naja, wir sind ja auch mal jung ge­wesen und haben unsere spinnerten Träume gehabt. Aber das legt sich mit der Zeit." Diese miesen Scheißer!
Zweimal lebte ich über längere Zeiträume mit Frauen zusammen und zweimal scheiterte ich letztendlich, wobei man bedenken muß, daß sich einer solchen Beziehung eine unendliche Zahl gesellschaftlicher Widerstände entgegenstellen. Trotzdem kann ich sagen, daß diese Gemeinschaften jedes Mal von unendlich mehr Liebe und Zärtlichkeit und Aufrichtigkeit und Solidarität geprägt waren, als alle Ehen zusammengenommen, die ich je ken­nengelernt habe,
Die 68-er Generation hat ja etwas Ähnliches versucht, aber das glitt ganz schnell in Libertinage ab, womit man nach der Okto­berrevolution in Rußland auch zu kämpfen hatte. Theoretische Gleichheit schafft noch lange keine praktische Gleichheit, vor allem nicht nach ein paar tausend Jahren Patriarchat. Deshalb waren trotz der liberalsten Sexualgesetze in der damaligen Sowjetunion die Frauen die Leidtragenden. Die Typen schnulzten den Weibern was vor, schwängerten sie und waren auf Nimmerwie­dersehen verschwunden. Und das passierte hunderttausendfach. Als dann das Pendel zurückschlug und Stalin wieder bürgerli­che, d.h. reaktionäre Ehegesetze einführte, war bei uns natür­lich die Schadenfreude groß. Da sieht man mal wieder, daß al­les andere nicht funktioniert, lautete der Refrain. Genau wie nach dem Scheitern der 68-er Experimente.
Derlei Experimente sind heute in den Zeiten von Aids, dieser vom Papst herbeigebeteten und von bigotten oder zynischen Wis­senschaftlern womöglich herbeiexperementierten `Lustseuche', unendlich viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich geworden. Man kann also getrost zur Tagesordnung übergehen und für die nächsten 1000 Jahre weiter im Ehesumpf herumstampfen. Auch wenn bald gar nichts mehr funktioniert, nicht einmal mehr das Zeugen und Gebären von Kindern. Aber man scheut nicht vor den ekelerregendsten Praktiken wie der künstlichen Insemination, in vitro-Geburten und Leihbäuchen zurück. Jede moralische De­pravation und Verkommenheit läßt sich halt von unserer christ­lichen Gesellschaft immer wieder mühelos übertrumpfen.
Zu meinem Lebenskonzept gehörte auch, daß ich mich sehr früh für das einfache Leben entschied, d.h. mit einem Minimum aus­zukommen, um Zeit für andere Dinge und für das Reisen zu ge­winnen. Ich wollte mich nicht in den Konsumstrudel hineinzie­hen lassen. Viele Leute sind der Meinung, daß ich asketisch lebe. Ich selbst habe nicht das Gefühl, daß mir etwas Wesent­liches entgangen ist. Als ich 1962 aus dem nordschwedischen Urwald kam, wo ich drei Monate lang als Holzfäller gearbeitet hatte und mitten im Wald in einer einfachen Holzbaracke an einem Bach gelebt hatte, lief ich durch Stockholm und schaute mir verwundert all die Geschäfte an. Ich fragte mich: Brauchst du irgendetwas davon? Nein, ich brauchte nichts und wollte nichts. Und so geht es mir heute noch. Ich kann mich durchaus an schönen Dingen erfreuen, ohne sie besitzen zu müssen. Die einzigen größeren Anschaffungen in meinem Leben waren immer Bücher und Schallplatten und gebrauchte Autos. Auch den Kauf von Klamotten habe ich immer auf ein Minimum beschränkt. Ei­gentlich habe ich stets bedauert, daß es keine Kleidung gibt, die ein Leben lang hält. Kaum hat man sich an ein Kleidungs­stück gewöhnt, schon ist es kaputt und man muß was Neues kau­fen.
Für Afrika hatte ich mir zwei paar gleiche Hosen und zwei hellblaue, leichte indische Leinenhemden gekauft. Ich war also scheinbar immer gleich angezogen. Der große Vorteil war der, daß ich jeden Tag gezwungen war, mein Hemd durchzuwaschen und sich keine Wäscheberge anhäuften. Als wir ein paar Wochen bei einem arabischen Freund mitten in Tanzania verbrachten, nahm er mich eines Abends beiseite und bot mir aus seinem umfang­reichen Vorrat an Hemden einige zur Auswahl an. Ihm hatte sich unlogischerweise im Kopf die Idee festgesetzt, daß ich nur ein paar Hosen und Hemden hätte.
Wir wehrten uns auch lange gegen jede Art von Maschinen im Haushalt, selbst gegen Waschmaschinen. Erst Mitte der 70-er Jahre kam eine solche ins Haus, d.h. sie war schon da. Die Vormieter hatten sie im Garten stehen lassen. Aber ich mußte sie erst reparieren und ich war mächtig stolz, sie zum Laufen gebracht zu haben, ohne jemals in meinem Leben so ein Ding angefaßt zu haben und ich habe ihren Nutzen seither eingese­hen. Allerdings sind wir die beiden Jahre in Afrika auch ohne ausgekommen. Jeder in der Familie wusch seine Klamotten von Hand und das tue ich hier in Spanien auch wieder seit einem Jahr. Die Waschmaschine hat uns jedoch nicht dazu verführt, unsere normale Reinlichkeit ins Maßlose zu übertreiben. Leute, die noch vor 20 Jahren alle 7 Tage ihr Hemd gewechselt haben, müssen das heute alle 7 Stunden tun, auch wenn alle zwei Tage unter normalen Bedingungen völlig ausreichend ist. Auch von sogenannten Grünen wird auf diese Weise maßlos mit Wasser, Energie und Waschmitteln umgegangen. Sie trösten sich damit, daß das Waschmittelpaket den grünen Punkt trägt.
Auch die ganzen Elektromaschinen, die man im Haushalt haben muß - wir hatten sie nicht. Geschirrspülmaschinen, die ganz besonders die Umwelt verschmutzen, besonders viel Wasser und Energie verschwenden, wir brauchten sie nicht. Ich mache auch heute noch jede Wette, daß ich jeden Abwasch schneller, ökono­mischer und sauberer von Hand mache. Nun ja und ein Fernseher kam sowieso nie in Frage. Ich habe die Dinger von der ersten Stunde an gehaßt. Als ich in den 50-er Jahren zu einem Freund kam, prunkte da so ein Monster mitten in der guten Stube, mit der ganzen Familie drumherum versammelt und alle machten `Pssst! Psst!'. Und eine Unterhaltung kam nicht zustande. Nie mehr habe ich jenes Haus betreten.
Auch präfabriziertes Fressen kam bei uns nicht auf den Tisch. Selbst das Müsli machten wir uns jeden Morgen selbst. Wir kauften immer frisches Gemüse und zwar säsongemäß, d.h. keine grünen Bohnen im Winter oder Erdbeeren im Herbst. Ein Mittag­essen läßt sich in einer halben Stunde aus frischen Sachen herstellen, ein Essen, das schmeckt und gesund ist. Ich konnte nie verstehen, wie man tagtäglich den Saufraß von Fertiggerichten hinunterschlingen kann.
Natürlich spielt der Zeitfaktor eine Rolle. Es dauert etwas länger, Gemüse zu putzen als eine Dose zu öffnen. Eine Hose zu stopfen als eine neue zu kaufen. Selbst einen Kuchen zu backen als um die Ecke zum Bäcker zu rennen. Die Waschmaschine oder das Auto oder das Fahrrad selbst zu reparieren als es in die Werkstatt zu bringen. Aber alles neu zu kaufen oder in die Werkstatt zu bringen, das kostet ja auch und zwar täglich mehr. Und täglich müssen die Leute mehr schuften und rackern und mehr Überstunden kloppen, um ihren `Standard' halten zu können. Und ich bin überzeugt, daß die Menschen sich selbst dadurch sinnlicher Erfahrungen berauben und auch der Erfolgs­erlebnisse.
Freiburg wurde für mich die Stadt der Liebe. Ich halte den alemannischen Frauentyp für etwas ganz Besonderes, wie man ihn im übrigen Europa nicht wiederfindet. Abgesehen von der Schön­heit der Frauen haben sie großes Selbstbewußtsein und Klugheit, gepaart mit Sinnlichkeit und Zärtlichkeit. Und Mut. Sie lehnen sich gegen die Autoritäten der Schule und selbst der Internate auf, gegen Behörden und Chefs, und auch gegen die Eltern, wenn die sich ihrer Liebe entgegenstellen. Ich könnte mir denken, daß es in jener Gegend sehr viel Hexenver­brennungen gegeben hat. Denn es ist der Frauentyp, den die Pfaffen fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
In Freiburg traf ich zum ersten Mal eine Frau, mit der ich zusammenleben wollte. Dazumal war es allerdings für ein unver­heiratetes Paar nicht einfach, eine Bude oder Wohnung zu fin­den, zumal in dem erzkatholischen Freiburg nicht. Wurden wir doch schon angepöbelt, wenn wir schmusend und eng umarmt durch die Straßen liefen. Nun, wir fanden immer irgendetwas und leb­ten einige Jahre zusammen, auch in Schweden, in der Schweiz und in Spanien. Aber wir waren zu jung, zu dumm und unerfah­ren, als daß dieser unser beider erster Versuch von Dauer hät­te sein können. Die Trennung war für beide Teile sehr schmerz­lich und endete für mich in einem mißglückten, weil schlecht geplanten Selbstmordversuch. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich das bedauern soll oder nicht.
