Montag, 8. Juli 2013
Nobodys Memories
Ein Memoiren-Versuch, mit dem ich mich in
die Reihe derjenigen stelle, die absolut keine Memoiren schreiben
sollten. Wie es doch dazu kam, schildere ich in den folgenden Zeilen.
Es geschah als Zeitvertreib, nicht, weil ich mich wichtig nehme. Und es
hat Spaß gemacht - das war wichtig.
Ganz ehrlich gesagt, ist die Idee zu diesem Buch nicht auf meinem
Mist gewachsen. Mein Freund Kalle Hägglund aus den 60-er Jahren in
Stockholm besuchte mich hier in Motril. Wir sprachen wie immer über
Politik, Gott und die Welt und natürlich erzählten er und ich auch aus
unserem Leben. Da meinte er plötzlich: Jävlar, detta måste du skriva
upp. Zum Teufel, das musst du aufschreiben. Ich habe das als eine
Schnapsidee beiseitegewischt. Aber als dann die mir vom Luchterhand
felsenfest versprochenen Aufträge nicht eintrafen, fing ich etwas
unentschlossen und eher zerstreut an, Notizen zu machen. Bis es mir Spaß
zu machen begann. Schreiben können, ohne auf irgendwen Rücksicht nehmen
zu müssen. Als ich dann die ersten Seiten durchlas, war mir auch klar,
dass das kein Schwein jemals drucken würde. Habe es auch nie versucht.
Doch - vor kurzem fragte ein Verlag an. Ich schickte es
los - insgeheim denkend, dass die sich wundern werden. Naja, sie lehnten dann auch sehr schnell ab.
Einige Jahre später - inzwischen war ich hierher nach Klavreström in
Småland im Süden Schwedens gezogen - besorgte ich Kalle Hägglund hier
Büro, Lagerraum und ein Haus für seinen Verlag, weil in Stockholm die
Preise ins Endlose stiegen. Und irgendwann wollte er wissen, was aus den
Memoiren geworden ist. Da er kein Deutsch konnte, blieb mir nichts
anderes übrig, als ein paar Kapitel zu übersetzen. Sie gefielen ihm und
er war entschlossen, sie zu drucken. Also übersetzte ich weiter und er
redigierte. Und dann starb er Knall auf Fall.
Damit war für mich der Fall endgültig erledigt. Dachte ich, denn das
Klinkenputzen habe ich um 1998 endgültig aufgegeben. Bis ich nun nach
zwei Jahren ernster Arbeit mit meinen Blogs den Gedanken hatte, für
meine nicht gedruckten Bücher einen Blog zu schaffen. Denn mit einigen
Büchern hatte ich nicht so viel Glück. Die wurden mir geklaut,
raubgedruckt, Verlage gingen bankrott oder die Verleger starben. Nun
denn, hier der erste Versuch. Vielleicht hat ja der eine oder andere
Spaß dran.
Ach ja, noch eine Anmerkung dazu. Da ich oft beim Lesen von Memoiren
das Gefühl hatte: 'Nun spinnt der aber oder phantasiert', habe ich mir
vorgenommen, Fakten und keine Phantasien zu erzählen (da ich über 60
Tagebücher mit was weiß ich wievielen tausend Seiten hier liegen habe,
ist es auch leicht, Kontrollen zu machen). Und da ich auch an diesem
Text nichts ändern wollte, selbst wenn ich zu anderen Auffassungen kam,
stellte ich mir ein 'Work in progress' vor, in dem ich unter Angabe des
Datums neue Texte eingab. Das tat ich einige Jahre, bis das Vorhaben
einschlief und das Manu zu verstauben begann. Bis jetzt.
Einar
Schlereth
MOTRIL/Spanien
1994
- fortlaufend
Drei
Monate lang kein Wort geschrieben - doch, Briefe, Tagebuch und
sowas. Belanglos. Oder nicht, was weiß ich. Eigentlich möchte
ich andere Dinge schreiben. Ich möchte Worte schreiben können wie
Hammerschläge, wie Peitschenschläge, aber die gibt es nicht mehr.
Alle Worte haben ihre Bedeutung und ihren Biß verloren, seit Luther
seine Thesen an das Tor schlug - jeder Hammerschlag ein Wort und
jedes Wort ein Hammerschlag. Mit demselben Hammer hätte man ihn
erschlagen müssen, als er zu dem fetten Schwein wurde, das die
Scheiße der Fürsten fraß. Gab es jemals wieder in Deutschland
einen solchen Furor, wie ihn jene Worte bewirkt hatten? Ich bezweifle
es. Nicht einmal das Manifest von Marx und Engels. Das war eine Bombe
mit Langzeitwirkung, deren schmorgelnde Zündschnur lange
niemand bemerkte.
Also Worte wie Hammerschläge is' nicht. Nicht nur, daß die Worte ihre Bedeutung und ihren Inhalt verloren haben, sondern auch - gäbe es sie denn - die Unmöglichkeit, sie irgendwo anzuschlagen. Wo man hinhaut, nichts als der zähe Schleim der Lüge, die stinkende Kotze der Medien, die Kloake der Regierungsscheißer und Industrieabzocker. Und doch können wir ohne Wörter nicht leben und nicht denken, auch nicht ohne das geschriebene Wort. Wir, die wir die Worte lieben, können nur immer wieder versuchen, ihnen gerecht zu werden, sie ehrlich und ohne Schminke auftreten zu lassen.
Ich gehe hinunter in das Städtchen Motril, am Fuße der Sierra de Lujar. Wie immer Concerto grosso der Vögel in den beiden Pinien unterhalb des Krankenhauses. Warum geht einem beim Gesang der Vögel das Herz auf? Weil er nicht Lüge ist wie das Gezwitscher der Menschen. Nicht wie da hinter mir im Hospital. Madre mia, quien va ayudarte en morir? Niemand, niemand, meine Alte, wird dir beim Sterben helfen, das mußt du alleine besorgen. Deine ganze Brut, der du das Leben geschenkt hast, flattert um dich herum und belügt dich. Besonders die eine, die du nie besonders leiden konntest, weil sie verlogen und frömmelnd ist - die, die kommt natürlich besonders oft. Und warum wirfst du sie nicht alle hinaus und stirbst mit Anstand und ohne Lüge? Aber lügen sie nicht alle, vom Chefarzt bis zur kleinen Krankenschwester? Erzählen einem, daß alles wieder gut wird, wenn man doch genau weiß, daß man sterben wird, daß ihre ganze Kunst nichts helfen wird?
Also Worte wie Hammerschläge is' nicht. Nicht nur, daß die Worte ihre Bedeutung und ihren Inhalt verloren haben, sondern auch - gäbe es sie denn - die Unmöglichkeit, sie irgendwo anzuschlagen. Wo man hinhaut, nichts als der zähe Schleim der Lüge, die stinkende Kotze der Medien, die Kloake der Regierungsscheißer und Industrieabzocker. Und doch können wir ohne Wörter nicht leben und nicht denken, auch nicht ohne das geschriebene Wort. Wir, die wir die Worte lieben, können nur immer wieder versuchen, ihnen gerecht zu werden, sie ehrlich und ohne Schminke auftreten zu lassen.
Ich gehe hinunter in das Städtchen Motril, am Fuße der Sierra de Lujar. Wie immer Concerto grosso der Vögel in den beiden Pinien unterhalb des Krankenhauses. Warum geht einem beim Gesang der Vögel das Herz auf? Weil er nicht Lüge ist wie das Gezwitscher der Menschen. Nicht wie da hinter mir im Hospital. Madre mia, quien va ayudarte en morir? Niemand, niemand, meine Alte, wird dir beim Sterben helfen, das mußt du alleine besorgen. Deine ganze Brut, der du das Leben geschenkt hast, flattert um dich herum und belügt dich. Besonders die eine, die du nie besonders leiden konntest, weil sie verlogen und frömmelnd ist - die, die kommt natürlich besonders oft. Und warum wirfst du sie nicht alle hinaus und stirbst mit Anstand und ohne Lüge? Aber lügen sie nicht alle, vom Chefarzt bis zur kleinen Krankenschwester? Erzählen einem, daß alles wieder gut wird, wenn man doch genau weiß, daß man sterben wird, daß ihre ganze Kunst nichts helfen wird?
Kommen
wir nicht aus ohne Lüge? Von der Wiege bis zum Grab, nichts als
Lügen? Steckt das in uns? Wird es uns anerzogen? Ich halte es für
eine Frage der Erziehung.
Eine Frau hat kürzlich ein Buch
veröffentlicht, das diese These stützt und die Mutterliebe als
grandiose Lüge entlarvt, all die Frauen auf's Korn nimmt - und seien
es Intellektuelle (die besonders) - die gleich nach dem Akt des
Gebärens sich in Mütterkühe verwandeln. Die Kinder in
Instrumente ihrer Macht und die Männer in Hanswürste ummodeln. Was
ich immer gesagt habe. Ich glaube, nirgendwo wird so penetrant, so
impertinent und so permanent gelogen wie in der Mutter - Kind -
Beziehung. Ja, ich weiß, es hat irgendwann und irgendwo mal eine
Ausnahme gegeben, aber davon rede ich nicht. Ich rede von der REGEL,
die jeder mit offenem Blick überall beobachten kann.
Mit der Geburt geht doch das ganze Elend schon los. All die Erwachsenen, die in die Wiege glotzen und kein vernünftiges Wort rausbringen, nur tätätä und tütütü und ach wie süß, und wenn die Süßen so häßlich wie Kanalratten sind. Was die meisten sind. Im Suff und ohne Liebe gezeugt und meist noch nikotin- und alkohol- und drogengeschädigt.
Und so geht das Lügen munter weiter, unter aktiver Beteiligung der süßen Kleinen, sobald sie den Mund aufmachen können. Denn clever sind die Kurzen, auch wenn sie `ne Klatsche haben. Die merken doch sofort, daß man ohne Lügen nicht weit kommt. Was die wirklich von den Alten halten, kann man an ihren Blicken ablesen, die sie ihnen zuwerfen, sobald sie sich unbeobachtet glauben.
Da, da läuft gerade so eine "Mutterkuh" mit ihrem jüngsten Wurf vorbei. Dieser Balg, was aus dem wird, läßt sich schon jetzt an seinen fünf Jahren ablesen. Dieser Blick auf ihre Worte. Aber sofort das berechnende Grinsen in der Fresse, sobald sie sich ihm wieder zuwendet. Und es ist dieselbe kalte Berechnung, die der Alten, die noch keine 25 Jahre hat, im Gesicht steht. Wie sie gekleidet ist, hat sie sich teuer verkauft und bezahlt hat sie mit Lustlosigkeit, Lieblosigkeit, Lüge.
Mit der Geburt geht doch das ganze Elend schon los. All die Erwachsenen, die in die Wiege glotzen und kein vernünftiges Wort rausbringen, nur tätätä und tütütü und ach wie süß, und wenn die Süßen so häßlich wie Kanalratten sind. Was die meisten sind. Im Suff und ohne Liebe gezeugt und meist noch nikotin- und alkohol- und drogengeschädigt.
Und so geht das Lügen munter weiter, unter aktiver Beteiligung der süßen Kleinen, sobald sie den Mund aufmachen können. Denn clever sind die Kurzen, auch wenn sie `ne Klatsche haben. Die merken doch sofort, daß man ohne Lügen nicht weit kommt. Was die wirklich von den Alten halten, kann man an ihren Blicken ablesen, die sie ihnen zuwerfen, sobald sie sich unbeobachtet glauben.
Da, da läuft gerade so eine "Mutterkuh" mit ihrem jüngsten Wurf vorbei. Dieser Balg, was aus dem wird, läßt sich schon jetzt an seinen fünf Jahren ablesen. Dieser Blick auf ihre Worte. Aber sofort das berechnende Grinsen in der Fresse, sobald sie sich ihm wieder zuwendet. Und es ist dieselbe kalte Berechnung, die der Alten, die noch keine 25 Jahre hat, im Gesicht steht. Wie sie gekleidet ist, hat sie sich teuer verkauft und bezahlt hat sie mit Lustlosigkeit, Lieblosigkeit, Lüge.
Doch
sie lügt nicht allein. Er genau so. Immer, auch dann, wenn es nicht
Not tut, wie eine Freundin sagt. Schaut einem treuherzig in die Augen
und lügt. Er lügt und lügt und lügt immer, wenn er das Maul
aufmacht.
Vor dem Einschlafen lag ich lange wach und schrieb Seite um Seite weiter. Beispiele über Beispiele. Heute morgen um sechs Uhr aufgewacht und weitergeschrieben. Und so geht das seit Jahren schon. Seit Jahren? Seit Jahrzehnten. Wenn ich es recht überlege, dann sind es mindestens 40 Jahre. Damals, als ich begann zu schreiben oder vielmehr nachzudenken. Über all die Heuchelei und Verlogenheit. Die Eltern, die ihr Zusammenleben auf einer Lebenslüge aufbauten; die Nachbarn, die Bewohner der kleinen Stadt, der Dörfer drumherum, die alle so gut katholisch und fromm waren, daß sie uns Flüchtlinge in den tiefsten Grund der Hölle wünschten. Damals, als ich begann, an dieser Welt zu leiden, begann, mich nach einer besseren Welt zu sehnen. Als mir klar wurde, daß ein gut Teil der Schuld an der Verlogenheit der Welt die Religion trägt, damals, als ich mit einem komplizierten Beinbruch Monate im Bett zubrachte.
Viel später gewann Marx allein schon deshalb meine Sympathie, weil er meine Gedanken schon 100 Jahre früher gedacht hatte. Aber so richtig ich auch den Kampf gegen die Religion in den Ostblockländern fand, so sehr lehnte ich stets die Methoden ab. Denn Gläubigkeit ist eine Krankheit, eine Sucht, die nur mit Fingerspitzengefühl, Geduld und Humanität geheilt werden kann - wenn überhaupt. Aber genau daran mangelte es in allen sogenannten sozialistischen Ländern, weil das zutiefst humane Denken von Marx nicht begriffen wurde. Und wenn einer es verstand, wie Mao, dann fehlten ihm die Zeit und die Menschen, um dieses Denken zu verallgemeinern.
Mit dem Schließen der Moscheen und Kirchen, wie in Albanien, ist es ja nicht getan. Oder mit dem Verbot, den Glauben zu praktizieren. Dabei hatten die Kommunisten alle Chancen. Die Pfaffen und Hodschas - dieses ganze faule Gesindel, wie Thomas Morus sie nennt - hatten sich durch ihre Kollaboration mit den alten und neuen Mächten für alle Ewigkeit diskreditiert - so hätte man meinen sollen. Doch dabei vergißt man die maßlose Vergeßlichkeit des Menschen.
Doch was soll's. Nirgends auf der Welt gibt es nur den Ansatz des Willens, die Religion zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil. Man paßt sich lieber an, denn an allen Ecken und Enden werden wieder Scheiterhaufen angezündet, und man möchte nicht riskieren, ihn besteigen zu müssen. Als hätte es nie eine Aufklärung gegeben. Aber wen wundert es? Das ist das Wesen einer jeden Religion. Wenn der Wind ihr ins Gesicht bläst, macht sie ein Schafsgesicht, doch sobald sie eine Chance hat, kehrt sie ihr Wolfsgesicht hervor und reißt, was immer ihr in die Quere kommt. Alle Religionen, sage ich. Die Hindus massakrieren die Moslems und die Moslems die Hindus, und die ach so sanften Buddhisten bringen alle Andersgläubigen um, wenn sie die Chance haben, und die Christen jedweder Couleur, na, die waren im Morden und Totschlagen immer besonders gut. Du hast Recht, verehrter Liebermann, man kann unmöglich so viel fressen, wie man kotzen möchte.
(rot) Eigentlich wollte ich schon lange an (mit) diesem Text weiterarbeiten, d.h. ihn nicht verändern oder `korrigieren' oder verbessern, sondern vielmehr ergänzen. Mir fallen immer wieder Dinge ein, die ich vergessen habe oder die ich verkürzt wiedergegeben habe. Es sind jetzt ca. zwei Jahre seit der Niederschrift (1993) vergangen. Aber ich möchte die `Neuzugänge' kenntlich machen, am besten mit einer anderen Farbe. Also nehme ich erst einmal rot. Weitere Farben können in späteren Jahren folgen.(rot)
Vor dem Einschlafen lag ich lange wach und schrieb Seite um Seite weiter. Beispiele über Beispiele. Heute morgen um sechs Uhr aufgewacht und weitergeschrieben. Und so geht das seit Jahren schon. Seit Jahren? Seit Jahrzehnten. Wenn ich es recht überlege, dann sind es mindestens 40 Jahre. Damals, als ich begann zu schreiben oder vielmehr nachzudenken. Über all die Heuchelei und Verlogenheit. Die Eltern, die ihr Zusammenleben auf einer Lebenslüge aufbauten; die Nachbarn, die Bewohner der kleinen Stadt, der Dörfer drumherum, die alle so gut katholisch und fromm waren, daß sie uns Flüchtlinge in den tiefsten Grund der Hölle wünschten. Damals, als ich begann, an dieser Welt zu leiden, begann, mich nach einer besseren Welt zu sehnen. Als mir klar wurde, daß ein gut Teil der Schuld an der Verlogenheit der Welt die Religion trägt, damals, als ich mit einem komplizierten Beinbruch Monate im Bett zubrachte.