Ein großes Problem war es, in der Beamten- und Rentnerstadt Freiburg einen Job zu bekommen, und wenn, dann wurde er ganz außerordentlich mies bezahlt. Das Studentenwerk war ein Sau­laden, so daß man bei der Arbeitssuche auf sich allein gestellt war. Wenn die Situation zu schlecht war, und das war sie häufig, mußte ich nach Hamburg auf Jobsuche gehen. Meine interessanteste Arbeit in Freiburg war ohne Zweifel in der Kerzenfabrik Birmelin. Der alte Birmelin hatte sich auf Altar­kerzen spezialisiert und ein Patent entwickelt, durch das die teure Kerze selbst erhalten wurde. In ihrem hohlen Inneren steckte ein Alumuniumrohr mit Feder, in das billige Stearin­kerzen gelegt werden konnten, die an Stelle der großen, teuren Prachtkerzen abbrannten. Irgendetwas gab es dort immer zu tun, entweder an den Drehbänken der Fabrik oder im angeschlossenen Sägewerk oder wir lieferten die Kerzen aus, bevorzugt nach Frankreich, Belgien und Oberbayern. Auf diese Weise lernte ich das ganze nördliche Frankreich, von Metz bis Rouen, von Orlé­ans bis Dünkirchen kennen, Dorf für Dorf und Stadt für Stadt.
Und natürlich die Geistlichkeit, vom kleinen Landpfaffen bis zu den Bischöfen. Wie wenig ganz einfache Menschlichkeit war da anzutreffen. Boshaftigkeit, Verlogenheit, Geschwätzigkeit, Eitelkeit und Unsauberkeit und - Geiz, haarsträubender Geiz. Man hatte die Ware geliefert, montiert, den alten Schrott ab­montiert, und wenn es ans Bezahlen ging, dann sträubten sie sich wie Katzen, die ins Wasser sollen. Es gab oft stundenlan­ge Diskussionen mit Drohungen, heiligen Schwüren und Verspre­chungen. Am Ende einer solchen Marathonsitzung brachte es etwa der Bischof von Rouen fertig, einige Säcke voll Münzgeld aus der Kollekte anzuschleppen, das der heilige Mann und ich stun­denlang zählen mußten.
Als die Kerzenfabrik zum dritten Mal völlig niederbrannte, war ich arbeitslos. Der einzige Ausweg war, den Taxischein zu ma­chen, da Taxifahrer ständig gesucht wurden; die Rotation war sehr groß, weil die Bezwahlung besonders schlecht war. Man war darauf angewiesen, den Boss und die Gäste zu bescheißen, um einigermaßen auf die Kosten zu kommen. Ein beliebter Trick war, bei nächtlichen Fahrten nach außerhalb, dieselbe Strecke rückwärts zurückzufahren, weil die Uhr dann ebenfalls rückwärts lief und man auf diese Weise eine Fahrt für die ei­gene Tasche frei hatte. Allerdings mußte man dann einen Kolle­gen bitten, einem den Kopf wieder zurechtzurücken.
Mein prominentester Fahrgast war Heidegger. Eine miese kleine Ratte, für den ein Taxifahrer weniger als Luft war. Hätte mir das Taxi gehört, hätte ich liebend gerne zu ihm gesagt: Einen alten Nazi wie Sie fahre ich nicht spazieren. Aber seinetwegen den Job zu verlieren, war mir die Sache nicht wert.
Die Uni sah ich zu jener Zeit immer seltener von innen. Außer dem berühmten Romanisten Hugo Friedrich, der aber ein Lackaffe und von jeder Menge Arschkriechern umgeben war, dessen Vorle­sungen mich außerdem langweilten, hatte die Uni mir nichts zu bieten. Nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, sie ohne Abschluß und akademischen Grad zu verlassen, was ich nie bereut habe.
Viel wichtiger waren mir damals eine Gruppe von Künstlern, etablierten und weniger etablierten Malern und Bildhauern, angehenden Dichtern und Schriftstellern, um die sich immer eine Menge Bürger mit einem Hang zum Bohemienhaften sowie Halbwelttypen scharten. Unter den Künstlern gab es einige, die der alten KPD vor ihrem Verbot angehört hatten, und etliche, die später in der DKP, der Neugründung, eine Rolle spielen sollten. Da die meisten Freunde sehr viel älter waren und über entsprechend mehr Lebenserfahrung verfügten, habe ich ihnen durch die endlosen Diskussionen über Kunst, Literatur und Po­litik außerordentlich viel zu verdanken. Wir alle waren sehr radikal und das Wenigste konnte in unseren Augen bestehen. Wir machten so ziemlich alles nieder. Dennoch war ich eigentlich ständig unzufrieden. Immer nur diskutieren, quatschen und klu­ge Reden halten, das konnte nicht alles sein. Da fehlte irgendetwas. Es dauerte noch Jahre, bis ich dahinter kam, was: Die Praxis.
Die Praxis lernte ich in Schweden kennen, durch eine Kette glücklicher Umstände. Meine Freundin und ich beschlossen 1966, für ein paar Wochen nach Schweden zu fahren, das Land, das wir beide von früheren Begegnungen her kannten und liebten. Nun, aus den paar Wochen wurden zwei Jahre, und als wir nach Deutschland zurückkehrten, waren wir nicht mehr zu zweit, son­dern zu dritt, da im Allmänna BB in Stockholm unsere Tochter zur Welt gekommen war.
Schweden kannte 1966 noch nicht die rigiden Bestimmungen, wo­nach ein Ausländer vor dem Betreten des Landes einen Nachweis für seinen Unterhalt oder eine Beschäftigung erbringen mußte, d.h. man konnte sich im Land einen Job suchen. Auf diese Weise lernte ich zwei große Betriebe kennen, Skogaholms Bröd und Gustafsberg.
Zur selben Zeit befand sich die schwedische Vietnambewegung auf ihrem Höhepunkt. An den Demonstrationen und den Diskussio­nen in der Innenstadt beteiligte ich mich aktiv und lernte dadurch die unterschiedlichsten Leute kennen, Alte und Junge, deren Solidarität und Herzlichkeit tiefen Eindruck auf mich machten. Einen entscheidenden Anstoß erhielt ich von einem jungen Studenten, dessen Namen ich völlig vergessen habe, falls ich ihn je gewußt habe, mit dem ich mehrere Diskussionen in einem Café der Innenstadt hatte und der mich überzeugte, der `Clarté' beizutreten, der studentischen Organisation der KFML.
Damit trat ein neues Problem auf. Ständig stieß ich auf den Namen Marx und kannte nichts von ihm. Da ich mich mit den Zi­tatbrocken nicht zufrieden gab, besorgte ich mir das `Kapital'. Und damit begann für mich eine der aufregendsten Entdeckungen meines Lebens. Wir hatten eine kleine Stuga in Saltarö gemietet und ich arbeitete schon in Gustafsberg. Schichtarbeit am Fließband. Und anschließend begann ich mit 30 Jahren eine Art zweites Studium. Ich las Zeile für Zeile des Kapitals, alle drei Bände, rechnete jede einzelne Gleichung nach und kontrollierte die Angaben, las ganze Absätze meiner Freundin vor und diskutierte sie mit ihr. Außerdem erlebte ich tagtäglich die Probe aufs Exempel in der Fabrik. Das Kapital war für mich der Kommentar zu meiner Schufterei, wie er aktu­eller nicht sein konnte. Das glasklare Denken von Marx, sein unübertrefflicher, geradezu moderne Stil, seine beißende Iro­nie und sein Humor nahmen mich sofort gefangen. Wenn ich spä­ter las, wie Hopper & Co Marx widerlegten, konnte ich immer nur lachen. Entweder hatten sie ihn nicht gelesen oder nicht verstanden oder - was wahrscheinlicher ist - wollten ihn nicht verstehen.
Ich erweiterte meine Kenntnisse durch die Lektüre von Lenin, Trotzki, Lassalle, Landauer, Bakunin, Luxemburg, Liebknecht, Bebel, Stalin und Mao. Und erst bei Mao fand ich ein tiefes Verständnis, eine echte Geistesverwandtschaft zu Marx. Beide, sowohl Marx als auch Mao, veränderten mein Leben.
Dies war der eine Strang. Der zweite waren all die großartigen schwedischen Schriftsteller, denen ich enorm viel zu verdanken habe. Schweden hat eine ganz einzigartige proletarische Lite­ratur, mit Strindberg als Portalfigur. Hierzulande kennt man ja hauptsächlich den `verrückten' Strindberg mit seinen Ehe­problemen (wer hat die eigentlich nicht?). Der Strindberg von `Der Sohn einer Magd', `Unter französischen Bauern', `Das rote Zimmer', `Die gotischen Zimmer', `Schwarze Fahnen' etc., der ist hier weithin unbekannt. Und das ist der eigentliche Strindberg, der politische Strindberg, der Aufrührer, der ständig gegen den Stachel lökte, der sich mit Gott und der Welt anlegte, vor allem mit der Obrigkeit, der aber vom Volk über alles geliebt wurde.
Strindberg also und Moberg, der große Ivar Lo-Johansson, der in der ganzen Welt gelesen wird, außer bei uns, weil seine 80 oder 90 Romane, Erzählungen, Essays und Streitschriften bei uns nicht zu haben sind. Kjellgren, Lundquist, Jonson und Moa Martinsson, die Frau von Harry Martinsson, die ich für wesent­lich besser halte. Und Fridegard und Ekelöf und der so jung verstorbene Dan Andersson. Und die modernen wie Bunny Ragner­stam, Augustsson etc. Und natürlich Jan Myrdal, der in der schwedischen Literatur eine Sonderrolle einnimmt. Seine `Reise nach Afghanistan' war für mich ein eminent wichtiges Buch. Da reiste ein Europäer mit offenem und vorurteilsfreiem Blick, dessen Sympathien immer auf Seiten der Unterdrückten waren, der mit seinem überragenden Intellekt die Herrschenden scharf­züngig attackierte. Außer Jan Myrdal, von dem vor allem Ende der 60-er einige Bücher erschienen, sind all diese Dichter bei uns weitgehend unbekannt. Hier hat man stets den saft- und kraftlosen Aufguß verlegt, früher den Heidenstam, Gejer etc. und heute den Gustafsson.
Wieder einmal muß ich meine Arbeit unterbrechen und flüchten, weil der Gestank unerträglich wird. In Sichtweite, etwa ein Kilometer Luftlinie, liegt eine Mülldeponie, die eigentlich ständig vor sich hin kokelt. Meistens wird der süßliche Lei­chengeruch vom Wind in die Stadt hinuntergetragen, aber hin und wieder bekommen wir hier oben am Berg auch unser Teil ab. Dort wird alles verbrannt, was anfällt. Von Autoreifen, Ölab­fällen bis hin zu Nahrungsresten und allen Arten von Plastik. Zwar gibt es seit einigen Monaten in einigen Bezirken getrenn­te Container für organische, anorganische Stoffe, für Papier und Glasabfälle, aber die Entsorgung ist noch keineswegs gere­gelt. Außerdem bestehen Pläne für eine moderne Verbrennungs­anlage für den gesamten Kreis, aber mangelnde Geldmittel wer­den den Bau wohl noch einige Jahre hinauszögern. So lange wird die Bevölkerung noch den giftigen, sicher mit Dioxin gut ange­reichertem Qualm einatmen müssen. Was heißt müssen! Würde sie sich entschieden wehren, fände sich auch eine Lösung. Einst­weilen wird nur gemault, wenn man den Dreck richtig dick in die Nase bekommt.
Ein Freund schickte mir `Im Schatten des Granatapfelbaums' von Tariq Ali. Das Buch schildert die Zeit kurz nach der Eroberung Granadas durch die christlichen Könige aus arabischer Sicht. Es ist kein großes literarisches Werk, aber gut geschrieben und für mich, der ich quasi im Zentrum der damaligen Ereignis­se lebe, hochinteressant. Tariq Ali spricht auch ein Problem an, über das auch ich oft nachgedacht habe und vor langer Zeit sogar ein Theaterstück angefangen habe. Hätten die Mauren die Christen mit der gleichen eisernen Faust angefaßt, wie diese umgekehrt, wäre Spanien heute noch moslemisch. Ihre Toleranz ist ihr Untergang gewesen. Andererseits hätte es dann nie je­nes kulturell so hochstehende, tolerante und aufgeklärte mau­rische Spanien gegeben, in dem Mauren, Juden und Christen friedlich nebeneinander gelebt haben.
Die Reconquista ist wohl das erste Beispiel in der Geschichte, wo ein unterworfenes Volk vollkommen ausradiert und verjagt wurde, um sich in den Besitz seiner ungeheuren Reichtümer zu bringen. Das haben weder die Hunnen, noch die Mongolen, noch sonst irgendein Eroberervolk fertiggebracht. Dabei haben die Christen in ihrer grenzenlosen Borniertheit den größten Schatz, den sie eroberten, vernichtet: Die riesigen Bibliothe­ken, in denen ein großer Teil des Wissens des Abendlandes, des Morgenlandes und des klassischen Altertums gespeichert war. Aber darin hatten die Christen ja Übung, nachdem sie ein paar Jahrhunderte früher schon die größte Bibliothek der Welt in Alexandria verbrannt hatten. Und sie führten diese Tradition fort in Amerika und jüngst im Herzen Europas, in Deutschland. Und damals wie heute schauten die braven Untertanen, ein durch die Kirche verblödetes und feige gemachtes Volk, seelenruhig dem Verbrennen der Bücher und der Menschen zu. Nicht ein Volk, nicht ein Bataillon, nicht eine Kompanie, die rebelliert und sich an die Seite der Verfolgten gestellt hätte, um für Recht und Gerechtigkeit zu kämpfen, weder bei den Morisken-Aufstän­den hier in den Alpujarras, noch in Mexico, noch im Warschauer Ghetto, von den barbarischen Gemetzeln in den `Kolonien' ganz zu schweigen. Und da gibt es Leute, die behaupten, wir hätten aus der Geschichte etwas gelernt. Wer wir? Die Christen bestimmt nicht.
Die Menschen tun sich schwer damit, aus der Geschichte zu ler­nen. Mein Vater ist dafür ein gutes Beispiel. Das Ende der Hitlerei war auch das Ende seiner Karriere als Hauptschrift­leiter, wie Chefredakteure dazumal genannt wurden. 1945 zählte er gerade 36 Jahre. Hätte er da nicht umdenken und lernen kön­nen? Begreifen können, daß er den Verlust der Heimat, seines gesamten Besitzes, seines Postens dem Herrn Hitler zu verdan­ken hatte? Daß Hitler mit seinem Krieg ein nicht zu beschrei­bendes Elend über die Menschen gebracht hatte, von den uner­meßlichen Zerstörungen nicht zu reden. Nein, er blieb bis zum Ende seines Lebens stolz darauf, daß ihm der Göring als jüng­stem Chefredakteur die Hand gedrückt hatte. Er war überzeugt, daß die anderen die Schuld hatten, daß die Sache der Deutschen gerecht war, daß die Niederlage nur einer Kette unglücklicher Umstände zu verdanken war. Daß es das nächste Mal besser aus­gehen würde. Aber er war feige genug, bei Nacht und Nebel mit Kind und Kegel abzuhauen und dem Dienstmädchen die Obhut des Hauses zu überlassen. So ein sehr gutes Gewissen hat er wohl nicht gehabt, um sich den Russen zu stellen. Das eine oder andere muß er ja wohl gewußt haben, wie die Deutschen mit je­nen Untermenschen umgesprungen sind. Schließlich standen ihm andere Informationsquellen zur Verfügung als Hinz und Kunz. Wir hatten zuhause sogar ein richtiges großes Radio, mit dem man die ganze Welt empfangen konnte, und nicht einen ordinären Volksempfänger, der mur auf Berlin eingestellt war. (Flucht-Gedicht)
Ich kann nicht sagen, ob er zuhause jemals einen anderen Sen­der hörte. Dazu war ich noch zu jung. Als wir im Januar 1945, einem der härtesten Winter seit 100 Jahren, im Wagen meines Vaters, den er als Versehrter behalten durfte, die Flucht an­traten, war ich gerade acht Jahre alt geworden. Das war wohl das einzige Mal, daß er sich der Insubordination schuldig ge­macht hatte. Hitler hatte alle Brücken sprengen lassen, damit die Leute nicht abhauen konnten. Aber der harte Winter durch­kreuzte diese Pläne. Die Leute warfen Stroh in die Weichsel, damit sie schneller zufror, und ab ging es über das Eis. An das Gefühl im Bauch kann ich mich heute noch erinnern. Das Eis schwankte bei der Überfahrt des schweren PKW wie Wellengang, aber es hielt. Die Böschung auf der anderen Seite kamen wir jedoch nicht hoch; ein LKW mußte uns hochziehen. Und alles mußte in absoluter Finsternis vonstatten gehen. Eine glimmende Zigarette konnte die sofortige standrechtliche Erschießung zur Folge haben. Weil mein Vater wegen der Dunkelheit und des Ei­ses an den Scheiben kaum etwas sehen konnte, fuhr er Schritt. Außer ihm saßen in unserer Karre meine hochschwangere Mutter, meine Schwester, Großmutter und ich. Statt der Sitze gab es zusammengerollte Federbetten und auf dem Dach befand sich ein riesiges Paket, das mit Stricken festgezurrt war, die durch einen Spalt der Fenster liefen, weshalb es im Auto genauso eisig wie draußen war. Er fuhr also Schritt, mein Vater, wäh­rend er und meine Mutter ständig die Scheibe rieben, um ein Guckloch freizuhalten. Er muß wohl irgendwann etwas schneller gefahren sein und einen Panzer übersehen haben. Auf jeden Fall krachte es plötzlich ganz fürchterlich und ich flog gegen ei­nen dieser Stricke, die durch den Wagen liefen und brach mir das Nasenbein. Das Auto hatte sich auch einiges gebrochen, so daß es nicht mehr in der Lage war, aus eigener Kraft weiterzu­kommen.
Von dem Panzer oder einem LKW wurden wir durch den Korridor bis Stargard geschleppt, wo der Schaden behoben wurde. Von dort an bis zur Ankunft Ende März auf Schloß Bristow in Meck­lenburg habe ich nur die unterschiedlichsten Bilder in Erinne­rung. Schnee und Eis und die Leichen von Pferden und Menschen links und rechts der Straße. Die Pferdefuhrwerke der Flücht­linge - sie waren das Haupttransportmittel - endlose Truppen­transporte, Übernachtungen in Hotel- oder Bahnhofshallen, dampfende Gulaschkanonen. Vor allem aber die Bomben- und Tief­fliegerangriffe auf die Flüchtlingskonvois, auf die sich die amerikanischen Flugzeuge spezialisiert hatten. Rausspringen aus dem Auto, in einem Graben, im Wald oder an einer Hauswand Zuflucht suchen, und nach der Entwarnung wieder rein in den Wagen. Oft mehrmals hintereinander in kurzen Abständen. Ich erinnere mich: Eine Hausfrau, die uns üble Schimpfworte nach­schrie, weil wir das Gartentor nicht geschlossen hatten, nach­dem wir an ihrer Hauswand Schutz gesucht hatten. Und in der Ferne war der Donner der russischen Artillerie zu hören.
Oder: Menschen, die versuchten, aus den zu Eis erstarrten Pferdeleichen mit der Axt ein Schnitzel herauszuhacken. Oder: Wir alle in einem Graben, gegenüber auf freiem Feld ein Haus, die Straße verstopft mit Flüchtlingsfahrzeugen, und eine Frau, die mit ihrem Kinderwagen über ein verschneites Feld rannte, während ein amerikanischer Tiefflieger über uns hinwegraste und die Frau zu treffen versuchte. Oder ein LKW direkt vor uns, der von der SS zur Kontrolle angehalten wurde. Am Steuer saß eine Frau, die aussteigen und die Plane hinten lösen muß­te. Sie hatte den Wagen voller Kriegsgefangener. Alle wurden sofort heruntergezerrt, die Frau wurde angebrüllt und gezwun­gen, auf der Stelle umzukehren und Flüchtlinge zu holen. Heute wundert es mich, daß sie nicht umstandslos erschossen wurde.