Viel später gewann Marx allein schon deshalb meine Sympathie, weil er meine Gedanken schon 100 Jahre früher gedacht hatte. Aber so richtig ich auch den Kampf gegen die Religion in den Ostblockländern fand, so sehr lehnte ich stets die Methoden ab. Denn Gläubigkeit ist eine Krankheit, eine Sucht, die nur mit Fingerspitzengefühl, Geduld und Humanität geheilt werden kann - wenn überhaupt. Aber genau daran mangelte es in allen sogenannten sozialistischen Ländern, weil das zutiefst humane Denken von Marx nicht begriffen wurde. Und wenn einer es verstand, wie Mao, dann fehlten ihm die Zeit und die Menschen, um dieses Denken zu verallgemeinern.
Mit dem Schließen der Moscheen und Kirchen, wie in Albanien, ist es ja nicht getan. Oder mit dem Verbot, den Glauben zu praktizieren. Dabei hatten die Kommunisten alle Chancen. Die Pfaffen und Hodschas - dieses ganze faule Gesindel, wie Thomas Morus sie nennt - hatten sich durch ihre Kollaboration mit den alten und neuen Mächten für alle Ewigkeit diskreditiert - so hätte man meinen sollen. Doch dabei vergißt man die maßlose Vergeßlichkeit des Menschen.
Doch was soll's. Nirgends auf der Welt gibt es nur den Ansatz des Willens, die Religion zu bekämpfen. Ganz im Gegenteil. Man paßt sich lieber an, denn an allen Ecken und Enden werden wieder Scheiterhaufen angezündet, und man möchte nicht riskieren, ihn besteigen zu müssen. Als hätte es nie eine Aufklärung gegeben. Aber wen wundert es? Das ist das Wesen einer jeden Religion. Wenn der Wind ihr ins Gesicht bläst, macht sie ein Schafsgesicht, doch sobald sie eine Chance hat, kehrt sie ihr Wolfsgesicht hervor und reißt, was immer ihr in die Quere kommt. Alle Religionen, sage ich. Die Hindus massakrieren die Moslems und die Moslems die Hindus, und die ach so sanften Buddhisten bringen alle Andersgläubigen um, wenn sie die Chance haben, und die Christen jedweder Couleur, na, die waren im Morden und Totschlagen immer besonders gut. Du hast Recht, verehrter Liebermann, man kann unmöglich so viel fressen, wie man kotzen möchte.
(rot) Eigentlich wollte ich schon lange an (mit) diesem Text weiterarbeiten, d.h. ihn nicht verändern oder `korrigieren' oder verbessern, sondern vielmehr ergänzen. Mir fallen immer wieder Dinge ein, die ich vergessen habe oder die ich verkürzt wiedergegeben habe. Es sind jetzt ca. zwei Jahre seit der Niederschrift (1993) vergangen. Aber ich möchte die `Neuzugänge' kenntlich machen, am besten mit einer anderen Farbe. Also nehme ich erst einmal rot. Weitere Farben können in späteren Jahren folgen.(rot)
Vergangene
Woche bekam ich von einer Bekannten eine Einladung zu einem
Fest. Ich hatte sie vor Jahren im Nacktbad kennengelernt,
wo mir zuerst ihr schöner Venushügel aufgefallen war. Wir stellten
fest, daß wir gemeinsame Freunde hatten, was aber nicht zu weiteren
Gemeinsamkeiten führte, von gelegentlichen Treffs abgesehen.
Schließlich begegnete ich ihr in der Stadt und erkannte sie nicht
wieder, so unförmig war sie geworden, was nicht allein der
Schwangerschaft im fünften Monat geschuldet war. Sie war in
Portugal gewesen und hatte sich dort von irgendeinem Kerl anbumsen
lassen. Sie wollte unbedingt ein Kind, auf einen Vater könne sie
verzichten. Kopfschüttelnd ging ich weiter. Jetzt werde ich der
Einladung folgen, weil ich sehen möchte, was aus dem Balg geworden
ist.
Ich
halte dies für ein übles (nicht das übelste) Beispiel für den
Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Durch den
Egoismus dieser Frau wird das Kind von vornherein betrogen. Ihm wird
ein wesentlicher Bestandteil der Liebe - die Vaterliebe -
vorenthalten. Was von der Mutter durch verdoppelte `Liebe'
gutgemacht wird, womit das Kind aber lediglich noch mehr
verdorben wird. Ich denke, die Liebe zu einem Kind muß vielfältig
sein, nicht monolinear. Die Liebe der Mutter unterscheidet sich
von der Liebe der Großmutter, der Großeltern, von der des
Vaters, der Geschwister oder Verwandten. Eine Person allein kann das
nicht geben. Diese Mutter erteilt sich `aus Liebe' diktatorische
Vollmachten. Der arme Paul - er hat gute Chancen, entweder schwul
oder zum Tyrannenmörder zu werden. Wenn alles gut geht,
vielleicht ja auch nur ein gewöhnlicher Schwachkopf. (rot)
Gestern
bringe ich Carmen die Spritzpistole zurück, die ihr Mann mir
geliehen hat. Keine Zeit, keine Zeit, ich muß zum Arzt und vorher
noch das Auto putzen, empfängt sie mich. Mit frisch gewaschenen und
noch nassen Haaren klopft sie wie wild auf den Sitzkissen herum, so
daß der Staub aufgewirbelt und gleichmäßig verteilt wird,
natürlich auch auf die frisch ge-waschenen Haare. Welcher Teufel hat
der ins Hirn geschissen. Abgesehen vom Irrsinn ihres Tuns, glaubt sie
etwa, der Arzt stünde hinter der Gardine, um zu kontrollieren, ob
sie den Wagen gewaschen habe? Glaubt sie, der mache das bei allen
oder nur bei ihr? Oder will sie den Arzt im Auto ficken? Dann hätte
das ja noch einen Sinn. Aber den Traum wagt sie wahrscheinlich nicht
einmal leise zu denken. Also nur hirnrissige Betriebsamkeit,
um die Zeit totzuschlagen, über die sie als Mutterkuh allzu
reichlich verfügt.
Möchte
gerne wissen, worauf die Vorstellung von der feurigen Spanierin
zurückzuführen ist. Nirgendwo sind die Frauen asexualer als in
diesem Lande. Nigendwo werden sie schon in jungen Jahren so
darauf getrimmt, sich einen kleinen Macho einzufangen. Nirgendwo
ist die berechnende Kälte derart in die Gesichter selbst ganz junger
Gören geprägt wie hier, so daß sie eher ausgebufften Huren
gleichen als Teenies. Und nirgendwo ist der Frust in der Ehe
größer, der sich dann in ungehemmter Freßsucht entlädt.
Diese fetten, unförmigen Kröten, die an allen Haustüren und -ecken
schwarz gekleidet sich die Mäuler verreißen.
(rot)
Es ist dies eine meiner beliebten Übertreibungen, wie mein Freund
Uli immer sagt. Natürlich gibt es kluge, reizende Spanierinnen, aber
solche Frauen sind, wenn möglich, noch seltener als bei uns zu
finden. Es sind bewußte Verallgemeinerungen. Im übrigen
erzählte ein Bekannter diese meine Äußerung seiner spanischen,
d.h. baskischen Freundin, in der Erwartung, sie würde sie empört
zurückweisen. Doch sie sagte nur ganz cool: "Stimmt!"
(rot)
Es
ist unfaßbar, daß der menschliche Körper so etwas aushalten kann,
ohne in einen allgemeinen Kollaps zu fallen. Es führt nur immer zum
Beinahe-Kollaps, weshalb alle Sprechzimmer und Kliniken und
Gesundheitszentren überfüllt sind. Und die leben von dieser
allgemeinen Verfettung, statt allen die FdH-Kur zu verordnen. Wie das
ein befreundeter Arzt einmal vertretungsweise tat. Er hat immer
nur `Friß die Hälfte' gesagt, daß diese ganzen Huren das Maul
nicht mehr zukriegten. Lustig ist das wohl nicht gewesen. Die Weiber
sprangen ihm mit dem Arsch ins Gesicht, und die Vertretung hat er
auch nicht mehr bekommen. Dabei wäre es immer noch viel zu viel,
wenn sie die Hälfte fräßen.
Pedro
erzählt mir stolz, daß er schon 40 Jahre verheiratet sei. Aber von
morgens bis spät ist er unterwegs. Kommt nur zum Fressen und Pennen
nachhause. Welch ein Horror! Anstatt das schamhaft für sich zu
behalten. Nein, er brüstet sich damit. Una buena mujer. Eine gute
Frau. Das glaub' ich. Hält die Schnauze, kocht ihm sein Fressen und
wäscht ihm seine dreckigen Hosen. Pflichtschuldigst hat er sie
sechs Mal bestiegen, um ihr einen Braten in die Röhre zu
schieben. Naja, vielleicht hat er ab und zu ein bißchen lustlos in
ihr rumgestochert. Ab und zu im Puff gewesen und das war sein
Sexualleben. Jetzt ist er 67 Jahre alt. Für sich genommen ein
netter Kerl. Zu Späßen aufgelegt und ein guter Kamerad. Kein
Arschkriecher. Und ein grand tireur. D.h. er trifft beim
Pétanque die Kugel auf 10 m Entfernung mit achtzigprozentiger
Sicherheit. Aber natürlich reißt er seine Weiberwitze wie alle
anderen auch. Bei Männern ein sicheres Zeichen, daß sie
herzlich wenig Erfahrung in der Liebe haben oder überhaupt zur
Liebe unfähig sind. Aber irgendein dummes Luder findet
jeder, an deren Seite er dann 40 Jahre verbringen kann.
Aus
dem Hochnebel gestern abend hat sich in den frühen Morgenstunden
ein Landregen entwickelt, der später in einen Sturzregen
überging. Ich selber fühlte mich als diese knochentrockene,
ausgedürstete Erde, die endlich, endlich trinken konnte. Welch ein
Glück. Seit Jahren sind die Niederschläge in Andalusien völlig
unzureichend. Von Cadiz bis Sevilla und Jaen ist das Wasser
rationiert. Die Stauseen sind nur bis zu 15 % ihrer Kapazität
gefüllt und die Situation hat sich auch nicht durch die
verschiedenen regionalen Regenfälle gebessert. Trotzdem sind die
Wasserpreise hier ein Witz. Alles ist fast so teuer wie bei uns, doch
das Wasser kostet nur einen Bruchteil. In Marbella hat es einen
Aufstand gegeben, als der Wasserpreis auf eine Mark angehoben wurde.
In Hamburg zahlt man jetzt ca. 4.80 DM (incl. Abwasser natürlich)
und dabei haben wir vergleichsweise Wasser im Überfluß.
(rot)
Inzwischen sind es sieben Mark und die Wassersituation in Andalusien
ist noch dramatischer geworden. Rationierung ist zu einer
Dauereinrichtung geworden. Mallorca muß mittlerweile mit
Wassertankschiffen versorgt werden. (rot)
Nirgends
ein Bewußtsein für das Wasser als das Lebenselexier. Hier wird eine
so hemmungslose Verschwendung getrieben, daß man sich wundert, nicht
überall schon Wasserrestriktionen eingeführt zu sehen. Im
übrigen frage ich mich seit Jahren, ob nicht der Export von Obst und
Gemüse, der ja in die Millionen Tonnen geht und praktisch aus Wasser
besteht, nicht auch Auswirkungen auf den Wasserhaushalt gerade
der Länder hat, die Wasser- und Desertifikationsprobleme haben (noch
dramatischer als für Spanien muß das doch für die Länder der
Sahelzone sein). Wasser wird also ausgerechnet in die Länder
exportiert, die manchmal im Wasser geradezu ersaufen. Und im
Austausch erhält der Süden Maschinen und Chemikalien.
A
propos Chemikalien. Das ist ein Elend hier. Plastikmüll an jeder
Ecke, an den schönsten landschaftlichen Stellen, mitsamt Batterien,
Fernsehern, Kühlschränken, Möbeln, Bauschutt. Gewiß, es ist
in den vergangenen Jahren besser geworden, aber gelöst ist das
Problem noch lange nicht. Warum hatte man zu allen Zeiten und noch im
Mittelalter das klare Bewußtsein, daß Wasser lebensnotwendig ist,
seit Beginn der Industrialisierung aber nicht mehr? Warum wurden
Brunnenvergifter zu allen Zeiten mit schwersten und grausamen Strafen
belegt und heute ist nicht einmal mehr das geringste
Unrechtsbewußtsein übrig geblieben? Weder bei den Tätern,
noch bei den Betroffenen. Weil sie im Grunde alle Brunnenvergifter
sind. Jeder schmeißt doch seinen Dreck in die Gegend. Der kleine
Mann hinters Haus oder in den nächsten barranco, die Industrie läßt
ihn irgendwo in die Landschaft kippen oder in den Ozeanen
verklappen und die Stadt leitet die Scheiße ins Meer und den Rest
auch in den barranco. Wo er von Zeit zu Zeit angezündet wird und die
wundersamsten Düfte verbreitet. Is was, Doc?
Man
versucht, einen Witz darüber zu machen und hat ein schiefes
Grinsen in der Fresse. Weil sich die Wut nicht mit einem Witz
zufriedengibt. Dieses ganze kriminelle Pack! Aber das sind ja alle,
vom freundlichen Nachbarn bis zum eiskalten bundesrepublikanischen
Unternehmer, der seine Giftproduktion nach Spanien verlegt, wenn sie
in Deutschland verboten wird. Und man kann doch nicht neben jeden
Baum und hinter jeden Busch einen Bullen stellen.
Und
doch funktioniert es im Grunde nur so. Vor Jahrzehnten gab es südlich
von Frankfurt einen wunderschönen Baggersee. Es war die 68-er Zeit
und wir machten daraus das erste Nacktbad Frankfurts. Es dauerte
nicht lange und das ganze Gelände war derart zugemüllt, daß das
Betreten geradezu lebensgefährlich wurde. Das Ende vom Lied: Das
Terrain wurde von der Stadt verpachtet, der Pächter zog einen
Zaun darum, kassierte saftige Preise und stellte einen Kuli ein, der
regelmäßig am Abend den Dreck der Besucher beseitigte. Die Stadt
hatte einen neuen Millionär und die Leute waren's zufrieden. Und das
soll nicht eine perverse Gesellschaft sein?
(rot)
Kürzlich mit einer Freundin über Kinder im allgemeinen und im
besonderen geredet. Sie war mit mir der Meinung, daß maximal fünf
Prozent aller Kinder bewußt und aus Liebe gezeugt werden. Die
meisten im Suff oder unter Drogen (und dazu rechne ich
selbstverständlich auch den Alkohol) oder mit dem falschen
Partner oder durch sonstige Zufälle. Das ist die Hauptursache
dafür, daß es so viele geistige, seelische, körperliche
Krüppel gibt, daß die Welt voller Aggression ist. (rot)
Im
Spiegel die Wehner-Geschichte gelesen. Aus in Moskau jetzt
aufgefundenen Akten geht hervor, daß er, um seine Haut zu retten,
die eigenen Genossen dem NKWD ans Messer geliefert hat. Da das
natürlich kein schöner Zug ist, wird es ganz spitzfindig
gerechtfertigt: Er habe als ein ganz Schlauer die Stalinsche
Mordmaschine genutzt, um die schlimmsten Typen, nach dieser
Darstellung allesamt ebenfalls Denunzianten, aus der Partei
hinauszusäubern. Ich habe wahrhaftig nicht viel für die
Führungsclique der alten KPD übrig, aber diese Art von Apologetik
geht mir doch gegen den Strich.
Insgesamt
sind es miese Typen gewesen. Brüstete sich der Thälmann doch
damit, im `Lux' eine Großfürstin für eine Büchse Kondensmilch
gefickt zu haben. Der Führer der deutschen Arbeiterpartei und
Reichspräsidentenkandidat! Ekelhaft. Aber diese Mentalität
herrschte in der gesamten Partei vor, bis hinunter zum einfachen
Mitglied. Anfang der 70-er Jahre hat mir doch ein altes, angesoffenes
KPD-Mitglied allen Ernstes erklärt, daß nach dem Sieg der
Revolution als erstes alle Blankeneser Weiber durchgefickt werden
müßten. Statt die Emanzipation der Frau in den eigenen Reihen
voranzutreiben (wofür Reich die besten Ansatzpunkte lieferte), hat
man diesen Trumpf überhaupt nicht ausgespielt. Ganz im Gegenteil
wurden dieselben männlichen, frauenfeindlichen und
autoritären Denk- und Verhaltensweisen wie in den bürgerlichen
Parteien reproduziert. Und zwar durchgängig.