Bis auf wenige Ausnahmen habe ich aus jenen drei Monaten kaum Worte und Geräusche in Erinnerung, auch nicht von meinen El­tern, nicht von Großmutter, auch nicht von meiner Schwester. Doch, mir fällt ein, daß sie einmal im Wald, in dem wir bei einem Angriff Schutz gesucht hatten, ihr Püppchen verloren hatte und furchtbar heulte. Alle Menschen und Dinge sind wie Schatten hinter Glas. Ich weiß nicht, was wir redeten, was wir im einzelnen taten, was wir aßen. Ich weiß nicht, ob jemals blauer Himmel war. Ich habe nur Dunkelheit, Schnee und Eis in Erinnerung. Als hätte ich unter Schock gestanden. Oder eine Art Trance, was weiß ich. Jedenfalls müssen mich diese Ereig­nisse sehr aufgewühlt haben, sonst hätte ich nicht bis zum 28. Lebensjahr fürchterliche Alpträume gehabt.
Erst von der drei-monatigen Pause auf Schloß Bristow habe ich wieder mehr Erinnerungen. Landschaftlich war es eine Idylle, direkt am Teterower See gelegen, mitten in Mecklenburg. Der Frühling kam; Krokusse blühten und Schneeglöckchen und Veil­chen und auch an Bärenkraut, das wir im Wald fanden, kann ich mich gut erinnern. Es ist wilder Schnittlauch und schmeckt auf Butterbrot wunderbar.
Und fast wäre ich dort abgesoffen. Ich mußte ausprobieren, ob das Eis auf dem Dorfteich noch hält, wozu ich mich umgedreht auf die Knie gelassen hatte und mit dem Schuh auftrat. Es war kein Eis, sondern nur Graupeln. Ich rutschte ab, konnte mich gerade noch an irgendwelchen Grasbüscheln festhalten und hing bis zum Hals im Eiswasser. Meine Schwester rannte nachhause, um meinen Vater zu holen. Der zog mich raus und verabreichte mir die obligatorische Tracht Prügel. Die hat mich wohl so erwärmt, daß ich nicht einmal eine Erkältung bekam.
Jeden Morgen stapften wir durch knöcheltiefen Morast auf der ungepflasterten Dorfstraße in die Zwergschule, wie sie Lübke so liebte. Eine winzige Bude für die `Leibeigenen' des Herrn Grafen, die für die vielen Flüchtlingskinder natürlich nicht ausreichte, weshalb wir im Flur und auf der Treppe bis in den ersten Stock standen und saßen. Nun ja, Ordnung muß sein, Kin­der müssen in die Schule, auch wenn ringsumher Kanonen und Granaten krachen und V2's herumfliegen.
Den Rest der Flucht, von Anfang Mai 45 bis zum Herbst, als wir in Bischofsheim in der Rhön ankamen, habe ich auch nur wieder bruchstückweise in Erinnerung. Zum Beispiel eine Bahnhofshalle am späten Abend, die brechend voll mit Menschen waren, die überall auf der Erde lagerten. Plötzlich wurde am anderen Ende die Tür aufgerissen und zwei Russen kamen rein, schauten sich um und kamen, leicht angetrunken, schnurstracks auf uns in der entferntesten Ecke zugesteuert, wo wir, mein Vater, meine Mut­ter mit dem Säugling im Arm und wir strohblonden Kinder, meine Schwester und ich, schreckensbleich hockten. Denn wir wußten ja alle, daß die Russen Bestien waren. Bei uns angelangt, streichelten sie meiner Schwester und mir über die Köpfe, ga­ben uns jedem ein Stück Schokolade, bahnten sich wieder vor­sichtig zwischen all den herumliegenden Menschen einen Weg und verschwanden. Die Lügenpropaganda der Nazis hatte einen ersten und ernsten Knacks erhalten.
Oder: Plötzlich hieß es, weiter vorn seien die Amerikaner. Übergabe. Und wen sie mit Waffen erwischen, der wird gleich verhaftet. Aus allen Karren und Autos flogen Waffen in den Graben, auch mein Vater warf seine Pistole zum Fenster hinaus. Und wirklich tauchten bald darauf Amerikaner auf, die alle Waffen in den Gräben einsammelten. Aber bis zur Übergabe dau­erte es noch endlos. Und plötzlich kam eine ganze Einheit Ti­gerpanzer, der letzte Schrei der deutschen Waffentechnik, so schnell angebraust, daß die Leute kaum auf die Seite springen oder fahren konnten. Unser Wagen wurde von vorn bis hinten aufgeschlitzt, weil die Panzer sich nicht schnell genug über­geben konnten.
Der Checkpoint lag am Fuße eines weiten, flachen Hügels, der schon bis oben hin mit PKW's vollgeparkt war, die von den Amis konfisziert wurden. Auch mein Vater mußte in die in der Mitte freigehaltene Gasse hineinfahren, aussteigen und einem Ami Platz machen, der die Karre einparken wollte. Nun hatte das Auto aber eine Spezialausrüstung, weil mein Alter ja nur ein Bein hatte. Damit kam der Ami nicht zurecht. Es ratschte und krachte und schließlich stieg er fluchend aus und forderte uns zum Weiterfahren auf. Auf diese Weise hat mein Alter seinen Wagen noch bis 1956 fahren können.
Oder: Wir kamen in das Zentrum einer Stadt gefahren, ich glau­be, es war Schwerin, der voller englischer Panzer stand, mit geöffneten Luken und der Besatzung, die sich sonnte und Vesper machte. Irgendwo platzte ein Reifen - selbst wir Kinder hör­ten, daß es sich um einen Reifen handelte - und wie die Wiesel flitzten alle in die Panzer und schlugen die Luken zu. Sie glaubten, es würde scharf geschossen.
In Schwerin blieben wir einige Wochen und ich weiß noch, wie meine Mutter mir immer, wenn sie mich zum Einkaufen losschick­te, einschärfte, beim Betreten des Ladens `Guten Tag' zu sagen und bloß nicht `Heil Hitler' zu brüllen.
Über all dies wurde zuhause niemals mehr ein Wort verloren. Es war, als hätte es all das nie gegeben. Ich glaube auch nicht, daß meine Eltern untereinander je darüber sprachen. Das Tabu war so strikt, daß auch ich mich nicht darüber hinwegzusetzen wagte. Ich vergaß den Krieg, aber er vergaß mich nicht, son­dern war ständig in meinen Träumen präsent.
Erst Jahre später erfuhr ich, daß Millionen Deutsche von dem Krieg herzlich wenig mitbekommen hatten, außer Einschränkungen im Konsum. Dazu gehörte praktisch die gesamte Landbevölkerung und die Bewohner der Kleinstädte, die nicht bombarbiert worden sind. In dem Städtchen Bad Neustadt wußten die doch gar nicht, wovon man sprach, wenn vom Krieg die Rede war. Ja, man hatte die Bomber zwar gehört, aber sich auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Natürlich hatte es in den Familien Tote und Vermißte gegeben, aber das war weit weg geschehen. Sie hatten nicht den Schlamm und den Dreck, die Toten und ihre zerfetzten Gliedmaßen, den Rotz und die Tränen gesehen. Die Wirklichkeit des Krieges war für all diese Menschen unfaßbar, abstrakt.
Und zu denen, die den Krieg ebenfalls nur aus sicherem Abstand erlebt haben, gehörten auch die hohen Herren der Industrie und Verwaltung und die Parteibonzen sowieso. Der Oberbürgermeister von Freiburg/Bg. etwa und der Erzbischof, SS-Mitglied von der ersten Stunde an, schauten sich das Feuerwerk vom Schauinsland aus an, nachdem sie die Ungeheurlichkeit begangen hatten, Freiburg nicht zur offenen Stadt zu erklären. Und genau dieses Gesindel stand nach dem Krieg wieder auf der Matte - in der ersten Reihe. Das wurden die treuesten Anhänger von dem Lügen­maul am Rhein. Zusammen mit Adenauer betrieben sie den Wieder­aufbau der Armee und der Rüstungsindustrie, die heute wieder eine der größten der Welt ist. Und wieder haben sie alle an jedem einzelnen der 100-200 Kriege verdient, die seit Ende des großen Krieges weltweit geführt wurden. Und sie verdienen noch, ob am Golfkrieg oder dem Balkankrieg. Einen RAF-Fritzen mit seiner Kanone, den erwischen sie, aber wenn ganze Schiffs­ladungen mit Waffen kreuz und quer verschoben werden, dann läßt sich das nur schwer kontrollieren und noch schwerer be­weisen, daß es sich wirklich um Waffen handelt. Aber wir ste­hen fest auf dem Boden der FRGO, der freiheitlich- rechtlichen Grundordnung.
Das Fatale an dem Irrwahn meines Vaters war ja, daß er seine ganze Familie mit hineingerissen hat, d.h. alle krank gemacht hat. Nicht nur ich war ständig krank, sondern alle. Meine äl­teste Schwester starb mit 26 Jahren an einer schweren Zucker­krankheit, die sich mit 12 zugezogen hatte. Der Vater selbst mit 58 Jahren an einem halben Dutzend unheilbarer Krankheiten. Meine Mutter, die ein Leben lang krank war, so krank, daß sie meist nicht arbeiten konnte und ich die Hauptlast tragen muß­te, wurde fidel und gesund und steinalt, als ihr Alter erst einmal tot war. Ich wurde dank meiner Trennung von zuhause gesund, aber meine beiden jüngsten Schwestern konnten die Ban­de einfach nicht durchtrennen und zogen sich schwere chroni­sche Erkrankungen zu.