Ein
derartiges proletarisches Klassenbewußtsein hätte sich Marx
wahrlich nicht träumen lassen. Das änderte sich auch nicht in der
68-er Generation. Wer redete auf allen Versammlungen endlos und
wer saß in allen Ausschüssen? Männer. Bis die Frauen die Schnauze
voll hatten und ihren eigenen Weiberrat gründeten. Oder ich
erinnere mich, wie sich die Genossen nach den politischen
Versammlungen oft geschlossen einen amerikanischen
Dreckfetzen reinzogen, Krahl, Cohn-Bendit (jetzt für Kulturfragen
zuständig - daß ich nicht lache), Schirmbeck und Co. vorneweg. Wie
man sich die Massakrierung der Indianer zum Spaß und zur Entspannung
anschauen kann, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Wenn sich die
Leute zum Spaß Auschwitz-Filme anschauten, wäre das der Sache nach
nichts anderes.
Auschwitz-Filme
wohlgemerkt, die erst noch gedreht werden müßten, mit den
Massenmördern als Hauptdarstellern und Helden. Ich höre richtig den
Aufschrei. Das sei ja nun doch etwas ganz anderes. Richtig: In dem
einen Fall waren es nur Rote, im anderen Juden. Selbst die
Entrüstung der Leute ist immer verlogen. Immer am falschen Ort
und zur falschen Zeit. Weil von den Herrschenden vorgegeben wird,
wann man sich zu entrüsten habe.
(rot)
Wunderbar, daß ich hierfür von berufener Seite eine Bestätigung
erhielt. Kürzlich las die Indianerin Leslie Marmon Silko aus ihrem
Roman Almanach der Toten im Amerika-Haus, vielen Kritikern
zufolge der größte Roman Amerikas. Als sie vom Holocaust an den
Indianern sprach, empörte sich in der Diskussion eine `Dame',
eine Weiße, daß "das doch wohl nicht dasselbe sei".
L. M. Silko schlug mit Vehemenz zurück: "Warum denn nicht? Weil
es Rote waren?" Und sie nannte noch etliche andere Beispiele von
Massenmorden der Weißen. Im übrigen kam der Spruch von derselben
`Dame', die Silkos frühere Bücher `so schön' gefunden hatte, und
bedauerte, daß sie jetzt `so politisch' geworden sei. Pack!
(rot)
Habe
in meinem Gärtchen gearbeitet und das ist wohltuend und
nervenberuhigend. Unten im Barranco schnitt ich mir zuerst
Schilfrohrstangen zurecht und bastelte dann das Gerüst, an dem ich
die Tomaten anbinden werde. Es ist so stabil geworden, daß es auch
dem stärksten Wind standhalten wird. Und der kann hier manchmal mit
unglaublicher Härte, mit einer geradezu saugenden Kraft blasen.
Liegst du abends im Bett und hörst nichts als die wuchtigen
Hammerschläge des Windes, das Stöhnen und Ächzen des Hauses,
denkst du, jetzt gleich ist es so weit, und der Sturm trägt dich
mitsamt der Hütte hinunter ins Tal.
Und
jeden Tag betrachte ich alle Bäume und all die Blumen, die ich
gepflanzt habe und ihre Fortschritte im Wachstum. Wie ein Kind freute
ich mich, als der Rebensteckling angegangen war und jetzt ausschlägt.
Oder über den Holunderzweig, den ich provisorisch zum Stützen
der jungen Tomatensetzlinge in die Erde gesteckt hatte, und der
ausgeschlagen hat. Ich habe ihm nun einen anderen Platz zugewiesen.
Der Guavo-Baum streckt die ersten Blattspitzchen heraus und die
Knospen der Feige werdenimmer dicker. Die Kamille duftet und das
Rot des Klatschmohns ist eine wahre Augenfreude. Überall blühen
gelber Klee und der rosaviolette Natternkopf. Die Mönchs- und
Samtkopfgrasmücken, zwei Pärchen, hüpfen zutraulich im Gebüsch
herum, während ich daneben auf der Terrasse meinen Kaffee trinke.
Sie inspizieren sorgfältig jeden Zweig wie die Mütter früher die
Kinderköpfe nach Läusen.
Ich
weiß, was Brecht über den blühenden Pflaumenbaum in seinem Hof
gesagt hat. Das ist richtig und falsch zugleich. Könnten wir diese
Freude nicht erfahren, würden wir uns in keiner Weise von den
anderen unterscheiden. Andererseits: Während ich einen Kohlkopf
pflanze, haut Holzmann einen ganzen Regenwald um. Und die scheren
sich einen Dreck darum, ob dabei 1000 Arten an Flora und Fauna
draufgehen, noch ehe sie registriert und klassifiziert wurden. Die
verschwinden einfach, als hätte es sie nie gegeben. Allein an einer
solchen Tatsache könnte man doch irre oder zum Mörder werden. Aber
obwohl sie in allen Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, im Rundfunk
und Fernsehen zu hören und zu sehen war, wird niemand daran
irre. Geht kein Aufschrei durch das Land, wird keiner dieser
Verbrecher vor Gericht gestellt. Wie denn auch, wo wir doch selbst
die Mörder an Millionen Menschen gehätschelt und gepäppelt haben,
damit sie friedlich in ihren Betten entschlafen können. Da kann man
doch kein Wesen um so ein paar Spinnen und Kräuter machen.
Unterdessen
traure ich meinen Geckos nach. Ein Mauergecko, ein dicker
Familienvater, ein etwas Schlankerer mit nachwachsendem Schwanz und
ein Winzling (ein Scheibenfinger, eine andere Art, wie ich
herausfand), hatten sich in meiner Bude eingefunden. Zu meinem
Erstaunen zirpten, schnalzten und quakten sie sogar. Ihre Anwesenheit
hatte etwas Beruhigendes, und belustigend war es, ihrer Jagd
zuzuschauen. Man glaubt gar nicht, wie oft sie danebenschnappen und
dann loswatschelten, um die Beute doch noch zu erwischen.
Sie
wurden nun ein Opfer meines Kampfes gegen Mäuse, die mich mehr als
eine Nacht wachhielten, die meine Nahrungsmittel und meine Decken
anfraßen, auch tagsüber auf dem Computer herumhüpften und
sich ganz ungeniert unter meiner Matratze ein Nest zu bauen anfingen.
Weder Fallen, noch Gift zeigten Wirkung; Deshalb griff ich auf
Empfehlung eines spanischen Gärtners zu einem Superkleber (der in
Hamburg auch gegen Tauben eingesetzt wird). Von den Mäusen habe ich
seither nichts mehr gesehen und gehört.
Doch
eines Morgens fand ich den mittleren Gecko auf dem Rücken liegend
festgeklebt an diesem Teufelszeug. Ich konnte ihn nur noch töten.
Das Merkwürdige nun ist, daß seither die beiden anderen Geckos
meine Wohnung verlassen haben. Offenbar verfügen sie über ein
Warnsystem wie Mäuse oder Ratten. Will versuchen, darüber
etwas herauszubekommen. So schade ich ihr Verschwinden finde,
bin ich doch froh, daß sie nicht auch noch Klebeopfer werden.
Heute
Nacht einen erotischen Traum gehabt, in dem zum ersten Mal wieder
nach Jahrzehnten meine Mutter auftauchte. Ich saß schmusend mit
einer Frau zusammen - weiter passierte gar nichts - und plötzlich
saß da meine Alte mit am Tisch. Einfach so, jedenfalls erinnere ich
kein Gespräch. Und sofort bekam ich Hemmungen, fühlte mich
kontrolliert. Ausnahmsweise hatte sie die Rolle einer ehemaligen
Freundin eingenommen, die sonst immer in entscheidenden Momenten
auftaucht. In einem solchen Zusammenhang ist mir allerdings meine
Mutter noch nie im Traum erschienen.
Vielleicht
weil ich gestern an sie im Zusammenhang mit meinen Aidstest denken
mußte. Hatte mir doch dieses Aas bei meinem Auszug zur Universität
als Denkspruch mit auf den Weg gegeben: Wenn du mit Mädchen gehst,
dann wirst du krank. Unaufgeklärt und dumm, wie ich war, hat dieser
Spruch über Jahre hinweg Beziehungen zu Frauen unmöglich gemacht -
aus lauter Schiß. Nun, und gestern mußte ich daran denken, daß ihr
blöder und hinterhältiger Spruch sich in den heutigen Aidszeiten
in jeder Hinsicht, selbst in seiner harmlosesten Variante, auf
fatale Weise bewahrheitet. `Mit einem Mädchen gehen'
beinhaltete früher ja alles, vom Küssen bis zum Bumsen.
Und streng genommen kann es heute nicht einmal harmlose Küsse
geben. Wer sagt mir denn, daß die Frau nicht positiv ist, ohne
es zu wissen, sich vielleicht gerade selbst befriedigt und den Finger
auch in den Mund gesteckt hat? Oder daß sie nicht gerade einem
Typen einen abgelutscht hat? Aber so etwas kommt wohl im Denken
der Scheißer von Beratern nicht vor. Also wäre im Grunde die
einzige Sicherheit Himbeersaft. Anstatt. Wie in den alten
prä-Pillen-Zeiten. Nun, die Präser mit Himbeergeschmack gibt es ja
auch schon. Wenn das Sexualität sein soll, dann kaufe ich doch
gleich lieber eine Gummipuppe. Und ich kenne Frauen, für die dann
der Schäfer oder ein Dildo die weitaus bessere Alternative ist.
Nun
ja, vielleicht haben die Berater so Unrecht nicht. Wenn man die neue
Analyse im Spiegel über die männliche Impotenz liest, dann weiß
man ja, daß Ficken und all diese Sauereien Gottseidank kaum noch
vorkommen. Das einzig Dumme an der Geschichte ist allerdings,
daß wir auf diese Weise aussterben könnten, zumal die Qualität und
Quantität des Samens immer miserabler werden. Also werden flugs
Forschungsinstitute gegründet, um diesem Mysterium auf die Spur
zu kommen. Dabei ist es doch nur folgerichtig, daß einem in dieser
Gesellschaft selbst die Lust auf's Ficken vergeht.
Aber
je weniger gefickt wird, umso mehr wird von Liebe gequatscht.
Kein Song, kein Lied weder bei uns noch hier in Spanien oder
sonstwo oder auf den internationalen Hitlisten, in dem nicht von
Liebe, Liebe, Liebe bis zum Erbrechen geheult und geschluchzt wird.
Eins verlogener als das andere. Ich liebe nur dich und ich werde
immer treu sein und ich werde alles für dich tun und ich gehe für
dich in den Tod. Alles Kitsch, weil dem allen kein echtes Gefühl
zugrundeliegt, weil das alles schon hunderttausend Mal gesagt
wurde, nur viel besser. Wie das in der Praxis aussieht, sehen wir,
wenn diese Typen sich scheiden lassen und die Messer gewetzt werden
und um Millionen gechincht wird.
Jedenfalls
hat man ein neues Problem. Neben dem Aidsproblem nun das
Spermaproblem und das Problem der Fortpflanzung und das Problem der
Erziehung und der Drogen und auch die Leichen werden zunehmend zu
einem Problem, weil sie derart vergiftet sind, daß sie das
Grundwasser verseuchen.
Dabei
ist das einzig wirkliche Problem für diese Welt der Mensch. Genauer:
Seine Unmenschlichkeit. All das, was von aufgeklärten Menschen
aller Zeiten und Länder als menschlich angesehen wurde, das
gilt heute nicht mehr. Die Menschheit ist global gesehen dasselbe,
was der Autofahrer im kleinen ist: Eine Gefahr für die Mitmenschen
und die Umwelt, leider eben nicht nur für sich selbst.
(1998)
Ein englisches Ameisenforscherpaar hat nachgewiesen, daß die Erde in
dem Augenblick kollabieren würde, wo die Ameisen verschwinden
würden, deren Biomasse größer als die der Menschen ist. Würden
umgekehrt die Menschen verschwinden, wäre das für die Welt nicht
nur nicht ohne negative Folgen, sondern eine Wohltat. (1998)
Welch
brutales und zynisches Verhalten steckt dahinter, wenn sich
`zivilisierte' Menschen täglich am Fernsehschirm die Vernichtung
von Millionen Mit-Menschen - ich denke nicht allein an den Golfkrieg
und den Jugoslawienkrieg und den Angolakrieg und den Somaliakrieg,
sondern vor allem auch an die schleichende Vernichtung durch
Hunger und Krankheit - genüßlich anschauen, dazu ihr Bier
saufen und Käsecracker fressen. Natürlich tragen in erster
Linie die großen Verbrecher in den Multis und den Regierungen
die Verantwortung, aber freisprechen kann man den Einzelnen nicht.
Wir alle tragen dafür die Verantwortung und eine Gesellschaft,
die so etwas geschehen läßt, hat ihr Bleiberecht auf diesem
Planeten verwirkt. Je schneller sie verschwindet, desto besser.
Aber
auch das ist nur ein Wunschtraum. Sie wird wohl nicht so schnell
verschwinden, ohne nicht vorher noch viel mehr Unheil anzurichten.
Ohne vorher noch mehr Völker und Tiere und Pflanzen ausgerottet
zu haben. Mit welchem Recht? Dem Recht des Stärkeren. Was wir
gleichwohl nicht wahrhaben wollen. Wir sind derart verbogen und
verkorkst, daß wir die dem System inhärente Gewalt gar nicht
wahrnehmen bzw., wenn man der Argumentation von Günther Anders
folgt, gar nicht mehr wahrzunehmen vermögen.
Die
unserer Demokratie inhärente Gewalt etwa, die auf dem
Mehrheitssystem aufbaut. Abgesehen davon, daß die Mehrheit eine
Fiktion ist - alle unsere Regierungen stützten sich auf maximal 40 %
der Bevölkerung, in der Regel eher auf 30% - bedeutet Mehrheit
immer Vergewaltigung der Minderheit, die im schlechtesten Falle 49,9
% betragen kann. Abgesehen auch davon, daß die Mehrheiten, wie
sie in den westlichen Demokratien durch die Parteien-Mischpoke
zustandekommen, auch ein Witz sind. Oder die Gewalt, Menschen in der
Sahelzone zu zwingen, Sojabohnen für unsere Schweine anzubauen,
damit wir drei Schnitzel am Tag fressen können. Die permanente und
allgegenwärtige Werbung für Autos, obwohl man weiß, daß
jeder Autofahrer ein potentieller Mörder ist. Unser ganzes
System der Erziehung ist eine einzige VerGEWALTigung. Die Liste
ließe sich endlos fortsetzen. All das sehen wir als normal und
selbstverständlich an. Und derjenige, der das nicht akzeptieren
will, der ist anormal.
Lese
von Virginia Woolf die Zeilen: "Es war verwunderlich, dachte
sie, wie man sich, wenn man allein war, Dingen zuneigte,
unbeseelten Dingen; Bäumen, Bächen, Blumen; fühlte, wie sie einen
zum Ausdruck brachten; fühlte, daß sie zu einem selbst wurden;
fühlte, sie kannten einen, waren in gewissem Sinn man selbst; und
daher eine unvernünftige Zärtlichkeit für sie empfand, wie für
einen selbst." Ich würde ergänzen, daß auch man selbst sie
zum Ausdruck bringt, in intensiven Momenten Baum wird oder
Stein. Und warum sagt sie denn unvernünftig? Schon als Kind
war es für mich ein Drang, Bäume oder Pflanzen zu streicheln, mit
ihnen zu sprechen. Bis heute habe ich davon nicht abgelassen. Und die
Wissenschaft hat dieses Verhalten als vollkommen vernünftig
bestätigt. Aber nur derjenige, der für sich selbst eine
vernünftige Zärtlichkeit und Liebe empfindet (so lange es nicht in
Narzismus ausartet), kann für Dinge, Pflanzen, Tiere und seine
Mitmenschen Zärt-lichkeit empfinden. Das würde auch die Vernunft
gebieten. Aber weder sind wir zärtlich, noch sind wir
vernünftig.
Hier
liegt auch der Schlüssel dafür, was mir als Jugendlichem so
unverständlich war: Daß ein Verbrecher wie Hitler seine Hunde
liebte oder Himmler ein zärtlicher Familienvater war, der obendrein
klassische Musik liebte. Solche Menschen haben ein gestörtes
Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, ihrem Ich. Sie lieben nur das
ihnen Äußerliche. Deshalb der Drang nach Macht und Besitz. Sie sind
und bleiben, wie Ivar Lo-Johannsson es ausdrückte, ewige
Pubertanden. Sie alle, die Wirtschaftsbosse, Politiker, Bankiers
und Generäle.
Nun
kann man sich natürlich fragen, wieso sich die große Mehrheit
der Menschen von einer Handvoll Pubertierender, d.h.