So etwas ist eigentlich nur in dem System der Kleinfamilie möglich, wo die Kinder, diese armen Schweine, auf Gedeih und Verderb allein zwei Erwachsenen ausgeliefert sind. Wen wundert es, daß Kinder immer öfter zum Messer greifen und ihre Alten massakrieren. Auch wenn sie es verdient haben, so sind letzt­lich auch sie nur arme Schweine gewesen, die in ihrer Unwis­senheit nur verinnerlicht haben, was ihnen selbst widerfahren ist.
Aus diesem Teufelskreis auszubrechen, könnte nur durch Erzie­hung, Erziehung und nochmals Erziehung gelingen. Aber ich er­innere mich sehr gut, wie alle unsere Medienferkel höhnisch quiekten, wenn von den Erziehungsmethoden im China Mao Tsetungs die Rede war. Wenn das Beispielhafte hervorgehoben und zur Nachahmung empfohlen wurde, wenn man sich nicht wie bei uns an Mord und Totschlag berauschte, sich nicht in Blut und Tränen suhlte. Und doch ist das der einzig richtige Weg: Durch das Beispiel wirken. Weil sich die chinesischen Genossen selbst nicht daran hielten, scheiterten sie. In den ersten Jahren nach der Revolution wurden Parteikader für jedes Ver­gehen doppelt und dreifach streng bestraft - bis hin zur To­desstrafe. Und das war richtig, denn niemand wurde gezwungen, ein Kader zu sein. Er hatte also unbedingt ein Vorbild zu sein. Aber am Ende wurde das Beispiel nur noch vorgegaukelt, nicht mehr gelebt. Die Apparatschiks (die Mehrzahl. Wie Hin­ton, Myrdal u.a. belegt haben, gab es rühmliche Ausnahmen.) ließen es sich selbst gut ergehen und schanzten sich gegensei­tig Privilegien zu und meinten, das Volk werde es schon nicht merken. Nun ja, wir wissen alle, wie es ausging: Deng kam an die Macht und stärkte diesem gewissenlosen Gesindel noch den Rücken, machte von allem, was Mao gedacht und gewollt hat, das genaue Gegenteil, unter dem frenetischen Beifall des Westens.
Alle Pädagogen, Soziologen, Politiker und sonstigen Klugschei­ßer sind sich einig, daß den Menschen im allgemeinen und der Jugend insbesondere heute die Vorbilder, die Beispiele fehlen. Aber wo sind sie denn, die Vorbilder? Diese Herren im Frack, korrupt und verlogen? Diese smarten Manager, die in jedem Men­schen entweder den Käufer ihrer Drecksprodukte sehen oder ein Ausbeutungsobjekt? Die Bankiers und Börsianer, die in der Welt nur ein Anlageobjekt sehen, von dem sich Coupons schnipseln lassen? Dieses ganze Gesockse! Pah!
Wie gut läßt sich die Wut der Jugend verstehen. Weil ihr jedes Vorbild fehlt, schlägt sie alles kurz und klein. Werden aus Kindern schon Ganoven, die Omas die Handtasche entreißen oder harmlose Landstreicher auf Parkbänken erschlagen. Die Autos aufbrechen und an die Wand setzen. Die sich volldröhnen und den goldenen Schuß verpassen. Die für einen Schuß den besten Freund verkaufen. Die Ausländer `klatschen gehen' und deren Hütten anzünden und zu Brandmördern werden. Die einem Erweckungspintscher aus den USA hinterherlaufen oder einem Guru vom Himalaya.
Man mag bedauern, daß ihre Wut so fehlgeleitet ist. Würden sie nach Art des Robin Hood die Reichen anzapfen und deren Rolls Royce die Reifen aufschlitzen, würden sie sich viele Freunde machen. Daß sie genau das nicht tun, zeigt nur, daß sie selbst in ihrem anarchistischen Verhalten noch Konformisten sind, die Respekt vor Macht und Reichtum haben. Und das wissen die hohen Herren auch zu würdigen, in deren Augen das Verschwinden die­ser Jugendkriminalität gar nicht wünschenswert ist. Denn im Volk wird die Wut auf diese Jugendlichen entfacht und damit von ihnen selbst, den eigentlich Schuldigen, abgelenkt. Also ist doch eigentlich alles in bester Ordnung.
Heute ist offizieller Herbstanfang, doch ist der Herbst schon vor 14 Tagen mit unglaublicher Plötzlichkeit hereingebrochen. Vor drei Wochen saß ich noch mit Freunden auf der Terrasse, von der Hitze völlig ermattet, darauf achtend, keine unnütze Bewegung zu machen. Oder man kam aus dem Meer und auf dem Weg zur Dusche fing man wieder zu schwitzen an. Und dann kamen die scharfen Winde, entweder der Levante aus dem Osten oder der Poniente aus dem Westen. Und im Nu kühlte sich das Meer enorm ab, so daß man kaum den kleinen Zeh ins Wasser stecken mag. Wurden die Abende und Nächte kühl, so daß man aufpassen muß, nicht eine Erkältung einzufangen, gerade weil es tagsüber im­mer noch außerordentlich warm sein kann.
Der Herbst geht aber nicht, wie bei uns, mit einer Verfärbung des Laubs einher. Man hat eher den Eindruck, als ob durch die Kühle das Laub eine neue Farbe und Frische erhält. Und obwohl es nicht geregnet hat - die paar Tropfen waren nicht der Rede wert - fangen einige wilde Gräser und Blumen wieder zu blühen an. Das ist ein Phänomen. Aus dieser verbrannten und völlig ausgetrockneten Erde können sie doch unmöglich einen Tropfen Feuchtigkeit ziehen. Genügt ihnen die Feuchtigkeit, die der Nachttau spendet?
Heute Nacht - war es ein echter Traum oder ein Wachtraum? -
intensiv an Vilhelm Moberg und an seinen Freitod gedacht. Er ist ohne Wiederkehr ins Meer hinausgeschwommen. Hat er vorher etwas genommen, um die Qualen des Erstickens zu lindern? Ich gestehe, daß ich nach einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch Angst habe, es könnte wieder danebengehen, und zweitens möchte ich Qualen vermeiden. Selbst im Traum war ich mir sicher, daß ich nicht mehr ohne Liebe leben möchte. Nur die Liebe hat mir die Kraft verliehen, überhaupt so alt zu werden. Nach dem Fortgang meiner Geliebten habe ich den Lebenswillen verloren und nichts kann mich mehr trösten. Das Leben ähnelt jenem in meinem Elternhaus. Ich funktioniere mehr schlecht als recht; ich lache und weine und freue mich hin und wieder, aber alles scheint mir so blaß zu sein, wie ein schlechter Farbabzug. Außerdem habe ich Angst, nicht vor dem Tod oder dem Altwerden (damit bin ich bisher ganz gut fertig geworden), aber davor, hinfällig zu werden und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Bei dem Gedanken laufen mir kalte Schauer über den Rücken.
Eine Freundin findet schon den Gedanken an Selbstmord schänd­lich. Sie meint, man könne sich auf tausenderlei Art und Wei­sen nützlich machen, sinnvolle Arbeit leisten, statt einfach das Handtuch zu werfen. Nun ja, was ist sinnvolle Arbeit? Den armen Schwarzen zeigen, wie man Brunnen baut? Das konnten die ein paar tausend Jahre vor uns besser als wir. Feuchtbiotope von ein paar Quadratmetern anlegen? Während allein in den USA jährlich hunderttausende Hektar Feuchtbiotope vernichtet wer­den? Ein paar Analphabeten in Hamburg das ABC beibringen? Wäh­rend hunderttausend neue jährlich die Schulen verlassen? Ich will aufhören, weil es so verdammt defätistisch klingt und ich Defätismus immer gehaßt habe.
Die einzige Zeit, die mir sinnvoll erschien, waren die 68-er Jahre. Zum ersten Mal in meinem Leben gab es mehr als ein hal­bes Dutzend Leute, die ähnliche Gedanken hegten und dafür zu arbeiten gewillt waren. Ich, der ewige Einzelgänger, entdeckte damals meinen Spaß an kollektiver Arbeit. Und noch sinnvoller wäre für mich ein Kollektiv nach Art der Kommunen in China gewesen. Gemeinsam den Aufbau planen und in die Tat umsetzen - vom Haus- und Kanalbau bis zur Terrassierung der Felder und der Errichtung von Werkstätten und Schulen. Musik- und Thea­tergruppen in jedem Dorf. Gemeinsame Feste mit Tanz und Gesang und gutem Essen. Das war der Weg zur Marx'schen Vision vom allseitig gebildeten Menschen.
Doch wie kurz war der Atem der meisten 68-er und auch der chi­nesischen Genossen. Nach kurzem Aufbegehren sanken sie schlapp in die Fernsehfauteuils zurück und widmeten sich der Aufgabe `Bereichert euch'. Wobei Deng noch die Frechheit besitzt, dies als sozialistischen Weg zu preisen. Schon als Deng damals in die USA reiste und sich nicht entblödete, mit Cowboy-Hut vor den Kameras zu paradieren, schauten Joachim Schickel und ich uns nur an und wußten, daß das nichts Gutes verheißt. Trotzdem bin ich nach wie vor der Meinung, daß es richtig von Mao Tse­tung war, das Problem Deng nicht einfach à la Stalin durch Genickschuß gelöst zu haben. Das Problem `Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, die Hauptsache, sie fängt Mäuse' hätte man vielleicht offensiver, weniger dogmatisch, durch gründli­chere Diskussionen mit mehr Witz und Humor angehen müssen.
Dabei fällt mir ein, daß es in den 20-er Jahren in Belgien eine Kampagne gegen die Faschisten gegeben hat, die durch ih­ren Witz vernichtend gewesen sein muß, so daß deren Partei keinen Fuß mehr auf den Teppich bekam. Das sollte man sich gerade heute noch einmal genauer anschauen. Vielleicht könnte man daraus etwas lernen.