Noch-nicht-Erwachsener, ins Bockshorn jagen läßt? Bockshorn ist ein
blanker Euphemismus und steht für Krieg, Hunger und Elend. Weil die
große Mehrheit der Menschheit ebenso veranlagt ist. Man braucht sich
nur anzusehen, mit welcher Begeisterung die Menschen immer wieder in
den Krieg ziehen, wie viel Verständnis sie auch im Frieden für
die Sandkastenspielchen der Militärs übrig haben. Mit welcher
Ehrfurcht die Mehrheit der Menschen dem Adel gegenübersteht, diesem
erbärmlichen Verbrechergesindel, das sein Dasein nackter
Gewalt, Mord, Totschlag und Raub verdankt.
Gleich
klinkt mir das Genick aus, weil ich den Geckos bei der Jagd zuschaue.
Schon viermal hat sich der Dicke jetzt schon vergriffen. Er muß
heftigen Hunger haben, denn von seiner gewohnten Lethargie ist
nichts zu spüren. Er bleibt hartnäckig dabei. Es sieht aus, als
würde er auf Zehenspitzen sein Opfer anschleichen. Und wenn er der
Beute näherkommt, dann geht vor Aufregung das Schwänzchen wie bei
einer Katze. Ja, seit gestern sind sie wieder da - der Dicke und
zwei Mittlere. Nur den Winzling habe ich noch nicht gesehen. Und
jetzt hat der Dicke gerade das rechte Hinterbein gehoben und einen
Scheißhaufen an die Wand geklebt. Der muß sich jedenfalls sein
Brot auch hart verdienen. Vielleicht ist er mir deshalb so
sympathisch. Er ist das fünfte Mal gescheitert. Die Fliege ist
jetzt auf der Hut und fliegt schon davon, wenn er etwa 5 cm entfernt
ist. Ich frage mich sowieso, wie solch ein Koloß sich jemals einer
Fliege unbemerkt nähern kann, auch wenn er noch so vorsichtig seine
Beinchen setzt.
Nun
hat er sich ganz vorsichtig dem mittleren Tierchen in der Ecke
genähert, wobei er einen Buckel schob. Als er auf wenige Zentimeter
heran war, trat das Kleine schleunigst den Rückzug nach unten hinter
den Schrank an. Das sah allerdings nicht wie eine Vertreibung aus,
sondern eher nach einem Liebesspiel. Das kleinere Tier ist ja
vielleicht ein Weibchen. Er folgte ihm ein Stück abwärts, drehte
dann aber wieder um. Nun kratzt er sich hinter dem Ohr. Es sind
wirklich putzige Tierchen. Ich verstehe gut, daß man der Faszination
der Verhaltensforschung erliegen kann.
Rosa
Montero hat in der Wochenbeilage von El PAIS einen längeren
Essay über Spanien und die Spanier geschrieben. Sie führt die
Rücksichtslosigkeit und das unsoziale Verhalten der Spanier
gegenüber ihrer Umwelt darauf zurück, daß sie ausschließlich
auf ihre Familie, ihre Arbeitskameraden und Freunde ausgerichtet
seien und der Rest einfach Feindesland sei. Als Beispiel führt
sie an, wie die Spanier ihr Haus blitzblank halten, aber allen
Dreck über die Mauer werfen, auf das feindliche Territorium.
Dieser Gedanke ist bestechend, aber trifft nicht das Wesentliche.
Denn bei uns, mit einem ganz anderen sozialen Verhalten, sieht es im
Grunde nicht anders aus. Zwar haben wir einen gewissen Lernprozeß
(der rückläufig ist, wie mir scheint) durchgemacht, aber Dreck ist
überall zu finden. Allerdings, wie ein spanischer Ökologe mir
einmal zu Recht vorhielt, ist er bei uns auf Grund des üppigen
Wachstums nicht immer gleich sichtbar.
(rot)
Und doch sichtbar. Vor einigen Wochen machte ich mit Uli einen
Spaziergang zu seinem Dorf in der Heide hinaus. Da lagen im Schnitt
rechts und links einer sehr kleinen, wenig befahrenen
Straße alle zwei Meter eine Büchse, Flasche,
Zigarettenschachtel, Plastiktüte. D.h. pro
Straßenmeter ein Gegenstand. Und an den Autobahnen sieht es nur
deshalb sauberer aus, weil dort regelmäßig der Dreck
tonnenweise weggekarrt wird. (rot)
Diesem
Verhalten liegt eine Señorito-Einstellung und/oder Konsumhaltung
zugrunde. Der Señorito ist in Spanien der Feudalherr, der es
sich leisten kann, alles fallenzulassen, wo er steht und geht, weil
er weiß, daß hinter ihm genug dienstbare Geister her sind, die
alles wieder einsammeln und an seinen Platz bringen. Und weil der
Bürger und Kleinbürger nun einmal gerne den Adel nachäfft, hat er
sich auch dieses Verhalten zugelegt. Im privaten Bereich hat er Frau
und Kinder zum Gesinde degradiert und im Betrieb und der
Öffentlichkeit gibt es ja die Kulis, die unseren Dreck wegmachen.
(1998)
Dazu fällt mir `el filosofo' ein. Ein kleiner spani-scher Jude aus
einer reichen und berühmten Familie, mit der er sich aber überworfen
hatte. Er `studierte' in Hamburg, wo ich ihn auch kennenlernte. Er
hatte nie gelernt, für sich selbst zu sorgen, da es ja zuhause genug
dienstbare Geister gegeben hatte, die für ihn sorgten und seinen
Dreck wegräumten. El filosofo löste das Problem, indem er immer
dasselbe Hemd, dieselbe Hose und Jacke anhatte, was natürlich
im Laufe der Zeit dazu führte, daß er etwas streng roch. Dem und
seinen Schnorrer-Angewohnheiten zum Trotz war er beliebt, weil
er geist-reich und witzig war. Eines Tages liefen Jesus und ich durch
den Hamburger Hauptbahnhof, als es hinter uns rief: "Einar,
Jesus!" Wir drehten uns um: Nichts. "Einar, Jesus!"
Ein ge-schniegelter und gebügelter Typ kam auf uns zugerannt, den
wir nach dreimaligem Hinsehen als den filosofo erkannten. Was war
passiert? Auch wenn ich nur ungern daran denke, muß ich es
berichten. In das riesige Zimmer, das ich an der Alster gemietet
hatte, brachte ich eines Abends ein Mädchen mit, und wir vögelten
auch, obwohl ich eigentlich keine Lust hatte (was ich wirklich als
unverzeihlich betrachte, weil es veerlogen ist) - vorsichtig,
vorsichtig, weil sich nämlich drei Typen - Ferry, ein
Iraner, der Spanier Jesus und am Ende auch noch el filosofo in
meiner Bude einquartiert hatten. Ich mußte am Morgen früh zum
Jobben und habe das Mädchen nie wieder gesehen. Sie also
hatte sich el filosofo gegriffen (oder war es auch umgekehrt)
und hatte ihn offenbar auf Vordermann gebracht. Diese meine
unverzeihliche Lüge ist doppelt unverzeihlich geworden,
weil ich Jahre später in Spanien zufällig im Stern las,
daß `el filosofo' seine Freundin aus Eifersucht umge-bracht
hatte. (1998)
Ich
bin immer der Auffassung gewesen, daß jeder seinen eigenen Mist
wegmachen sollte, denn seine Beseitigung durch andere finde ich
entwürdigend für beide Seiten. Damit meine ich auch das
Sockenstopfen, Spülen, Hosenwaschen und Putzen. Zu denken, daß ein
Mann seine Frau oder Freundin zum Sockenstopfen anstellt!
Und daß eine Frau das mitmacht, statt dem Typen die Stinklappen
stundenlang um die Ohren zu hauen!
In
unserer WG in Frankfurt - es waren die 68-er - geriet ich
fürchterlich mit einem Freund und Genossen aneinander, weil er sich
zum Putzen, sobald er an der Reihe war, seine Freundin bestellte. Er
hätte das nie gemacht, weil er von seiner Mutter verwöhnt worden
sei - er stammte aus Arbeiterverhältnissen im Ruhrpott - und würde
sowieso alles falsch machen. Man konnte mit ihm fabelhaft
diskutieren, er hatte ein phänomenales Gedächtnis und ein
hervorragendes analytisches Denken und saufen konnte man mit ihm
auch, nur zum Putzen ließ er sich nicht herab. Aber es gehören
schließlich zwei dazu, und sie machte es aus Liebe oder Mitleid oder
was weiß ich. Sie rächte sich jedenfalls auf ihre Weise, indem
sie sich manches Mal zu mir ins Bett legte.
(1998)
Ach, was sind wir Altlinke doch für Hinterwäldler. Die
sozialdemokratische schwedische Superministerin Mona Salin bricht
engagiert eine Lanze für das steuergünstige Anstellen von Putzen
und Kindermädchen. Sie hat uns auch gleich vorgemacht, wie sie
sich das eigentlich denkt: Ihre Putzfrau gar nicht erst anmelden. Sie
lieferte ja schon öfters Beispiele ihrer Vorstellungen von `linker
Solidargemeinschaft', indem sie etwa mit ihrer Ministerkontocard
privat einkaufte. Damals flog sie noch raus aus der Regierung, durch
den Druck `der Straße', wie es so schön heißt. Diesmal gab's nur
Gezeter. Ja, wir gehen halt nicht mit der Zeit. Was macht es schon,
daß die Herren und Damen rückwärts meinen? Nämlich in die goldnen
Zeiten, in denen man die dienstbaren Geister in die Besenkammer
stecken konnte, ihnen so gut wie nichts bezahlen mußte und sie auch
für die Befriedigung der männlichen Familienmitglieder vom
Sohnemann bis zum Opa zuständig waren. (1998)
Ich
habe immer wieder Freude an meinem Schreibtisch, den ich selbst
gebaut habe. Er ist fast 2 m lang, auf der einen Seite liegt er auf
einer an der Wand befestigten Leiste auf, auf der anderen Seite auf
einem Stück Telefonmast. Dadurch können verschiedenen
Arbeitsgänge gleichzeitig ausgeführt werden. Als Eßtisch muß er
mir schließlich auch dienen. Der Tisch hat Charakter, genau wie
das Bett, das ich ebenfalls gebaut habe. Wie scheußlich sind dagegen
die Küchenmöbel und der Schrank, die zum Inventar gehören. Wäre
dies mein Häuschen, hätte ich sie längst hinausgeworfen, aber
da ich nur befristet hier lebe, ist dies die billigere Lösung.
Früher
bauten sich viele Menschen ihre Möbel selbst oder ließen sie
vom Handwerker des Ortes anfertigen. Sie wurden vom Vater auf den
Sohn vererbt, blieben in der Familie als ein Charakterzeichen.
Ater
i Stockholm
Städerna
brytas ned
som
människan
Först
tar man bort träden
för
att bredda vägen
och
sa maste husen rivas
dom
är för sma
och
deras rum för stor
och
sen far varje hem
sitt
bord och stol och säng
som
alla bär samma märke
Sa
här förstörs alla minnesmärken
bit
för bit
Hur
skall manniskan sen
hitta
rätt väg?
Dasselbe
Gefühl, das ich vor 20 Jahren in Stockholm hatte, habe ich auch hier
in Spanien immer wieder gehabt. Als ich Spanien vor 35 Jahren
erstmals besuchte, da hatte man noch in
jedem
Haus seine individuellen Möbel, zumindest auf dem Land, wo die große
Mehrheit wohnte. Aber seit Spanien den Ans__luß an Europa gefunden
hat, sieht man hier denselben ekelhaften, abgrundhäßlichen Kitsch
wie in Haparanda, Oxford oder Wolfsburg.
Dies
wurde mir vor einigen Jahren so richtig bewußt, als ich mitten in
Spanien in Manzanares übernachtete. Das Haus selbst war alt mit
einem schönen Patio im Zentrum, in dem eine Treppe in den ersten
Stock führte. Ich war sehr spät angekommen und von den Leuten
freundlich empfangen worden. Die Übernachtung war inklusive
Frühstück, was in Spanien eher die Ausnahme ist. Ich schlief wie
ein Bär und am Morgen wurde mir von der Oma das Frühstück
bereitet. Sie saß und nähte und ihr Gesicht war von Runzeln
überzogen, verriet aber seine einstige Schönheit. Während wir über
dieses und jenes sprachen, schaute ich mir in Ruhe den ganzen Raum
an. Und ich war erschüttert, nicht einen einzigen schönen
Gegenstand zu finden. Nur Kitsch, aber von der überdimensionalen
Art. Die Stühle, der Tisch, die Blumen, die Vorhänge, die
Tischdecke, das Geschirr - alles Plastik. Dann das liebe Jesulein und
Fotos mit "goldenen" Plastikrahmen. Und das, was Oma
da häkelte oder strickte, das war ebenfalls Kitsch. Mit
Blümchen und so. Wie ist es möglich, dachte ich, daß ein ganzes
Volk - denn jenes Zimmer war exemplarisch für alle Zimmer Spaniens -
innerhalb einer Generation, was rede ich, innerhalb einer halben
Generation jeden Sinn für Schönheit verlieren kann? Ist die Kultur
wirklich nur ein ganz dünner Firnis? Gibt es kein Land auf der Welt,
wo sie wirklich Wurzeln geschlagen hat? Wie kann man einen schönen
massiven Holztisch gegen einen Tisch aus Plaste mit wackligen Beinen
eintauschen? Übt der Kitsch und der Schund eine besondere
Faszination aus? Ob Menschen aus dem finstersten Anatolien, aus
Yorubaland oder Sumatra, wenn sie nach Deutschland kommen, richten
sie sich als erstes ihre Bude mit all diesem Schrott ein. Das ist wie
eine äußerst ansteckende Krankheit, eine Pest.
Ein
einziges Mal habe ich es bei den Rätoromanen erlebt, daß man
wenigstens teilweise an den schönen alten Sachen festgehalten
hat, den kunstvoll geschnitzten Tischen und Truhen, sie auch bis
heute nutzt. Nicht zuletzt an der Architektur war das sichtbar.
Nirgends sonst sieht man so viele gut erhaltene oder sorgfältig
restaurierte alte Häuser, die zwar innen modernisiert wurden,
aber nicht, wie so oft bei uns, quasi bis auf die Fassade abgerissen
werden, hinter der dann ein Neubau entsteht. Und ich erinnere
ein Gespräch mit einem Bauern, der einer alten, geschnitzten Holztür
nachtrauerte, die der Großmutter von einem Vertreterfatzke
abgeschnackt wurde, der sie dann an ein großes Hotel verscherbelte,
wo sie heute noch zu sehen ist. Aber schleichend hält auch dort das
moderne Mobiliar seinen Einzug, werden auch dort `moderne'
Bauernhäuser gebaut, die jede Anknüpfung an traditionelle
Architektur vermissen lassen. Ein Grund dafür dürfte sein, daß
niemand mehr solche Truhen schnitzt, weil sie unbezahlbar wären.
Und mit der Zeit gibt es auch niemanden mehr, der sie schnitzen
könnte. Also kaufen die Reichen die schönen alten Dinge (denn alle
Ärmeren geraten irgendwann in Geldnöte), stellen sie bei sich auf,
wo sie funktionslos herumstehen, und verkaufen den Armen dann den
Schund. Begleitet von einem Reklame-Trommelfeuer, daß man mit der
Zeit gehen und sich `modern' einrichten müsse. Und dann bekommen die
Armen den Spruch zu hören, daß guter Ge-schmack eben schon immer
etwas teurer gewesen ist. Das ist dann der Gipfel des Zynismus.
Großen
Anteil an dieser Entwicklung hatten natürlich auch die Millionen von
Landflüchtigen, die in die Städte zogen und es besonders eilig
hatten, zu richtigen Städtern zu werden, um nicht als Bauerntölpel
zu gelten. Von denen bekamen die Zuhausegebliebenen, die Alten,
dann zu hören, daß sie doch endlich den alten Scheiß auf den Müll
werfen sollten. Irgendwann merkte zwar auch der dümmste Bauer,
daß er das Zeug zu Geld machen konnte, wurde aber von den
Antiquitätenhändlern natürlich über den Tisch gezogen. Aber das
änderte nichts an der Sache. Als die Antiquitätenfritzen
Deutschland gründlich leergekämmt hatten, schwärmten sie nach
Frankreich und England aus, und seit einiger Zeit haben sie ihr
Betätigungsfeld weiter nach Osten, nach Polen und in die
Tschechoslowakei verlegt, manche sogar schon nach Übersee, zu den
`Eingeborenen', den `Wilden'.
Wie
oft habe ich in Tanzania beobachtet, wie junge Weiße ihre alten,
abgerissenen Jeans gegen wertvolle Trommeln, Waffen und
Kunstgegenstände eintauschten und sich dann damit brüsteten, wie
sie diese Affen auf's Kreuz gelegt hätten. Mit derlei Schweinereien
`verdienen' die sich ihre Weltreisen.
Aber
wie kann man nur alles so eng sehen! Das sind eben geschäftstüchtige
junge Leute, die sich ihre ersten Lorbeeren für einen Managerposten
verdienen. Heute sitzen doch schon die kleinsten Gören an jeder Ecke
und lernen, ihr Kinderzimmer Stück um Stück zu verkaufen. Und
manchmal auch was aus Muttis Nippesschrank. Können nicht lesen,
nicht schreiben, aber die Märker, die können sie zusammenzählen.
Sie lernen beizeiten, worauf es in unserer Gesellschaft ankommt. Man
braucht sich ja nur anzuhören, mit welchem Zittern in der Stimme der
Mann von der Straße haucht: Er ist Geschäftsmann. Was heißt denn
das anderes, als daß der es versteht, seinen Mitmenschen das Fell
über die Ohren zu ziehen?
Das
einzige Gebiet, auf dem die Menschen an ihrer `Kultur' eisern
festhalten, ist das Fressen. Und da sind sie alle gleich, ob Chinesen
oder Deutsche, Franzosen oder Engländer, Tanzanier oder Mexikaner.
Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht. Nach diesem Motto.
Obwohl man den Deutschen immer wieder vorwirft, sie besonders würden
überall, ob an der Costa Brava, auf Hawai oder in Toronto auf ihrem
Eisbein mit Sauerkraut bestehen, halte ich diesen Vorwurf für
nicht ganz gerecht. Sie sind vergleichsweise sogar liberal, d.h.
es gibt eine große Zahl, die sich mit fremdländischer Küche und
allen ihren exotischen Zutaten anfreunden. Kein noch so kleines Dorf
mehr, wo nicht das `Gasthaus zur Linde' von einem Griechen oder
Chinesen betrieben wird. Da sind die Franzosen, Spanier, Engländer
oder Chinesen wesentlich orthodoxer. Von den Amis ganz zu
schweigen.
Gleichwohl
bleibt als Fazit: Die Kultur der Menschheit reduziert sich
letztendlich auf das Fressen, trotz starker Tendenzen zur
Mcdonaldisierung. Ich rede von der heutigen Kultur, nicht von dem,
was war und in den Museen modert. Auch nicht von den mehr oder
weniger staatlich bestallten Klecksern und Schreiberlingen und all
denen, die es gerne werden wollen. Ich spreche von dem consumismo,
der uns idiotisiert - wie der Spanier Antonio Enrique es
ausdrückt - der uns vor allem fett und gelangweilt macht. Und er
fährt fort: "Man könnte sagen, daß der Mensch unserer Zeit
umso mehr seine Anmut verliert, je mehr er sich von der Natur
entfernt." (Alpujarras, S. 207)
Genau
dies ist mir vor über zehn in Portugal besonders deutlich
geworden, als ich in den Kneipen oft Väter und Söhne nebeneinander
beobachtete. Die Alten haben Figur und ein Gesicht und eine gewisse
Anmut, während die Söhne nur fett sind, so lang wie breit wie dick.
Keine Proportion stimmt mehr, was bei ihrem kleinen Körperbau extrem
auffallend ist. Und natürlich verlieren sie damit jede, aber auch
jede Anmut.
Aber
nicht nur das äußere Erscheinungsbild leidet unter diesem
consumismo, sondern der ganze Mensch. Wie jüngste Untersuchungen
erneut bestätigen, trägt die Langeweile zu einem ganz erheblichen
Teil die Schuld an zahllosen Erkrankungen. Menschen, die sich
bei der Arbeit langweilen, und das sind ca. 70%, sind bis zu viermal
häufiger krank als andere. Und krepieren werden sie wohl auch eher
als die anderen. Tödliche Langeweile! Der Volksmund weiß es, man
weiß es, wir wissen es. Und Krankheiten deformieren zusätzlich,
geistig, seelisch und körperlich.
Aber
wie sollen gelangweilte Langweiler sich ihrer Situation bewußt
werden, geschweige denn, sie ändern können? So wenig wie ein Idiot.
Ich breche nicht den Stab über diese Menschen, gerade weil sie nicht
bewußt handeln können. Es sind santos innocentes - heilige
Unschuldige - wie es im Spanischen heißt. Sie wurden von den
Mächtigen zu Deppen gemacht, neutralisiert. Selbst in ihrer
Bestialität, mit ihrer Unduldsamkeit und ihrem Rassismus, sind sie
im gewissen Sinn Unschuldige. Die wirklich Schuldigen sitzen ganz
woanders.
Da
fällt mir das große Gut ein, auf dem ich mit 18 Jahren als Volontär
arbeitete. Es lag bei Coburg und war, wie man heute sagen würde,
sehr diversifiziert. Es gab Weiden für die Milchkühe, an die
tausend Hühner, Schweine- und Stierzucht, Obstbau und
Erdbeerfelder, Anbau von Getreide und Zuckerrüben sowie einige
Hektar Wald. Außer mir waren 12 Arbeiter und Arbeiterinnen
angestellt. Darunter gab es einen älteren boshaften Kerl, der
einen jungen Deppen ständig zu irgendwelchen Schandtaten
anstiftete und seine Hände immer in Unschuld wusch. Wir luden
Zuckerrüben vom Leiterwagen auf Eisenbahnwaggons um und ich sammelte
gerade die dazwischen gefallenen Rüben ein, als ich ein solches Ding
aus 4 m Höhe ins Kreuz, d.h. genau auf die Niere bekam. Ich klappte
zusammen wie ein Taschenmesser, sah nur noch das höhnische Grinsen
des Alten und das blöde Lachen des Deppen. Hätte ich nur gekonnt,
ich hätte ihn umgebracht. Das kann man nicht mehr, wenn 14 Tage
Bettruhe dazwischenliegen.
Genau
diese Funktion des Alten üben Politiker, Manager und Medien aus.
Pfaffen, Lehrer und Generäle nicht zu vergessen. Nur daß sie selbst
obendrein zuerst die Menschen von klein auf systematisch
verblödet haben, dann zu Schandtaten anstiften, sie für Kriege,
Pogrome und für jede Art Idiotenarbeit mißbrauchen. Und am
Ende stellen sich eben alle diese feinen Herren hin und sagen:
Nun schaut euch doch bloß mal an, wie saublöd dieses Pack ist.
Einer
von dieser Sorte war mein Vater. Bis zum bitteren Ende Chefredakteur
der Provinzzeitung in Marienwerder, der ehemaligen Hauptstadt
Westpreußens. Was das bedeutet, brauche ich nicht zu erläutern. Er
war der typische Einpeitscher, der sich den Arsch in der Etappe
wärmte, der in meinen Augen eine 1000-fach größere Verantwortung
als ein einfacher Offizier oder irgendein beliebiges Frontschwein
trug.
(rot)
Die kürzliche Ausstellung in der Kampnagelfabrik über den `Mythos
Deutsche Wehrmacht' hat mir nur bestätigt, was ich schon wußte.
Allerdings wußte ich nicht, wie perfide die Soldaten gerade von
ihren Vorgesetzten zu Unmenschlichkeiten angestachelt wurden,
wie penibel man darauf achtete, daß nichts nach außen drang und wie
sorgfältig die Spuren verwischt wurden. Trotzdem hatte ich mir
niemals über die Wehrmacht Illusionen gemacht. (rot)
Aber
das absolut Unverzeihliche war, daß mein Vater Faschist war und
blieb, obwohl er 1945 erst 36 Jahre alt war, ihm also nicht die
Lernunfähigkeit des Alters als Entschuldigung dienen konnte.
Trotzdem konnte kaum eine meiner Freundinnen, auch kaum einer meiner
Freunde verstehen, daß ich mich von diesem Menschen lossagte.
In den ersten Jahren nach meinem Weggang gelang es ihnen sogar
immer wieder, mir ein derart schlechtes Gewissen einzureden, daß ich
des öfteren Versöhnungsversuche unternahm, die jedoch regelmäßig
katastrophal endeten. Zwischen ihm und mir konnte es einfach
keine Versöhnung geben, weil er von der Richtigkeit seines Denkens
und Handelns absolut überzeugt war. Er kannte weder
Selbstzweifel noch Toleranz. Deswegen hatte er auch keine
Freunde. Selbst mit den zwei oder drei Leuten, die selten genug ins
Haus kamen, verkrachte er sich regelmäßig und gründlich. Der
Mann war ein Panzerschrank. Wenn er Gefühle gehabt haben sollte,
dann müssen die dreifach gesichert im hintersten Fach versteckt
gewesen sein. Ich bezweifle, ob seine Frau jemals an sie hat
rühren können. Sie hat sich an ihm gerächt, genau so feige
und hinterfotzig, wie sie ihr ganzes Leben lang gewesen ist. Indem
sie ihm nach seinem Tod zum Gespött der ganzen Kleinstadt jede Menge
Hörner aufgesetzt hat, sie, die immer die treue, anständige
deutsche Frau herausgekehrt hat.
Natürlich
ist sie im Grunde ein armes Luder gewesen, doch von wem kann man das
nicht sagen und damit alles rechtfertigen? Mit 13 lernte sie ihn
kennen, heiratete mit 17, bekam zwei Kinder, die nach wenigen Monaten
starben, und mit 21 Jahren wollte sie die Flatter machen. In dem
Moment hatte mein Vater einen Unfall, bei dem er ein Bein verlor und
sie merkte, daß sie schwanger war - mit mir.
Als
ich diese Geschichte später von meiner Großmutter hörte, wurde mir
manches klarer, vor allem ihr Haß auf mich, der schon von dem
5-jährigen nach Kräften erwidert wurde. Doch ihr Ausbruchversuch
hätte sie mir beinahe etwas sympathisch machen können, wäre er
nicht von ihr mit einer geradezu hündischen Unterwerfung kompensiert
worden. In allem war sie wie er, nur zweihundertprozentig. Sie half,
mich festzuhalten, damit er mit seinem Knüppel, den er als
Behinderter immer bei sich trug, besser draufhauen konnte. Sie
denunzierte und schwärzte an, machte aus einer Fliege einen
Elefanten und verdrehte und giftete und, wenn es sein mußte, log sie
auch. Sie war obendrein faul im Denken und Handeln. Wenn Arbeit
anlag, zog sie sich gewöhnlich auf ihre Migräne, Kreuzschmerzen und
sonstigen diversen Krankheiten zurück. Politisch betete sie alles
nach, was der Alte vorgekaut hatte, und am liebsten las sie
Angélique, vor und rückwärts, während sie irgendwelche
Eierwärmer oder Ärmelschützer häkelte. Das tat sie auch während
des Kochens, so daß prinzipiell alles 4-fach anbrannte, an
allen vier Seiten. Obendrein war das Essen nie gewürzt, weil meine
älteste Schwester mit 12 Jahren eine schwere Diabetes bekam. Der
Einfachheit halber kochte meine Mutter dann eben für die ganze
Familie ungewürzte Diät. Nie mehr danach habe ich so einen Saufraß
bekommen wie zuhause, nicht einmal in der Studentenzeit, als das
Geld nur für Haferflocken und Milch langte. Das hat mir
jedenfalls besser geschmeckt, weil es zumindest nicht angekokelt
war.
Wenn
dieses Zuhause etwas Gutes für mich gehabt hat, dann das, daß ich
nicht in einen ebensolchen geistigen, seelischen und emotionalen
Abgrund gestürzt bin. Das Nuttendasein einer verheirateten
Frau hat mir den rechten Anschauungsunterricht gegeben, um mich
für alle Zeiten gegen Ehegelüste immun zu machen. Ich meine
natürlich die nicht arbeitenden Frauen, die nur faul zuhause
herumhängen. Es ist ja nicht so, daß sie wie im Mittelalter
irgendeine ökonomische Funktion hätten. Das, was sie Arbeit nennen,
ist zu 90% Beschäftigungstherapie und wäre im Handumdrehen
erledigt, wenn sie nicht so chaotisch und desorganisiert wären. Sie
müssen natürlich, genau wie die Bürokraten, möglichst viel
herumwirbeln, um den Schein einer Existenzberechtigung zu wahren.
Umso
mehr bewundere ich alle Frauen, die es schaffen, aus einem
solchen Horrorkäfig auszubrechen. Wie sie es geschafft haben, sich
über Jahre einen Rest Empfinden für Anstand und Menschenwürde zu
bewahren, das ist mir ein Rätsel. Emotional und sexuell können sie
sich meist nicht mehr regenerieren, nicht in dem Sinne, wie es uns im
Zuge des Backlash weisgemacht wird, weil sie sich emanzipiert
haben, sondern weil sie es spät, oft zu spät getan haben, weil es
überhaupt notwendig war, weil sie nicht von vornherein als Menschen
aufwachsen konnten. Aber die Regenerierung der Menschenwürde ist ja
wahrlich nicht wenig.
Wahrscheinlich
sind es nur solche Frauen, die wenigstens irgendwann einmal
Träume hatten, die aber im Laufe des `Vernünftigwerdens'
zugemüllt wurden. Und plötzlich brechen sich jene Träume wie die
Radieschen in meinem steinigen Garten mit dem steinharten Boden Bahn.
Aber Mut gehört auf jeden Fall zu einem Neubeginn.
Doch
der Mut reicht nicht, um aus der emotionalen Misere herauszukommen.
Dieser Bereich ist zu sehr durch Konventionen und Tabus abgeschottet,
als daß er sich so ohne weiteres öffnen ließe. Weder ist es mit
ein bißchen Rumbumsen getan, noch mit der Neuauflage der alten
Zweierkiste. Auch wenn sie qualitativ verschieden ist, d.h.
nicht mehr die Kriterien Geld, Macht und Ansehen entscheidend sind,
so bleibt das zugrundeliegende Muster doch das gleiche: Der
Traum von ewiger Liebe und Treue. Dieser Traum - ob mit Ehe oder ohne
- ist millionenfach gescheitert, was Millionen nicht hindert,
ihn immer wieder von neuem zu träumen.
Gut,
diese Frauen verdienen nun selbst ihr Geld und können sich ihre Bude
nach ihrem Geschmack einrichten und brauchen nicht mehr den Alten zu
fragen, ob sie einen Blumentopf ins Fenster stellen dürfen. Nur, was
ist das für ein Geschmack? Was ist das für eine Bude? Was ist das
für ein Denken? Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß das
alles sich nicht radikal vom alten Leben unterscheidet, daß dem kein
neuer Lebensentwurf zugrundeliegt.
Du
mit deinem neuen Lebensentwurf, höre ich Freunde sagen. Als ob du
nicht kläglich gescheitert bist. Ja, ich bin kläglich gescheitert.
Aber das lag nicht an dem Entwurf, sondern an meiner
Unzulänglichkeit, der meiner Gefährtin, meiner Freunde und
Freundinnen. Und daran, daß es natürlich höllisch schwierig
ist, so etwas in einer Gesellschaft zu versuchen, die in allem das
Gegenteil behauptet, tut und gegebenenfalls mit Gewalt
durchsetzt. Allein die Erziehung meiner Tochter! Es wird mir heute
noch übel, wenn ich daran denke.
Die
Misere ging schon in dem städtischen Kindergarten los. Die
Kindergärtnerin nahm nach zwei Wochen meine Freundin auf die
Seite und fragte vorwurfsvoll: Wie haben Sie denn Ihr Kind
er-zogen! Die Toiletten hatten keine Schlösser, weshalb die Lütte
mit einer Hand die Tür zuhielt, dadurch mit dem Arsch aber nicht so
richtig die Kloschüssel erreichte und regelmäßig daneben
pißte oder schiß. Und das, nachdem sie zwei Jahre in Frankfurt
einen antiautoritären Kinderladen besucht hatte und eifrig wie alle
anderen auch `Doktorles' gespielt und den Jungens beim Pinkeln
den Pimmel gehalten hatte.
Aber
Kinder spüren instinktiv, wenn Erwachsene eine negative
Grundeinstellung zur Sexualität haben. Es bedarf gar keiner Verbote.
Man braucht sie nur einfach nicht bejahen. Deshalb können aus
sogenannten aufgeklärten Häusern genauso verklemmte Typen
hervorgehen wie aus repressiven Elternhäusern. Im Gegenteil: Je
größer die Repression, umso eher bricht jemand aus purer Opposition
aus.
In
Freiburg/Bg., diesem gottverdammten Pfaffennest, habe ich mehr
lustbetonte und selbstbewußte Frauen getroffen als in dem ach so
liberalen protestantischen Norden. Das Perfide ist, daß Duldsamkeit
lähmt. Der junge Mensch hat keinen direkten Gegner, an dem er
sich messen kann, keine klar umrissenen Verbote, die er
übertreten kann. Man ist ja so verständnisvoll und verzeihend und
duldsam. Aber unausgesprochen gibt es die Verbote und der Gegner
steckt hinter einer freundlichen Maske. Und seine Rache ist umso
furchtbarer, weil man doch seine Freundlichkeit mißachtet hat, weil
man die Duldsamkeit mißbraucht hat. Der rächende Gott der
Protestanten, der alles sieht, ist ja viel furchtbarer als der der
Katholiken, den man mit Beichte und dem Ableiern einiger Rosenkränze
beschwichtigen kann. Man schaue sich nur einmal die
typisch protestantischen Länder wie England, die USA,
Australien und Neuseeland an. Dieser Puritanismus vereint mit nicht
zu überbietender Heuchelei! Die skandinavischen Länder bilden
da eine gewisse Ausnahme (die Sektiererei wuchert wie nichts Gutes),
weil das Christentum dort erst spät seinen glorreichen Einzug
gehalten hat und kräftig mit Heidentum durchwachsen ist.