Gerade ist ein Buch über den großen schwedischen Fotografen Rune Hassner erschienen mit einem Text von Jan Myrdal. Ein Foto finde ich besonders anrührend: Zwei Frauen, die eine im Dessous, in die Kamera lächelnd, die andere nackt, halb von einer Mauer verdeckt, in die Ferne blickend. Der Titel: Das Hauptquartier der Fremdenlegion in Sidi-bel-Abbés, 1953. Mit anderen Worten: Ein Bordell. Was aus den beiden Schönen wohl geworden ist? Im Lande konnten sie nach der Unabhängigkeit bestimmt nicht bleiben. Also sind sie mit den Besiegten nach Frankreich gegangen, um dort in einem Puff weiterzumachen, wenn sie nicht längst vorher von Krankheiten dahingerafft wor­den sind. So sah die Zivilisation aus, die da von der Grande Nation verteidigt wurde. Siphilisation, wie wir immer zu sagen pflegten.
Wenige Jahre nach diesem Foto, etwa 1958, fiel mir das Buch `La Gangrène' in die Hand, dessen deutsche Fassung von der Regierung Adenauer eingestampft wurde - im Namen der deutsch-französischen Freundschaft. In Paranthese: Es war nicht das einzige Buch, das von den Christdemokraten eingestampft wurde. Die Synchronoptische Weltgeschichte von Peters, die fertig zur Auslieferung an die Schulen in Hessen bereit lag, erlitt das­selbe Schicksal, weil Peters auch alle Aufstände, Rebellionen und Revolutionen aufgenommen hatte. In `Gangrène' wurden die Foltermethoden der Franzosen in Algerien dokumentiert, die denen der SS in nichts nachstanden. Eine entsetzliche Lektüre, die erste dieser Art, die ich neben den Dokumenten über die KZ's in Deutschland kennengelernt habe. Dabei drängte sich mir die Frage auf, ob die Deutschen womöglich nicht die einzigen Ungeheuer auf dieser Welt sind, wie uns glauben gemacht wurde.
Nach `Gangrène' las ich im Laufe der Zeit unzählige andere Berichte, in denen sich jeweils nur die Namen änderten. Die Invasionsarmeen in der jungen Sowjetrepublik; die Amis in den Philippinen und später in Korea und Vietnam; die Holländer in Indonesien; die Engländer in Indien, Burma, Afghanistan und wo immer sie ihren Fuß hinsetzten; die Russen bei der Eroberung Sibiriens; die Belgier im Kongo; die Portugiesen in Angola, Guinea-Bissao und Moçambique; die spanische Oberschicht in praktisch allen lateinamerikanischen Staaten; die Italiener in Äthiopien; die Israelis im besetzten Palästina; und natürlich die Deutschen in ihren Kolonien. Neben den monotonen, ständig sich wiederholenden Methoden von Folter, Mord und Totschlag schälte sich eine weitere Konstante heraus: Diese Verbrechen wurden immer von weißen Christen oder von ihren bezahlten Söldlingen verübt. D.h. die Opfer waren Schwarze, Gelbe oder Rote. Und ihre Zahl muß nach Dutzenden von Millionen berechnet werden.
Und das sind nur die Opfer unmittelbarer Einwirkung von Gewalt. Rechnet man jene Opfer hinzu, die durch Hunger und Mangelernährung, durch Ausnutzung ihrer Arbeitskraft oder durch ihren Einsatz in den Kriegen der Weißen entstanden sind, dann sind es wohl hunderte von Millionen. Es läßt sich also durchaus sagen, daß die weißen Christen die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit sind, neben der alle Seuchen, Pest und Cholera inklusive, verblassen. Hinzu kommen der sy­stematische Diebstahl von allem, was nicht niet- und nagelfest war und die Vernichtung unschätzbarer Kunstwerke. Müßten die weißen Christen das alles zurückgeben, d.h. auch die beiden gestohlenen Kontinente Amerika und Australien, bzw. mit Zins und Zinseszins zurückzahlen, stünden sie nackt und arm wie die Kirchenmäuse da, die versuchen würden, die Meerenge von Gibraltar zu durchschwimmen, um sich in Afrika einen Lebens­unterhalt zu verdienen.
Diese Wahrheiten darf man aber nicht laut sagen, das ist ein Sakrileg. Ich als Nichtchrist, der ein Leben lang unter der Tyrannei der Christen hat leiden müssen, sage sie laut, auch wenn ich als Fanatiker beschimpft werde, was immer die belieb­teste Methode aller Fanatiker war, ihre Gegner mundtot zu ma­chen. Tyrannei? Wie denn, wo denn, was denn? Ja, es ist genau so, wie mir schwarz-amerikanische Freunde immer gesagt haben: Die Weißen, selbst die Wohlmeinendsten, merken gar nicht, wenn sie die Rechte und Gefühle der Schwarzen mit Füßen treten. Und die Christen merken genausowenig, wenn sie Minderheiten unter­bügeln.
Das fängt doch schon bei Kleinigkeiten an, etwa mit dem Glockengebimmel, das einen zu nachtschlafender Zeit weckt. Oder all die Buden, aus denen man rausgeflogen ist (Morgen ist für Sie der erste!), weil ein Mädchen zu Besuch war. Diesen Mist­stücken von Vermieterinnen (es waren tatsächlich immer Frauen) genügte nicht die saftige Miete, die sie verlangten, sondern sie mischten sich auch stets in das Sexualleben ihrer Unter­mieter ein.
Und die Prügel, die ich von dem Leiter eines Sommerlagers be­kam, als ich in meiner Unschuld zwischen den Beinen eines Mäd­chens saß, das wohlgemerkt Hosen anhatte, und verspielt den Kopf zurückfallen ließ. Ich wußte damals nicht und weiß es bis heute nicht, was sich der Typ dabei gedacht hatte. Er muß wohl eine extrem dreckige Phantasie gehabt haben.
Und die Zensur der Filme und Radioprogramme. Jahrzehntelang nach dem Krieg wurde doch jeder nackte Busen überklebt oder weggeschnitten, jede Kritik an der Kirche ausgeblendet. Aber Gewalt ohne Ende. Das schadet den Kindern ja nicht, wenn sie sich frühzeitig dran gewöhnen. Aber einen Fick sehen, das schadet der Seele. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich nur die Gewaltvideo-Spiele in all den Spielhöllen sehe, die voller Kinder sind.
Und die Zensur in den Schulbüchern. Die Kinder werden gezwun­gen, lauter Lügen zu lernen, möglichst auswendig. Das Allerwe­nigste ist wahr, aber schließlich dient das ja einem heiligen Zweck.
Und die Abtreibungen. Damals, in den frühen 60-er Jahren. Das war ein Vergnügen. Natürlich gab es immer und überall, selbst in dem erzkatholischen Freiburg, Ärzte für die Reichen, die ein kleines Mißgeschick behoben. Entsprechend waren ihre Hono­rare. Unerschwinglich für die kleinen Leute und auch für Stu­denten. Wir mußten bis nach Berlin fahren, um einen Arzt zu finden, der einem nicht das letzte Hemd auszog.
Von den permanenten politischen Einflußnahmen der Kirche ganz zu schweigen. Und von der Politik der christlichen Politiker war schon genug die Rede. Nur einen Punkt möchte ich noch be­rühren, den ich besonders empörend finde. Mit Steuergeldern werden die Sozialdienste der Kirchen zu einem außerordentlich hohen Prozentsatz bezuschußt. Die Leistungen schreibt sich die Kirche dann hundertprozentig selbst zugute und besitzt außer­dem noch die bodenlose Frechheit, von Leuten, die in ihren Sozialdiensten arbeiten wollen, den Kircheneintritt zu verlan­gen.
Widerliche Beispiele von Tyrannei der christlichen Kirchen habe ich auch in Tanzania erlebt. Aber ich habe sie nicht ein­mal in meinem Buch über Tanzania niedergeschrieben, weil kein Mensch das glauben würde. Man muß das einfach gesehen und er­lebt haben.
Von einem Rechtsstaat, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben (was auch die gleichen Rücksichtnahmen auf alle seine Mitglieder bedeuten würde), sind wir also himmel­weit entfernt. Selbst unter den Christen soll es ja schon im­mer welche gegeben haben, die etwas gleicher als die anderen gewesen sind.
Die spanische Großfamilie, die einerseits ein Instrument strikter sozialer Kontrolle und Einschränkung des Individuums ist, bietet andererseits allen ihren Mitgliedern ein Maximum an Geborgenheit und Sicherheit, und ist auch die Garantie da­für, daß die Verbindung zum Heimatdorf nicht verloren geht. Bei uns will der jüngst zum Städter avancierte Bauer nach Mög­lichkeit nicht an seine Vergangenheit erinnert werden. Hier haben die Jungen aus Respekt und Verehrung fast immer die El­tern bei sich, wodurch auch die Vergangenheit lebendig gehal­ten wird. Viele meiner hiesigen Freunde erzählen voller Stolz, daß sie unter ärmsten Verhältnissen in gottverlassenen Dörfern aufgewachsen sind, zu denen es vor 20 Jahren noch nicht einmal eine Straßenverbindung gab.
Zwei solcher Dörfer sind Lagos und Los Tablones. Beide Dörfer sind heute beinahe menschenleer. Höchstens ein halbes Dutzend Leute lebt noch dort. Die meisten Bewohner haben die Dörfer in den 50-er und 60-er Jahren verlassen, nicht nur das Dorf, son­dern auch ihre Heimat, auf der Suche nach Arbeit. Viele sind nach Katalunien oder ins Ausland gegangen. Ein Großteil dieser Leute sind heute als Pensionäre zurückgekehrt, wobei einige ihrer Söhne und Töchter zurückgeblieben sind, weil sie im Aus­land Familie gegründet haben.