Während
der Protestantismus für die Psyche und die Sexualität des
Individuums repressiver als der Katholizismus ist, ist er politisch
liberaler. Politisch gesehen sind die katholischen Länder, mit
Ausnahme Frankreichs, ein Hort der Reaktion und Repression. Auch in
Deutschland hat sich die Reaktion immer um die katholische Kirche
geschart. Aber - wie wir wissen - dies gilt nur für die normalen
Zeiten. In Revolutionszeiten, wenn es um die Macht geht, dann lassen
sich die Protestanten von niemandem rechts überholen. Das hat Luther
in der Bauernrevolution und die überwiegend protestantische
Sozialdemokratie 1918 bewiesen. Ein mieses, verlogenes Lumpenpack,
allesamt.
Doch
es ist ja so, daß das Wesen jeder Religion die Lüge ist. Sie wird
von zynischen Machttypen in die Welt gesetzt (die tumben Fanatiker,
die den Mist wirklich glauben, sind nur die Instrumente) und
produziert notwendigerweise ständig Lüge. Und die Wahrheit muß
notwendigerweise bestraft werden und zwar mit jeder nur erdenklichen
Härte, wie sie das Christentum seit zwei Jahrtausenden exerziert.
Deswegen konnte es nie eine Gesellschaft geben, in der Mut zur
Wahrheit belohnt wurde. Mir ist bewußt, daß damit im Elternhaus der
Anfang gemacht werden müßte, daß auch ich dagegen gesündigt habe.
Wenn ein Kind eine Schandtat gesteht, sollte es geküßt und geherzt
werden wegen des Mutes, den es bewiesen hat. Doch was machen wir? Wir
strafen auf die eine oder andere Weise, denn Strafe muß sein!
Was sind wir für Kleingeister!
Dem
Wesen nach stelle ich mir die Entstehungsgeschichte von Religionen
nicht anders vor als das, was man in jeder Gruppe von Kindern
beobachten kann. Da gibt es immer ein cleveres Bürschchen, das für
alles eine Erklärung hat und den Kleineren Angst vor bösen Geistern
und Gespenstern macht, ohne selbst daran zu glauben, und sich dadurch
eine Machtposition schafft, was nicht ausschließt, daß er im Laufe
der Zeit selbst daran glaubt und sich gelegentlich in die Hosen
scheißt.
Religionen
und jede sonstige Art von Ideologie haben nichts als Elend über die
Welt gebracht, was sich gerade heute wieder in aller Deutlichkeit
zeigt. Nie sind die Menschen schneller dabei, sich gegenseitig die
Köpfe einzuschlagen, als im Namen der Religion. Wenn es nur die
Hirnamputierten selber träfe, hätte man ja nichts dagegen. Doch
trifft es halt auch immer die Ungläubigen, die Toleranten, all jene,
die das Leben in all seinen Erscheinungsformen lieben, die Gewalt
zutiefst ablehnen.
Ich
kann mir denken, daß Marx aus diesem Grund die Religionen so
verabscheute und es ihn schmerzte, daß die Menschen einerseits
nur in der äußersten Not bereit seien, wie er schrieb, die
Revolution zu machen, andererseits aber aus nichtigen religiösen
oder patriotischen Gründen (die ja religiöse Züge tragen) allzu
bereitwillig ihre Haut zu Markte tragen. Weder 1914 noch 1939 noch in
irgendeinem anderen imperialistischen Krieg gab es für das Volk
ökonomisch oder politisch irgendetwas zu gewinnen, aber alles
zu verlieren, was dann ja auch der Fall war.
Es
ist nun einmal so, daß die Rebellion gegen Gott, Kaiser, die Reichen
und Mächtigen ein schlimmeres Tabu ist als der Inzest. Würden
jährlich ebenso viele Menschen auf die Barrikaden gehen, wie
Inzest begehen, sähe die Welt anders aus. Dieses ekelerregende
Duckmäusertum, diese erbärmliche Feigheit, diese schändliche
Angst, die immer einhergehen mit Hinterfötzigkeit,
Niedertracht, Rachsucht und Gewalttätigkeit gegenüber Schwächeren.
Diese Scheißer sind es doch, die jährlich hunderttausendfach
sexuelle Übergriffe begehen, die Kinder und Frauen mißhandeln, die
Tiere quälen und - sonntags in der ersten Reihe in der Kirche
sitzen. Die Angst nimmt den Menschen ihre Würde und macht sie zu
erbärmlichen Kreaturen und von solchen Kretins gehen dreizehn aufs
Dutzend.
Ich
erinnere mich an einen älteren gehbehinderten, aber überaus
starken und wendigen Mann, mit dem ich Anfang der 60-er Jahre ein
großes Kirchenportal in Pirmasens fabrizierte. Er erzählte mir, wie
der Architekt ihn eines Tages derart schikanierte und zur
Weißglut brachte, daß er ihn quer durch die Kirche gejagt und ihm
die Axt hinterhergeworfen habe. Der Kerl verschanzte sich hinter dem
Altar und zog einen Revolver! Er habe ihm zugerufen: "Schieß
doch, du Scheißer. Laß dich bloß nicht mehr hier blicken."
Er habe sich umgedreht und sei an seine Arbeit gegangen. Der
Architekt hat seinen Rat nur zu gerne befolgt. Jenem Mann konnte
niemand seine Würde nehmen. Deshalb bewunderte ich ihn.
Wer
einmal seine Angst verloren hat, dem fällt es schwer, sich die Angst
der anderen vor dem Chef, vor Gott, vor weiß der Teufel was allem,
vorzustellen. Man muß weit in die Kindheit zurückgehen, um diesen
Aggregatzustand zu spüren. Ja, es ist wie das Wasser bei einem
plötzlichen Kälteeinbruch. Es erstarrt und wird zu Eis. So war
es, wenn ich von der Schule heimkehrte und genau wußte, daß mir
dort am Eingangstor zum Kurpark regelmäßig ein viel stärkerer
Kerl auflauerte, um mich zu vertrimmen. Je näher ich jenem
verdammten Tor kam, an dem kein Weg vorbeiführte, umso gelähmter
wurde ich. Die Lähmung ließ erst nach, wenn die ersten Schläge auf
mich niedergingen. Dann wurde ich zum Berserker und wehrte mich mit
allen meinen Kräften. Zwar unterlag ich immer, aber der andere bekam
auch einiges ab, weshalb er es mit der Zeit unterließ.
Nicht
nur die Wut auf den anderen, der mich grundlos schlug, ließ mich so
handeln, sondern auch die Wut auf mich selbst, wegen meiner Lähmung,
wegen meiner Angst, die mich beinahe in die Hosen pissen ließ. Hat
man diese Übung einige Male hinter sich gebracht, dann verliert man
allmählich die Angst. Aber um sie wirklich und für immer zu
verlieren, muß man, bildlich gesprochen, den eigenen Vater töten
oder den, der sonst die höchste Autorität ausübt, ob Gott oder der
Teufel oder manchmal auch die Mutter.
In
meinem Fall war es der Vater, denn dort lag ja die Quelle des Übels.
In Hamburg hatte ich, wie gesagt, regelmäßig Freundinnen, die
mir wegen des Bruchs mit meinen Eltern die größten Vorwürfe
machten, so daß ich ebenso regelmäßig ein schlechtes Gewissen
bekam. "Die Eltern sind nun einmal die Eltern. Und sicher hast
du auch deinen Teil der Schuld. Das mußt du unbedingt in
Ordnung bringen." So ging immer die Litanei. Und ich Idiot bei
der nächstbesten Gelegenheit nachhausegedüst, um mich mit den
Eltern auszusöhnen! Es endete jedes Mal fatal. Mal ging es darum,
daß man meinen Umgang in Zweifel zog, mal darum, daß meine Lektüre
nicht die richtige sei - Villon ist Schmutz- und Schundliteratur -
oder es ging um politische Fragen wie etwa das Verhalten der
Deutschen in Rußland, worüber ich gerade irgendetwas gelesen hatte.
Manchmal dauerte mein Aufenthalt zuhause gerade eine halbe Stunde und
ich schnappte meine Sachen und fuhr mit dem nächsten Zug wieder nach
Hamburg zurück.
Irgendwann
kam es dann zum showdown, zur klassischen Auseinandersetzung,
direkt nach dem Freud'schen Lehrbuch. Den Grund des Streits kann ich
nicht mehr erinnern. Ich stand im Flur im ersten Stock, mein Vater
kam die Treppe hoch und auf der obersten Stufe hob er seinen
Knüppel und wollte wieder einmal auf mich losgehen. Blind vor Wut
und Haß schrie ich ihn an: Na los, hau doch zu. Dann schlag ich dich
tot und werf' dich die Treppe hinunter. Er muß meinen Augen
angesehen haben, daß es mir damit absoluter Ernst war. Er ließ den
Knüppel sinken, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in sein
Arbeitszimmer. Und ich verschwand auf der Stelle nach Hamburg.
Seit jenem mentalen Vatermord hat mich niemals mehr jemand
ungestraft geschlagen und niemals mehr habe ich Angst vor
Autoritäten gehabt.
Das
war kein billiger Sieg, denn ich habe teuer dafür bezahlt. Fast ein
Jahrzehnt verfolgten mich die übelsten Alpträume, in denen die
furchtbaren Fluchterlebnisse, mein knüppelnder Vater und meine
rachsüchtige und nachtragende Mutter zu einem unentwirrbaren
Knäuel verschmolzen. Plötzlich dann - ich war 28 Jahre alt - hörten
sie auf und es war ein Gefühl, wie wenn eine Uhr plötzlich zu
schlagen aufhört. Es fehlt etwas und es dauert, bis man sich dessen
bewußt wird. Da wußte ich, daß ich wirklich meine Angst verloren
hatte.
Wirklich?
Eine Frage, die ich mir wieder und wieder vorgelegt habe: Wie würdest
du unter Folter reagieren? Ich habe mir mit dem Messer in den Arm
geschnitten, um eine Antwort zu finden, aber die Antwort könnte nur
die Realität geben. Mir stellen sich die Nackenhaare einzeln zu
Berge beim Gedanken, aus Angst zu einem Schuft und Feigling werden zu
können. Zwar hatte ich bei der Lektüre von Fallacis "Ein Mann"
das Gefühl: Das bist du. Genauso würdest du reagieren. Aber auch
das kann nur ein Wunsch bleiben.
Ob
Erziehung das leisten könnte? Menschen ohne Angst heranzuziehen?
Ich bin davon überzeugt. Das würde natürlich bedeuten, daß es
auch nicht mehr solche "Menschen" gäbe, die foltern
könnten. Obwohl, das ist leicht gesagt. Wenn dir in allem, was du
sagst und denkst und fühlst und liest und glühend liebst und
schätzt, widersprochen wird. In dem offiziellen und auch
inoffiziellen Leben wurden "wir behandelt, als gäbe es uns
nicht", wie Jan Myrdal schreibt. "Die Verfasser, die wir
lasen, die Klassiker, die wir studierten, die Theorien, die wir
diskutierten, wurden von den offiziellen (und recht gut bezahlten)
Literaturhistorikern aus der offiziellen Literaturgeschichte
gestrichen." Aber nicht nur die Verfasser, sondern auch die
Musiker, die Maler und Denker und Staatsmänner. Alles, was du
sagst und tust, ist gegen den Strich, läuft dem, was man sagt und
tut, zuwider. Und nun versuche mal, dein Kind zu erziehen, das
permanent und überall dem Druck von außen ausgesetzt ist und, wenn
es deinen Worten folgt, automatisch in eine Außenseiterrolle
gedrängt wird. "Du bist gegen alles, total destruktiv",
hörte ich immer wieder von meinen Mitmen-schen. Ja, ich wollte immer
diese destruktive und unmenschliche Gesellschaft niederreißen,
wollte sie "vom Kopf auf die Füße stellen". Wollte und
will es noch heute und werde es bis an mein Lebensende wollen.
(orange,
Ende 1995)
Diese
Gesellschaft. Was verdanke ich ihr eigentlich? Nichts. Nicht ich
stehe in ihrer Schuld, sondern sie in meiner. Sie hat mir meine
Eltern geraubt (indem sie aus ihnen Faschisten machte), meine Heimat,
meinen Besitz durch Bomben und Flucht. Vom achten Lebensjahr an habe
ich meine Brötchen redlich verdient. Steher um Steher Holz
gehackt, gestapelt, ins Haus geschleppt. Holz gesammelt. Als
kleiner Junge bei Eis und Schnee und Hitze in aller Frühe viele
Kilometer gelaufen, mich stundenlang angestellt, um einen
Liter Magermilch zu ergattern (bei der man bis auf den Grund der
Kanne schauen konnte) oder eine Kanne Fleischbrühe mit drei
Fettaugen drauf. Später dann den großen Garten fast allein gemacht
- gegraben, gesät, gejätet, Bäume und Sträucher beschnitten,
okuliert und abgeerntet. Obst und Pilze aus den Wäldern
beigeschleppt und selbst großenteils getrocknet und eingemacht.
Den Abwasch gemacht (um den sich meine Geschwister meist erfolgreich
drückten), das Auto geputzt und gewienert.
Nun
ja, Schulbesuch und Universität! Jahrzehnte brauchte ich, um den
Mist wieder aus dem Kopf zu bekommen. Wofür ich obendrein einen
Haufen Studiengebühren bezahlt habe und dafür die
Uni relativ wenig in Anspruch nahm. Gearbeitet als Werkstudent und
als gewöhnlicher Arbeiter und später als Freiberufler. Ein Leben
lang, ohne von diesem Staat einen roten Heller zu erhalten. Aber
das wäre ja noch erträglich, wenn dieser Staat in irgendeiner
Hinsicht auch "mein" Staat gewesen wäre.
Ein
Staat, der das Faschistenpack wieder in Amt und Würden einsetzte,
der einen großen Teil der Opfer weiterhin drangsalierte und
nicht entschädigte, der so schnell wie möglich wieder die
Armee einführte, der unter der Fahne des Christentums agierte
und rabiate Kommunistenhatz betrieb, nebenher elementare
demokratische Grundrechte mißachtete, der sich ständig der
amerikanischen Weltmacht andiente und deren sämtliche
Schandtaten guthieß und unterstützte, der alle Reaktionäre
dieser Welt zu seinen Freunden zählte, der die Dritte Welt gnadenlos
ausbeutete, der zum drittgrößen Waffenexporteur wurde, der
unsere Umwelt gründlich zerstörte, der die Atomkraftwerke
installierte, der unseren Kindes- und Kindeskindern Milliarden
Schulden aufhalste, um die Macht der Banken zu stärken, der
korrupt bis auf die Knochen ist, der es einem Atheisten nicht
einmal erlauben würde, Bürgermeister in Schrumpfhausen zu
werden, ein solcher Staat kann einfach nicht "mein"
Staat sein.
(orange)
Lese
"Det Nya Stor-Tyskland" (Das neue Groß-Deutschland) von
Jan Myrdal, das er und Gun mir zugeschickt haben. In vielem stimme
ich mit ihm überein. Wohl ist es richtig, daß das deutsche
Volk nie im Stande war, eine Nation zu bilden, daß das deutsche
Elend schon 500 Jahre dauert, daß die Demokratie ihm `beigebracht'
wurde, daß Bismarck die klein-deutsche Lösung durchsetzte und das
alles. Nur, daß Deutschland bzw. die ungelöste deutsche Frage
zu einer besonderen Gefahr für die Völkergemeinschaft wurde
oder werden würde, das bezweifle ich entschieden. Andere Völker
sind gerade durch ihre Nationen-Bildung und trotz später erfolgter
bürgerlich-demokratischer Revolution seit Jahrhunderten zu einer
besonderen Gefahr für weitaus mehr Völker geworden, ob das die
Russen sind oder die Franzosen oder die Engländer oder die
Amerikaner. Und selbst das kleine Holland oder Belgien sind für
viele Völker eine besondere Gefahr gewesen. Auch wenn dies
Geschichte ist, sollte sie nicht vergessen werden. Abgesehen
davon, daß im Falle USA und Rußland - die einzigen Großmächte,
die ihre Kolonien nicht auflösen mußten - diese besondere Gefahr
nach wie vor besteht, auch wenn es in Rußland so aussieht, als würde
das Problem friedlich gelöst werden können. Ich traue dem Frieden
noch lange nicht.
(rot)
Wie recht ich hatte! Ein Fluch, immer wieder Recht zu haben! Jelzin
hat sich genau als das Schwein herausgestellt, für das ich ihn von
Anfang an gehalten habe. Tschetschenien ist das Bauernopfer, das er
zum Erhalt seiner Macht und zur Beschwichtigung der Ultrarechten
glaubt bringen zu müssen. Daß dadurch ein Volk zum dritten Mal in
den vergangenen hundert Jahren durch die Russen an den Rand der
Auslöschung gebracht wird, dadurch eine obszöne Kontinuität von
den Zaren über Stalin bis zu ihm hergestellt wird, stört ihn
dabei nicht im mindesten. Daß damit auch die zarten Keime der
Demokratie in Rußland zertrampelt werden, noch viel weniger.
Doch die größte Schande ist, daß der Westen mal wieder, allen
voran Deutschland mit Kohl und dem unsäglichen Kinkel an der
Spitze, dieses Verbrechen absegnen und ausdrücklich gutheißen. An
einem wild gewordenen Araber, da können sie ihr Mütchen
kühlen, aber beim doppelt so wild gewordenen Bären, da machen sich
alle die Hosen voll. (rot)
Daß
die bürgerliche Demokratie kein Garant für den Frieden ist, das
weiß Myrdal natürlich auch. Er denkt auch eher an eine soziale
Revolution, die ja spätestens seit 1848 und dem Kommunistischen
Manifest möglich gewesen wäre. Doch wie, bitte, soll man sich
so etwas denn vorstellen? Deutschland Mitte des vergangenen
Jahrhunderts macht seine soziale Revolution und die Deutschen leben
fortan als friedliebende Menschen inmitten raubgieriger
Kapitalisten? Es wäre doch genau das gleiche geschehen, was
1919 in Rußland passierte: Sämtliche kapitalistischen Länder
- mit und ohne Demokratie - wären über das Land hergefallen, um das
Experiment zu zerschlagen. Die Sow-jetunion konnte sich in die Weite
ihres Landes retten. Das hätte Deutschland nicht gekonnt.
In
Paranthese: Wieso kann man die Erwartungen, die man an Deutschland
stellt, nicht ebensogut an England stellen? Es wäre im übrigen
durch sein gewaltiges Empire doch geradezu prädestiniert gewesen,
eine friedliche Weltordnung zu schaffen. Auch das anzunehmen ist
natürlich Unsinn, weil England eine ganz normale bürgerliche, d.h.
kapitalistische Demokratie war. Ob die ungezählten Millionen
Inder, Afghanen, Sudanesen, Ägypter, Araber, Malaysier,
Afrikaner es zu schätzen gewußt haben, daß sie von englischen
Demokraten gefoltert und massakriert wurden, statt von
Faschisten, wie später Kommunisten, Zigeuner und Juden? Deutschland
ist ein "normales" Verbrecherland wie alle anderen
auch, was weder Entschuldigung noch Apologetik bedeutet. Worin
soll das Besondere liegen? In der Systematik, mit der die
Deutschen die Menschen umgebracht haben? Dann ist also dies der
Knackpunkt? Lächerlich. Faschismus liegt in der Logik des
Kapitalismus, was J.M. selbst mehr als einmal betont hat. Er hat sich
ja wütende Proteste zugezogen, als er behauptete, daß etwas
Ähnliches wie in Deutschland unter bestimmten Bedingungen auch
in Frankreich hätte passieren können, wäre dem Land etwas
Ähnliches wie ein Versailles-Frieden aufgezwungen worden.
Für
eine zentraleuropäische Regelung wäre doch auch ein ganz anderes
Muster denkbar und machbar gewesen. Wären etwa die zahlreichen
freien Bauernrepubliken zwischen Ems und Flensburg nicht von Kaiser,
Adel und Kirche zerschlagen worden (daß es möglich war, hing lange
an einem seidenen Faden), hätte sich in jenem Raum ein zweites
Holland bilden können. Schon allein dadurch wäre ein Hitler
unmöglich geworden. Die Rheinlande, durch ihre alte Affinität zu
Frankreich, hätten ein zweites Belgien werden können, die Bayern
wären sowieso die Bayern geblieben, und Preußen wären über kurz
oder lang zu einer russischen Provinz geworden (die Mehrzahl der
Bevölkerung war eh slawisch und die Krautjunker waren am
zaristischen Hof ja ohnehin bestens eingeführt). Vor allem
würde doch in einem solchem Denkspiel der Grund für die
ständigen Kriege auf deutschem Boden (angefangen vom
Dreißigjährigen Krieg) entfallen: Die Angst der anderen Länder vor
einer zu starken Zentralmacht.
Ich
will damit sagen, daß man keine großdeutsche Theorie (dies in
positivem Sinn) bemühen muß, um sich eine weniger blutige
deutsche Geschichte bzw. europäische Ordnung vorzustellen.
Warum haben die Schweizer nicht den Traum von der deutschen Nation,
wo sie doch mehrheitlich `Deutsche' sind? Oder die Österreicher
(naja, die hatten ihn ja, zur falschen Zeit allerdings) oder die
Holländer, die mindestens so deutsch sind wie die
Norddeutschen? Daß Jan Myrdal für die großdeutsche These einen SED
- Minister zitiert, macht die Sache nicht glaubwürdiger (S. 164).
Gewiß könnte er auch noch andere Zitate beibringen, nur ich
habe weder in Holland, noch in der Schweiz im Volk je auch nur den
geringsten Gedanken daran gefunden. Eine wirklich großdeutsche
Lösung, auch und vielleicht gerade unter demokratischen Vorzeichen,
wäre für die anderen europäischen (wohlgemerkt!) Länder
möglicherweise noch verhängnisvoller geworden.
(rot)
Bei meinem kürzlichen Aufenthalt in Alteneichen zur zweiten
Leistenbruchoperation lernte ich Rocco Giordano kennen. Wir
trafen uns regelmäßig in der `Räucherbude' mit allen anderen
`Verfolgten'. Auch Manny (Manfred), der Boulespieler, war dabei
und eine Reihe Jugendlicher mit dem unterschiedlichsten
Hintergrund - von kriminell bis Gymnasium, wobei der Unterschied
allerdings nur graduell war. Am schönsten war immer, wenn Rocco von
seiner Station kam, in den Raucherraum kam, sich wie Moses in der
Wüste hinstellte, die Hände gen Himmel rang und rief: "Gott,
wie sind sie häßlich!!! Häßlich!!!" Er bezog sich auf
die Schwestern auf seiner Station, besonders auf die eine von
zwei Meter Größe und drei Meter Umfang, die ihr Aussehen keineswegs
mit Charme und Zärtlichkeit auszugleichen versuchte. Die
Patienten hatten Angst vor ihr, weil sie von ihr mit Brachialgewalt
behandelt wurden. Kurz und gut, Rocco und ich telefonieren und
treffen uns seither regelmäßig. Und natürlich bringt er
immer wieder das Thema Deutsche und Juden und Faschismus auf den
Tisch. Gewiß hat er eine erschütternde Geschichte hinter sich.
Die Verfolgung und das schließliche Abtauchen - eine Deutsche
versteckte eine ganze Familie! Das muß man sich mal vorstellen.
Aber warum erzählt er mir das ständig von neuem, mir, der ein
ebensolches Opfer des Faschismus ist? Nun ja, ich befürchte,
sie erzählen es sich auch untereinander ständig von neuem. Aber
darin eben liegt auch die Gefahr, daß alles andere `übersehen'
wird, alle die Völkermorde seit 1945, zu denen die Juden
hartnäckig geschwiegen haben, an denen der Staat Israel gar
beteiligt war.
Rocco
hat wohl ein distanziertes Verhältnis zu Israel und der Religion -
dem Rabbiner hier hat er gesagt, er würde so lange nicht in die
Synagoge kommen, so lange die Frauen diskriminiert würden, und
ihm wird beim Anblick der israelischen Fundamentalisten ebenso
übel wie mir - aber entschiedenen Abstand nimmt auch er nicht.
Dabei
muß man sich bei den Juden doch die Frage stellen, ob sie nicht
durch ihre fixe Idee von der Auserwähltheit in toto Fundamentalisten
sind. Auf der Suche nach einem Zitat mußte ich gerade wieder mehrere
Bücher Moses durchackern und mir ist speiübel geworden. Für mich
gibt es kaum ein primitiveres Buch - sowohl was die Sprache als auch
den Inhalt angeht. Von einem solchen Gott auserwählt zu sein - na,
ich danke.
Über
teutonisches Gebaren gibt es ja weltweit genug Witze. Nun stelle man
sich doch bitte vor, die Germanen würden mit Käppis aus Stierleder
rumlaufen, sich als die Auserwählten Thors bezeichnen und nur
koscheres Pferdefleisch fressen. Die hätte man doch auch schon vor
2000 Jahren in alle vier Winde gejagt. Wenn ein Volk a priori unfähig
ist, andere Völker als gleichberechtigt anzusehen, dann ist
auch ein Zusammenleben mit ihnen nicht möglich, dann sind
Intoleranz und Rassismus, Auseinandersetzungen bis hin zum Krieg
unvermeidlich. (rot)
Ungemein
wichtig und richtig ist sein Artikel "Folkmord", der
ursprünglich am 30.3.92 in Dagens Nyheter veröffentlicht wurde.
In Paranthese: Dort sagt er etwa auch, daß die Schweden stolz darauf
sein können, ihr demokratisches Versammlungs- und
Redefreiheits-Recht auch zur finstersten Hitlerzeit beibehalten
zu haben. Darauf in der Tat kann man stolz sein. Auf eine
rühmenswerte Haltung oder Handlung. Nicht auf die bloße Tatsache,
ein Schwede zu sein. Oder wie ein paar Freunde meinten, sie seien
stolz, Deutsche zu sein. Die Kartoffel ist stolz, Kartoffel zu sein.
Moberg hat zu Recht gesagt, daß dies die dümmste Art von Stolz sei.
Viel
wichtiger in diesem Artikel ist sein prinzipielles Festhalten an
dem Recht auf Rede-, Versammlungs- und Publikationsfreiheit des
Gegners, auch wenn der Gegner ein Faschist ist. Freiheit ist immer
auch die Freiheit des anderen, wie Rosa Luxemburg meinte, was von
Linken gerne zitiert, jedoch nur selten eingehalten wurde. Jan Myrdal
bezieht sich hier auf den Fall Faurisson in Frankreich, der enorm
viel Staub aufgewirbelt hat.
Und
er schreibt noch etwas, was ich zum ersten Mal irgendwo lese, was ich
aber seit Jahr und Tag vertrete: Wäre Hitler nicht so saudumm (Jan
Myrdal sagt irrational) gewesen, hätte er tatsächlich den Krieg
gewinnen können.
"Es
gab - das wußte man in Berlin - wirkliche Möglichkeiten, große
Teile der Bevölkerung in der westlichen Sowjetunion (insbesondere
in der Ukraine, aber auch im eigentlichen Rußland) als
Alliierte gegen Moskau zu gewinnen. Glückte das, dann hätte der
Gegner im Kreml zu einem Separatfrieden gezwungen werden können,
um wenigstens Rußland hinter dem Ural behalten zu können.
Aber
im Banne ihrer Rassevorstellungen begingen nicht nur die SS sondern
auch die deutsche Wehrmacht solch absichtliche, furchtbare
Grausamkeiten gegenüber den, der deutschen Staats-ideologie zufolge
rassisch unterlegenen Slawen in den besetzten Teilen
Westrußlands, daß selbst die Schichten, die bereit gewesen waren,
gegen den Kreml zur Waffe zu greifen, stattdessen im Großen
Vaterländischen Krieg gegen die deutschen Besatzer
mitmachten.
Ein
anderes Beispiel. Die Forderung nach Unabhängigkeit war bei Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges in Indien stark. Der national anerkannte
ehemalige Vorsitzende der Kongreßpartei Subhas Chandra
Bose ging nach Deutschland, um - der Feind meines Feindes ist mein
Freund - eine Allianz zwischen der nationalen Bewegung in Indien und
dem Deutschen Reich im Krieg gegen Großbritannien herzustellen. Aber
Hitler und die deutsche Führung waren so tief befangen in ihren
irrationalen Vorstellungen von den rassisch unterlegenen Indern,
daß es Bose nicht gelang, Verbindungen auf höchstem Niveau
herzustellen.
Die
Irrationalität war das Kennzeichen der deutschen Politik. Da der
deutsche Imperialismus von rassistischen Wahnvorstellungen
geleitet wurde, vermochte er nicht seine wirkliche Macht zu
entfalten. Ohne diese Irrationalität hätte Deutschland im
Zweiten Weltkrieg siegen können."
Eine
Schreckensvision, bei der ich mir immer die Frage stellte, was
wohl dann aus mir geworden wäre. Gauleiter im Donez-becken oder
so etwas?
Was
Myrdal und mein Freund Eric Göthe (in Folkrätt &
Stormaktspolitik = Völkerrecht und Großmachtpolitik, Stockholm
1992) zum Ossietzky-Fall sagen, ist hervorragend. Aber welche Wirkung
hat das schon? Wer liest das denn überhaupt? Die alte Frage nach der
Wirksamkeit des Wortes. Sich vorzustellen, daß dieses Saupack von
Richtern nicht nur von unserem Geld dicke Gehälter bezieht und
Privilegien genießt, sondern auch noch mit irrwitzigen Pensionen in
den Ruhestand geht, bringt die Galle zum Überlaufen. Und daß die
nicht das geringste Unrechtbewußtsein besitzen! Genausowenig
wie die große Mehrheit der Bevölkerung, sonst würden derartige
Dinge nicht geschehen können. Wenn man dieses Gesindel in den
Steinbruch steckte, würden sie sich als Opfer eines
Justizirrtums oder Unrechtsystems begreifen.
A
propos `in den Steinbruch stecken' - das ist immer so eine Redensart
von uns gewesen und ich habe lange gebraucht zu begreifen, daß
man als Sozialist nicht die Arbeit einerseits als konstitutiv für
die Menschwerdung, das Menschsein verstehen kann, andererseits aber
Menschen mit Arbeit, i.e. Zwangsarbeit, bestraft. Das ist
kleinbürgerliches Denken, nämlich die Kehrseite der Medaille, die
im Nichtstun den schönsten aller Träume sieht. Mit der Zwangsarbeit
im Sozialismus hat das Elend angefangen, von den Umständen, unter
denen sie verrichtet wurde, ganz zu schweigen.
Aber
wie `straft' man Menschen? Ein Musterbeispiel für sozialistische
`Strafe' ist für mich die Umerziehung des letzten Kaisers von China.
Solche Menschen müssen überhaupt erst einmal begreifen, daß
sie Unrecht getan haben. Das erfordert Erziehung, Hilfestellung.
Und wenn sie darum bitten, arbeiten zu dürfen, dann gibt man ihnen
Arbeit. Daß Pu Yi den Beruf des Gärtners gewählt hat, halte ich,
gerade in China, wo Arbeit in und mit Erde immer mit Pöbel in
Verbindung gebracht wurde, für eine echte Demutsgeste gegenüber dem
Volke.
Gut,
aber was ist mit solchen Kanaillen wie den Nazi-Größen? Hätte es
da eine andere Möglichkeit gegeben? Ich denke, sie wurden zu Recht
gehenkt und leider wurden zu wenig gehenkt. Zumindest die
Industriekapitäne hätten auch dran glauben müssen. Es gibt
derart verabscheuungswürdige Verbrechen, daß keinem Menschen
zugemutet werden kann, solche Scheusale menschlich zu behandeln
und zu erziehen (man sollte sich stets fragen, ob man selbst in
der Lage und willens wäre, einen solchen Job auszuüben). Da ist das
Erschießungskommando oder das Hängen noch die humanste Lösung.
Prinzipiell
steht bei jedem Verbrechen fest, daß auch die Gesellschaft
versagt hat und nicht nur der Einzelne - die Gesellschaft auf
jeder Ebene, von der Familie bis zum Staat. Folglich kann man nicht
die ganze Last der Schuld dem Verbrecher aufhalsen.
Ich
merke gerade wieder, wie außerordentlich schwierig es ist,
ständig auf zwei Ebenen zu diskutieren. In einer
sozialistisch humanen Gesellschaft wären eben diese großen
Verbrechen wie Krieg, Folter, menschenunwürdige Arbeit,
Arbeitslosigkeit u. dgl. gar nicht denkbar. Und Verbrechen, die
gleichwohl geschehen würden, könnten und müßten eben auch
ganz anders behandelt werden als in unserem System. Und derlei
Forderungen an dieses System zu stellen, ist einfach aberwitzig, wo
es nicht einmal in der Lage ist, sich an die selbst gesteckten
Maßstäbe zu halten.
Als
ich vorhin in der gläsern-durchsichtigen Abendluft stand, meine
Blumen betrachtete und auch die wilden Blumen drumherum, die Disteln,
den blau blühenden Klee, die Winden und Wicken - und selbst die
Quecke betrachtete ich bewundernd, da sie unter den Pflanzen ein
Überlebenskünstler wie die Ratte im Tierreich ist - und dann noch
die Mönchsgrasmücken dicht neben mir ihre beiden Jungen fütterten,
mußte ich heulen vor Glück. Und auch vor Schmerz, weil diese Art
Glück den allermeisten Menschen verschlossen ist. Und weil sie ihnen
verschlossen ist, gehen sie mit rabiater Hemmungslosigkeit mit der
Natur um, so daß sie systematisch zerstört wird.
Sich
vorzustellen, daß dadurch auf der Welt täglich dutzende Arten aus
Fauna und Flora vernichtet werden, die noch nicht einmal erfaßt
sind, für immer vernichtet werden, als hätte es sie nie gegeben,
kann mich in Rage bringen. Wieviel Schönheit der Farbe und Form geht
da unwiderruflich dahin! Daß die Herrschenden auf die
Natur scheißen, das versteht man ja noch, weil die immer so waren
und immer so sein werden, aber daß das Volk das geschehen läßt,
daß kein Aufschrei durch das Land geht, wenn so etwas bekannt wird,
das stimmt mich zutiefst pessimistisch. Da nimmt niemand die Knarre
in die Hand und wagt sein Leben (von einer Handvoll Aktvisten von
Greenpeace und ähnlicher Organisationen einmal abgesehen); man ist
ja auch viel zu sehr damit beschäftigt, im Namen von Rasse und
Religion den Nächsten umzubringen.
Da
ist es wieder: Wie soll das Volk denn auch ein Bewußtsein für die
wesentlichen Dinge erlangen, wenn es tagein, tagaus von morgens bis
spät systematisch von den intellektuellen Arschkriechern der
Herrschenden verblödet wird? Ich sehe es doch an meinen
Boule-Freunden. Alles liebe, nette Kerle und fast alles Proletarier.
Die meisten sind mehr oder weniger progressiv. Naja, was man halt so
progressiv nennt. Sie wählen nicht den Aznar, sondern den Felipe.
Aber wenn die Stunde des Fußballs schlägt, dann lassen sie alles
stehen und liegen, um vor die Glotze zu eilen.
Ihr
emotionales und intellektuelles Leben ist auf einem solchen
Tiefpunkt, daß man eher sagen könnte, daß es nicht vorhanden
ist. 20, 30, 40 Jahre sind sie verheiratet und fliehen die Alte wie
die Pest. Nur zum Fressen stehen sie auf der Matte. Sexuell sind
die alle total frustriert und ausgehungert. Aber ständig werden
Anspielungen gemacht, die in irgendeiner Weise mit Sex
zusammenhängen, ständig langen sie sich gegenseitig an den
Sack oder die Eier - aus Spaß natürlich, nicht aus Lust - ständig
bramarbasieren sie mit ihren Fickleistun-gen, aber eine
europaweite Erhebung hat ergeben, daß die Spanier ihren Fick am
schnellsten erledigen. Kein Coitus interruptus, sondern
abruptus.
Gerade
hat sich ein Gecko an der Türe regelrecht bemerkbar gemacht und als
ich sie öffnete, huschte er schnell herein. So ein Gecko ist wie
Charlie Chaplin auf vier Beinen. Sie watscheln ganz genau so.
Und wenn sie ihre eigenen Scheißhaufen anschleichen, glaubend, weil
sie so schlecht sehen, es seien Fliegen, gleichen sie ebenfalls
Chaplin, wenn er begehrliche Blicke auf seine Schnürstiefel
wirft. Im Moment tummeln sich vier Stück in meiner Bude. Ein
Männchen robbt sich quakend an die zirpende Alte ran, die aber nur
das Fressen im Kopf hat, ein zweites Männchen schielt in die
Richtung und rechnet seine Chancen aus, und ein ganz junger Gecko
sitzt hinter der Gasflasche und quiekt wie ein junges Ferkel.
Richtig zum Lachen wird es, wenn sie ihr Liebesspiel treiben, sich
mit erhobenen Schwänzen umeinanderwickeln, abenteuerliche
Akrobatik treiben, sodaß man jeden Moment mit ihrem Absturz rechnet.
Einfach köstlich.
In
`Folket i Bild' 4/93 stellt mein Freund Stefan Lindgren das Buch
eines Engländers vor, das nicht nur interessant klingt, sondern es
wohl auch ist: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice
among the Literary Intelligentia 1880-1939 (Die Intellektuellen und
die Volksmassen. Stolz und Vorurteile der literarischen Intelligenz
von 1880-1939) von John Carey, 1992 bei Faber & Faber erschienen.
Darin weist der Autor nach, daß die englische Intelligenz,
angefangen von D.H. Lawrence, Robert Louis Stevenson, H.G. Wells,
Virginia Woolfe, T. S. Eliot bis hin zu Ezra Pound alle
intellektuelle Wegbereiter des Faschismus waren (rühmliche Ausnahmen
waren Conan Doyle, Jerome K. Jerome). Sie träumten lange vor Hitler
von Gas- und Todeskammern, in die sie `das Pack' mitsamt den Gelben,
Braunen und Schwarzen stecken würden, wenn es nach ihnen ginge.
Es wird ihr antidemokratischer, massenfeindlicher Charakter
nachgewiesen. So weit so gut.
Aber
dann schreibt Stefan (und darauf allein kann ich mich beziehen, da
ich Careys Buch nicht kenne): "Die Angst (vor den Massen) war
irrational und wurde häufig auf Gegenstände übertragen, die
mit den heranflutenden Massen verknüpft wurden: Konserven,
Zahnprothesen, Fahrräder, Kameras, Chöre, Krematorien - und
das Schlimmste von allem - mit Vororten." Nun sagt Stefan zwar
auch, man müsse nicht Faschist werden, wenn man keinen Lachs in
Konserven möge, aber er läßt das Gesagte doch so stehen, wobei
noch Plastik und Fernsehen dazukommen.
Und
das geht nicht. Selbst wenn (oder gerade dann) die Feinde etwas
kritisieren, sollte man genau und kritisch hinhören, es auf seine
Berechtigung hin prüfen und eventuell seines irrationalen
Gehalts entkleiden. Konserven, Plastik und das Fernsehen haben
sich ja tatsächlich als Erfindungen mit katastrophalen
Auswirkungen erwiesen. Und das ungehemmte Wachstum der Menschheit hat
ihr nicht zum Segen gereicht. Und mit einer Idealisierung der Massen
ist es auch nicht getan. Daß die europäische Bevölkerung
zwischen 1800 und dem Ersten Weltkrieg von 180 auf 460 Millionen
angewachsen ist, wurde für zahlreiche Völker dieser Welt zu
einer Katastrophe. Statt in Europa den Kampf für eine menschliche
Gesellschaft zu führen, gingen eben diese Massen (bzw. große Teile)
nach Nord-, Süd- und Mittelamerika, nach Australien, Neuseeland
und Afrika und massakrierten dort mit wachsender Begeisterung
millionenfach un-schuldige Menschen.
Daß
diesem Wachstum nicht Einhalt geboten wurde, hängt sehr stark mit
dem christlichen Glauben zusammen (u.a. auch mit geopolitischen Blut-
und Bodenideologien, die aber immer mit der Religion sehr gut
harmonierten). Und da kann man der Intelligenz auch den Vorwurf
machen, daß sie nicht im Geist der Aufklärung den Kampf gegen
Kirche und Religion fortgeführt, sondern sich ihnen im Gegenteil oft
mit Haut und Haaren verschrieben hat. Selbst in der
kommunistischen Tradition hat es da einen Bruch gegeben. Der
Marx'sche Kampf gegen die Religion wurde nicht fortgeführt (oder
aber mit untauglichen Mitteln wie Verboten, Kirchenschließungen
u.dgl.). Die Religionen sind, das zeigt sich heute wieder einmal mit
aller Deutlichkeit, eine Geißel der Menschheit. Sie alle
kleiden sich immer so lange in das Gewand der Toleranz, wie sie nicht
die Mög-lichkeit und Macht haben, die anderen, und da vor allem
die Nichtgläubigen, einen Kopf kürzer zu machen, allen voran
das Christentum wie Karl-Heinz Deschner mit erdrückender
Beweiskraft dargelegt hat. Daß die religiöse Barbarei bis
heute nicht überwunden wurde, gar einen neuen Aufschwung erlebt, und
der Oberpfaffe aus dem Vatikan sich überall in der Welt in die
inneren politischen Angelegenheiten einmischen kann, ohne daß ihm
paroli geboten wird, das ist für mich eines der größten Rätsel.
Wenn
ich dieses Pfaffengesindel in seinen Weiberröcken schon sehe, läuft
mir die Galle über. Kürzlich standen wir vor der Kathedrale von
Málaga, wo offenbar ein hoher kirchlicher Würdenträger zur
Predigt erwartet wurde. Jedenfalls strömten massenweise
Priester und Betschwestern und natürlich das Volk - hauptsächlich
weiblich - zusammen. Selten habe ich so viele gemeine Gesichter auf
einem Haufen gesehen. Geprägt von Dummheit, Arroganz (eine gute
Mischung), Intrigen- und Herrschsucht, von Hinterhältigkeit und
Brutalität, gepaart mit Feigheit. Von Menschenfreundlichkeit,
Nächstenliebe und Humanität nicht die Spur. Mir machen diese Typen
auch Angst. Es ist die Angst vor der potentiellen Macht, die sie u.U.
ausüben könnten. Und wehe, wer ihnen dann in die Hände fällt.
Es sind die alten Sadisten, Folterer und Inquisitoren.
Aber
die Menschen sehen das nicht. Sie werden offenbar von dem Schwarz des
Pfaffenrocks geistig gelähmt, so daß sie gar nicht die Kanaille
sehen können, die darinnen steckt, sondern nur den Vertreter der
Kirche und Gottes. Diese These hat ja die Frau von Ludendorff
vertreten. Sie war der Meinung, daß - genau wie für Hören,
Sehen, Fühlen, Sprechen - im Gehirn ein bestimmter Part für
religiöse, mystische, transzendentale Gefühle und Gedanken
zuständig ist. Die archaische Dominanz dieses Gehirnteils
schalte automatisch den Teil für Zweifel und kritisches Denken aus.
Obwohl diese Dame sehr viel Unsinn von sich gegeben hat, erschien mir
dieser Ansatz immerhin eine Erklärung dafür zu bieten, daß selbst
kluge und intelligente Menschen in Sachen Religion mit absoluter
Blindheit geschlagen sein können, unfähig eines normalen,
vernünftigen Gedankens, so daß man tatsächlich von
Gehirnamputierten sprechen kann bzw. von Gehirnwäsche (in keinem
anderen Fall ist dieser Terminus des Kalten Krieges
angebrachter). Und es wäre eine Erklärung dafür, daß mit
Vernunft und Aufklärung dieser Gehirnlähmung nicht beizukommen
ist. Und so lange sie über die Muttermilch eingesogen wird,
auch nicht beizukommen sein wird. Nun könnte man diese Idioten
einfach ihrem Schicksal überlassen, wenn sie nur nicht in
bestimmten historischen Momenten die verhängnisvolle Neigung hätten,
uns Freidenker sowie Andersdenkende und -glaubende zu
massakrieren. Man darf nicht vergessen, daß schließlich das
Massaker an Kommunisten, Demokraten, Sinti, Roma und Juden im
Dritten Reich von guten Christen begangen wurde, genau wie seit
Jahrhunderten all die großen Schlächtereien in der Dritten
Welt.
Hier
gibt es immer wieder Anlaß, über die vielgerühmte Solidarität
der Spanier untereinander nachzudenken. Ich habe davon noch nicht
viel bemerkt. Es ist schon so, wie die Rosa Montero kürzlich
schrieb, daß der Spanier nur mit seiner Familie, seinen
Freunden, seiner Clique solidarisch ist. Alles, was darüber
hinausgeht, ist Feindesland. Deswegen hat er zwar einerseits
nie diese Untertanenehrfurcht der Deutschen vor dem Staat entwickelt,
ist andererseits aber in keinem anderen Land der Anarchismus so
stark gewesen. Und deshalb hat der Spanier auch nie die geringste
Verantwortlichkeit gegenüber seiner Um-welt - ob Mensch, Tier oder
Landschaft - gespürt.
Das
fängt schon damit an, daß jeder so laut ist, wie es ihm gefällt.
Keinem Spanier kommt in den Sinn, daß Lärm Aggression ist, daß
Lärm für viele Menschen mit Schmerz verbunden ist. Schon eine
Unterhaltung wird in einer Lautstärke geführt, bei der für mich
oft die Schmerzgrenze erreicht wird. Freund Armada mußte ich
schon mehrmals bitten, mir im Auto nicht dermaßen in die Ohren zu
brüllen.
Oder:
In dem Schuppen nebenan, am Eingang zu Carmens Grundstück, übt
seit einiger Zeit eine Musikgruppe. Nicht nur, daß die Musik extrem
scheußlich ist, sondern auch so extrem laut, daß einem die Ohren
abfallen, daß selbst die stark schwerhörige Margareta gleich
am ersten Tag wie von der Tarantel gestochen hinüberrannte und
protestierte. Daraufhin habe ich mehrmals mit den Jungens in
aller Freundschaft gesprochen und sie gebeten, etwas leiser zu üben.
Gestern zuletzt. Und heute rumsten sie wieder los. Da platzte
mir der Kragen. Ich rannte rüber und habe sie zusammengeschissen, so
daß sie gar nicht erst wieder anfingen.
Es
geht weiter damit, daß alle Jugendlichen mit aufgebohrten
Auspufftöpfen an ihren Mopeds herumfahren. Das ist für mich oft ein
solcher Schmerz, daß ich aufbrüllen könnte. Hätte ich ein
Maschinengewehr zur Hand, ich würde sie niedermähen. Es ist
unfaßbar, wie sich eine Gesellschaft so etwas seit Jahrzehnten
bieten lassen kann.
Zu
meiner Freude lese ich in `Mucho Motril', dem kostenlosen
Anzeigenblatt, daß sich hier eine Bürgergruppe gebildet habe, die
den Kampf gegen den Lärm aufnehmen will. Außerdem lese ich bei Jan
Gibson (España), daß in Madrid schon seit einigen Jahren 30%
aller Klagen, die bei der `Patrulla verde', einer Art Umweltpolizei,
eingehen, den Lärm betreffen. Es deutet sich also eine
Veränderung an.
(1998)
A propos Lärm. Nun lebe ich ja seit zweieinhalb Jahren in Schweden
auf dem Dorf. Und anfangs fand ich die Ruhe einfach göttlich.
Umso schmerzhafter ist es dann, wenn auch hier beknackte Jugendliche
mit aufgebohrten Mopedauspufftöpfen herumdonnern und - noch
viel schlimmer - erwachsene(?) Menschen mit amerikanischen
Schlitten stundenlang straßauf und
-ab
fahren, zwischendurch auch mal richtig auf die Tube treten und mit
hundert oder mehr durchs Dorf brettern. Ich habe mehr-mals bei der
Polizei den Sachverhalt geschildert. Es passiert nichts. Es muß erst
ein alter Mensch untergemangelt werden. Ich würde nach dieser Zeit
nicht behaupten wollen, daß das Umweltbewußtsein in Schweden
wesentlich weiter als in Spanien entwickelt ist. Ja, gequatscht wird
mehr darüber. Aber das ist auch alles. (1998)
Nun
ja, und dann passieren solche Dinge, wie in unserer vecindad
(Anliegergemeinschaft), wo ein Bandit wie der Pepe, der ganz oben
wohnt, mit seinen starken Pumpen allen übrigen Bewohnern das
Wasser abpumpt, wenn denn mal welches kommt (aber er behauptet steif
und fest, er würde nie einen Tropfen Wasser abbekommen. Haltet den
Dieb!). Als am vergangenen Samstag endlich Wasser kam, war die
Freude kurz. Es lief ein wenig und blieb weg, als der Kerl dort oben
seine Maschinen anwarf, um Deposito und Schwimmbad zu füllen. Am
meisten regen sich die Ausländer auf. Die Spanier auch, aber das ist
ein eher lahmer Protest, wahrscheinlich deshalb, weil wohl jeder
denkt, daß er selbst es genauso machen würde, säße er an der
Quelle. Seit 14 Tagen haben wir kein Wasser - ich nicht einmal zum
Duschen - in den Gärten fallen die Früchte alle ab, damit ein paar
Leute ihren Arsch ins Schwimmbecken hängen können. Es ist
unglaublich.
Und
es geht weiter mit der ganz unwahrscheinlichen Verdreckung der
Umwelt. Würde man wirklichen Feinden des spanischen Volkes den
Auftrag geben, das Land gründlich zu versauen, sie könnten es nicht
besser machen. Jeder schöne Aussichtspunkt, jedes entzückende Tal,
jedes Flußbett - vollgemüllt. Und das Schönste ist, daß der
Schutt bevorzugt dort abgeladen wird, wo ein großes Schild "Müll