Juan gehört zu ihnen. Er verbringt vier Tage der Woche in La­gos, drei Tage in seinem Haus in Motril und einige Monate bei seinen beiden verheirateten Söhnen in Frankreich. Er erzählt, welch entsetzliche Armut in dem Dorf noch in den 50-er Jahren zur Franco-Zeit herrschte und wie übervölkert es war. Der Bür­germeister sei ein getreuer Franco- Anhänger gewesen und habe das Dorf nach Kräften ausgebeutet. Und der größte Denunziant sei er auch gewesen.
Aber es hätte ein starker Zusammenhalt geherrscht. Wenn ein Bewohner ein Schwein schlachtete, bedeutete das ein Fest, an dem alle teilnahmen. Es wurde gefressen und gesoffen, getanzt und Musik gespielt, und der Eigentümer des Schweines hatte am nächsten Tag kaum einen Wurstzipfel aufs Brot.
Das Dorf lebte mehr schlecht als recht von Landwirtschaft. Wo immer an den verkarsteten Gebirgshängen eine Krume fruchtbarer Boden zu finden war, wurde eine Terrasse angelegt, mit Hafer, Mandel- oder Olivenbäumen. In dem winzigen Tal neben dem Dorf konnte etwas Gemüse gezogen werden. Ziegen hatte man ebenfalls und ein paar Bienenvölker. Und gewildert wurde natürlich auch nach Kräften. Hier ein Karnickel gefangen, dort einen Vogel geschossen und das größte war, oben in den Bergen eine Gemse zu erwischen. Dennoch mußten zu allen Zeiten viele Männer an­dernorts Säsonarbeit verrichten.
Die 15 km lange Straße habe man auch in gemeinschaftlicher Arbeit gebaut. Eine gewöhnliche Schotterstraße, die nicht ein­mal später von der Regierung geteert worden sei. Und heute ist das nicht mehr notwendig, weil es keine Bewohner mehr gäbe. Man muß eben nur lange genug warten, dann erledigen sich man­che Probleme von selber.
Juan zeigt mir auch die schlichte Schule, heute völlig verfal­len, die er noch besucht hat. Sieht man die vielen eingestürz­ten Häuser in dem Dorf, könnte man meinen, daß es vor Jahrhun­derten aufgegeben worden sei. Dabei liegt es gerade 20 bis 30 Jahre zurück, daß in jedem der winzigen Häuschen Großfamilien lebten.
Aber viele Häuser sind gut erhalten, weil sie von ihren Besit­zern als Wochenend- oder Sommerdomizil benutzt werden. Und einmal im Jahr, am 3. Oktober, dem Fest des heiligen Schutz­patrons treffen sich fast alle früheren Bewohner wieder mit tausenden von Gästen.
Am 5. September fand in Los Tablones das jährliche Fest statt. Drei Tage lang gab es einen kleinen Rummelplatz und Wettkämpfe für Kinder, Feuerwerk, Wettkämpfe im Scheibenschießen, Karten­spiel, im Fußball und Petanca, Pop- und Folkkonzerte, eine riesige Tanzfläche, auf der die Nächte durchgetanzt wurden. Tanzgruppen erwachsener Frauen und junger Mädchen führten wun­derschöne traditionelle Tänze auf und ein alter Mann trug zwi­schendurch seine eigenen Gedichte vor. Junge Burschen kamen zu Pferde ins Dorf hochgeritten, mit der Liebsten hinter sich auf dem Sattel. Aber die meisten, viele Tausende, kamen doch mit Motorrad und Auto, was auf der schmalen Straße zu einem Ver­kehrschaos führte.
Man kann sich natürlich fragen, warum die Bewohner dieser Dör­fer nicht öfters gemeinsam Feste feiern, einfach unter sich, ohne diese Gigantomanie, da sie doch alle melancholisch den vergangenen Zeiten nachtrauern. Das ließe sich dort oben sehr einfach bewerkstelligen. Ein paar Leute, die selbst Musik ma­chen oder meinetwegen ein Radio aufstellen, ein, zwei Krüge Wein und fertig. Es müssen nicht wie bei uns in der Großstadt Straßen gesperrt werden, wofür die polizeiliche Erlaubnis ein­geholt werden muß, es hagelt nicht gleich polizeiliche Anzei­gen, wenn ein bißchen Musik gemacht wird und das Wetter macht einem hier auch keinen Strich durch die Rechnung. Auch wohnen in einer Stadt in einer einzigen kleinen Straße schon ein paar tausend Leute, die mit Getränken zu versorgen, schon logisti­sche Planung erfordert. Aus diesen Gründen sind bei uns alle Ansätze zu den Straßenfesten gescheitert. Was heute unter die­sem Namen firmiert, sind reine Geschäfts- und Konsumorgien. Na ja, vielleicht liegt es daran, daß die Spanier gar nicht so begeisterte Tänzer sind, wie man immer glaubt; daß sie mit Musik allein nicht zufriedenzustellen sind. Es gehört zu einem richtigen spanischen Fest ein Essen, viel zu essen.
Einige Male habe ich hier oben mit den Boule-Freunden kleine Feiern gemacht und immer mußte eine Menge Fleisch organisiert werden und Tomaten und Zwiebeln und Brot und Öl und Getränke, möglichst eisgekühlt, und Holzkohlen zum Grillen. Und der Ein­fachheit halber überläßt man das dem `Veranstalter', der dann noch das Vergnügen hat, das Geld einzutreiben, das Geschirr zu waschen und den Saustall wieder in Ordnung zu bringen. Das macht man dreimal und dann läßt man es. So einfach ist das.
Ich weiß auch nicht, warum sich die Menschen in allem und je­dem das Leben so kompliziert machen. Vor 31 Jahren haben wir in Guardamar del Segura, dreihundert Kilometer weiter nördlich, auch Feste gefeiert. Wir sind in aller Frühe oder abends zum Fischfang gegangen, à la peseta. Ein paar Mann ru­derten mit dem Netz hinaus und kamen in einem weiten Bogen zurück an Land, während die übrigen das andere Netzende an Land festhielten. Dann wurde das Netz gemeinsam eingeholt. Es war jedes Mal mehr als genug für uns drin.
In einem Garten wurde ein Feuer gemacht und ein großer Kessel hingestellt, in den nach bestimmten Regeln eine Schicht nach der anderen gelegt wurde: Öl, Fisch, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch, Fisch, Kartoffeln, Gewürze, Fisch usw. Es gab einen großen Ballon mit Wein und fertig. Der eine oder andere hatte eine Gitarre dabei, es wurde gesungen und getanzt und diskutiert und gelacht. Man mußte keine Gläser haben und keine Teller - jeder bekam einen Löffel in die Hand gedrückt und getrunken wurde direkt aus der Flasche, nach Art der Spa­nier, ohne sie mit dem Mund zu berühren.
Guardamar del Segura war in vieler Hinsicht ein interessantes Dorf. Im Bürgerkrieg war es rot gewesen und die Bewohner hat­ten mit den Grundbesitzern so gründlich aufgeräumt und das Land aufgeteilt, daß keiner nach dem Krieg kommen konnte, um seinen Besitz zurückzufordern. Deshalb war es auch zur Zeit von Franco relativ wohlhabend, zumal der Rio Segura, wie der Name sagt, ein sicherer Wasserlieferant war, die Felder also immer bewässert werden konnten.
Aber die Repression war haarsträubend. Nachdem wir eine Weile beäugt worden waren, öffneten sich uns allmählich die Menschen und erzählten uns alles, was an Schweinereien passierte. Eine beliebte Methode der Franco-Administration war es, in der Nacht zwei Mann von der Guardia Civil mit MP's behangen zu einem Bauern zu schicken, ihn zu zwingen, seine direkt am Strand belegenen Felder kostenlos abzutreten, indem er seine Unterschrift unter ein Papier setzte. Diese Grundstücke wurden dann an Ausländer und internationale Konsortien verscheuert und heute kann sich jeder das großartige Ergebnis dort anschauen gehen.
Der Haß der Bevölkerung auf Franco, auf die Pfaffen und auf die Amerikaner war in Guardamar sehr ausgeprägt. Die Amis bau­ten gerade in der Nähe eine der größten Horchstationen in Eu­ropa. Ab und zu kamen deshalb auch Amis in unser Dorf und führten sich auf - nun, wie Amis sich eben immer aufführen. Sie betraten eine Bar und luden mit großmäuliger Geste alle Anwesenden zum Drink ein. Daraufhin standen regelmäßig alle Anwesenden auf und verließen das Lokal. Das fand ich damals enorm beeindruckend.
Das Appartment unter uns bewohnte ein spanischer Ingenieur, der für den Bau der Horchstation verpflichtet worden war. Ab und zu, wenn wir bei ihm unten zu einem Glas Wein waren und das Gespräch kam auf Franco und die Amerikaner, geriet er so in Rage, daß seine Frau wie ein aufgeregtes Huhn um ihn her­umsprang, ihm den Mund zuhielt, zum Fenster rannte, die Läden schloß, wieder zu ihm, um ihn zu beruhigen. Aber zum Glück gab es in dem Dorf wohl sehr wenig Denunzianten.
Einer meiner speziellen Freunde wurde der asthmatische Wirt im Restaurant am Strand. Irgendwann stieg er in eine Kammer unter dem Dach und holte die verbotenen Bücher von Blasco Ibañez herunter. Auf diese Weise lernte ich einen der großen Aufklä­rer und Schriftsteller Spaniens kennen.
Die Legende berichtete, daß das alte Guardamar durch die Sand­dünen verschüttet worden sei, weshalb irgendwann die wandern­den Dünen mit Pinien und Eukalyptus befestigt und ein
neues Dorf gebaut worden sei. Als ich im vorigen Jahr wider­strebend Guardamar besuchte, hatte man tatsächlich das alte, maurische Dorf gefunden und ausgegraben und den ersten archäo­logischen Park Spaniens eingerichtet.
Ich glaube, in jener Zeit fiel mir auch durch einen Zufall das Buch `La Chanca' von Juan Goytisolo in die Hände. Es war dies eine Art Reisebericht und Sozialreportage, die er in der Mitte der 50-er Jahre in Almeria gemacht hatte. Das Buch wurde au­genblicklich verboten und der im Pariser Exil lebende Autor mit Haßtiraden bedacht. `La Chanca' und `Reise in Afghanistan' von Myrdal haben den größten Einfluß auf mich gehabt.
Aber nicht nur mir hat `La Chanca' ungeheuer viel bedeutet. Als ich Ende der 80-er Jahre eine Reportage über La Chanca, das Stadtviertel der Armen in Almeria machte, erfuhr ich von ihren Bewohnern - Sinti und Roma und Spanier - daß das Buch im Untergrund zirkulierte und außerordentlich dazu beigetragen habe, ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Das ist heute noch am Geist der Bürgerinitiative zu spüren, die hauptsächlich von Frauen getragen wird, und die La Chanca bewohnbar gemacht hat. Almeria zeigte seine Dankbarkeit, indem es bald nach Francos Tod Juan Goytisolo zum Ehrenbürger ernannte und ein Goytisolo-Archiv einrichtete.
Bruchstückweise trug ich so die Steinchen zusammen, die irgendwann das Mosaik meiner Person ausmachten. Aber nach wie vor traute ich mir selbst nichts Besonderes zu, wich ich auch gerne schwierigen Aufgaben aus. Vor allem fehlte es mir immer an jedwedem Ehrgeiz. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht irgendwann den Mangel an Selbstvertrauen einfach durch den Mangel an Ehrgeiz ersetzt habe. Jedenfalls trat ich immer gerne zurück, wenn irgendjemand eine bestimmte Aufgabe besser machen konnte.
So bin ich geradezu genötigt worden, mein erstes Buch zu schreiben. Als wir im Mai 1968 aus Schweden zurückkehrten und mitten in die Ereignisse in Frankfurt hineinfielen, brachte ich aus Stockholm eine Menge Informationen über Indonesien mit. In der Bundesrepublik wurden die ungeheuren Massaker, die das Suharto-Regime an den Demokraten, den Nationalisten und Kommunisten angerichtet hatte, einfach tot geschwiegen. Ich drängte daher ständig die Freunde vom SDS, etwas zu tun, So­lidaritätsveranstaltungen u. dgl. zu organisieren. Alle ver­sprachen stets, demnächst etwas zu machen, aber es geschah nichts. Nun, irgendwann kam heraus, daß keiner etwas Genaues wußte.
Ich glaube, es war einer der Wolf-Brüder, der am Ende zu mir sagte: Wenn du etwas weißt, dann mach' du doch was. Daraus entstand mein erster öffentlicher Vortrag im Club Voltaire. Und aus dem erweiterten Papier wurde die erste Broschüre, die vom SDS herausgegeben wurde. Und aus der Broschüre wurde scließlich ein umfangreiches Buch: Analyse eines Massakers. Es war die minutiöse Nachzeichnung der Ereignisse vom September 1965 und der Beweis, daß der Staatsstreich von langer Hand und tatkräftiger Unterstützung des CIA vorbereitet worden war. Selbst bürgerliche Kritiker mußten zugeben, daß meine Beweis­führung hieb- und stichfest war. Allerdings war ich auch durch viele indonesische Freunde mit ausgezeichnetem Material ver­sehen worden.
Aber, weder mein erstes Buch noch die folgenden Publikationen haben verhindert, daß bis heute sämtliche Medien, von den re­nommiertesten Zeitschriften bis zum Fernsehen, sowie die Her­ren Professoren an den Universitäten die Version der faschi­stoiden Suharto-Clique verbreiten. Zehn Jahre Arbeit also für die Katz.
Und dieses Resümee kann ich eigentlich aus allen meinen Tätig­keiten ziehen. Jene, die die Solidarität mit Vietnam in dem Moment aufsagten, als Laos und Kambodscha okkupiert wurden, waren plötzlich `Verräter'. Eine der ersten Dritte-Welt-Grup­pen organisierte in Frankfurt die Solidarität mit Moçambique und als wir gegen den Bau des Cabora-Bassa-Staudamms vor dem Battelle-Institut protestierten, bezogen wir Prügel von der Polizei. Aber ein paar Jahre später verweigerte man mir die Einreise nach Moçambique, weil man sich dort inzwischen stark nach Moskau hin orientiert hatte (und die DKP, wie alle Bru­derparteien der KPdSU, brüderliche Spitzeldienste leistete). Zehn Jahre Solidaritätsarbeit für die Volksrepublik China und ihre Anerkennung machte aus uns allen am Ende eine persona non grata. Jahre der Solidaritätsarbeit mit Afghanistan brachte uns die Beschimpfung durch alle `Linken' der Republik ein und nach Afghanistan würde ich heute lieber nicht reisen wollen, weil die Wahrscheinlichkeit groß wäre, von einem der Fundis ein Pfund Blei in den Bauch zu bekommen.
Trotzdem bereue ich nichts. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß unsere Solidarität mit Vietnam, mit Indonesien, mit den afrikanischen Ländern, mit China und mit Afghanistan richtig und notwendig war. Nicht wir sind es, die unsere Prinzipien verraten haben.
Außerdem habe ich nie etwas in Erwartung einer Belohnung getan wie die Christen, die ihre guten Taten nur vollbringen, um einen Platz zur Rechten Gottes zu erhalten, um dort dann bis ans Ende aller Tage Hallelujah schreien zu dürfen. Allerdings, und das gebe ich gerne zu, stört es mich heute noch, wenn man am Ende offene Feindschaft erntet, nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch privat. Das ist eine Erfahrung, die ich immer häufiger mache. Reiß dir für Freunde oder Bekannte ein Bein aus - das meine ich wörtlich, nicht mal eben das Auto verleihen oder eine Kiste auf den Dachboden schleppen, sondern ein oder zwei Wochen richtig schuften für einen Freund - und du kannst sicher sein, eines Tages als baziger Lump und selbstsüchtiger Schuft bezeichnet zu werden, den man nicht mehr mit dem Arsch anschaut. Denn die meisten Leute glauben, daß du glaubst, sie müßten Dankbarkeit zeigen. Und dieser Ge­danke ist ihnen wohl so unerträglich, daß sie nicht anders reagieren können. Sei's drum. Auch daran gewöhnt man sich mit der Zeit.
Die meisten Menschen sagen dann: Er hat mich getäuscht, er hat mich enttäuscht, ich bin enttäuscht. Aber ich glaube, man täuscht sich nur immer selber. Meistens weiß man doch schon Bescheid, wenn die Leute den Mund aufmachen. Und wenn ich mich richtig anstrenge, dann weiß ich es schon, bevor sie den Mund aufmachen. Ich brauche sie nur eine Weile zu beobachten, die Bewegungen ihres Mundes, ihres Gesichtes, ihrer Hände zu se­hen, und ich kann sagen, was an ihnen dran ist. Meist ist es nicht positiv. Wie oft hat das Freundinnen in Rage gebracht: Du bist arrogant. Du hast nichts als Vorurteile. Du kennst den oder die gar nicht. Hast gar nicht mit ihnen gesprochen. Wie kannst du so etwas sagen? Aber es verging oft nicht allzu viel Zeit, bevor ich Recht erhielt. Manchmal allerdings dauerte es etwas länger, einmal 15 Jahre. Ein Student, den ich an der Uni kennengelernt hatte, hatte ich sofort als Menschen eingestuft, dem man kein Vertrauen schenken dürfe, auf den kein Verlaß sei. Aber er erwies sich als gebildet und kameradschaftlich und ich glaubte am Ende, ich habe mich in meinem Urteil getäuscht. Und erst viele Jahre später hat sich gezeigt, daß ich Recht hatte. Das hat mir wahrhaftig niemals Genugtuung bereitet.
Und warum täuscht man sich selbst? Nun, jeder weiß, daß man im Leben höchstens ein halbes Dutzend Freunde hat. Würde man sich auf sie beschränken, müßte man sich ständig abschotten und man würde sehr allein sein. Also nimmt man all die anderen mit in Kauf, und mit der Zeit, weil doch alle sooo nett sind, täuscht man sich selbst, sieht in ihnen mehr, als sie selbst jemals für möglich halten würden.
Und um wie vieles leichter täuscht man sich, wenn es um Frauen geht, und gar, wenn sie ein hübsches Frätzchen und einen süßen Body haben (bei Frauen spielen andere Kriterien eine Rolle).
Laut einer UNO- Untersuchung stehen bei ihnen überwiegend und weltweit - mit Ausnahme eines einzigen und zwar afrikanischen Landes - Geld und Macht an erster Stelle. Eine Bekannte etwa brachte es auf den einfachsten Nenner: Sie nannte nur immer die Automarke. Ich habe einen GTI oder einen Porsche kennenge­lernt.). Dabei sollte man im Gegenteil gerade dann sehr genau hinschauen, auch wenn es schwer fällt.
Wie ich zu dieser Einsicht gekommen bin, kann ich unmöglich mehr sagen. Jedenfalls habe ich mich in Frauen nie getäuscht, konnte daher auch nicht enttäuscht werden. Dadurch ergaben sich jahrelange Beziehungen, die von Zuneigung und Zärtlich­keit, von Aufrichtigkeit und Achtung geprägt waren. Vielleicht habe ich deswegen auch viele, viele Jahre lang vor allem Um­gang mit Frauen gehabt. Sowohl intellektuell als auch emotio­nal habe ich ihnen viel zu verdanken, habe ich ihnen zu ver­danken, daß aus mir ein Mensch geworden ist. Mehr noch. Ihrer Liebe verdanke ich, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Tant pis.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen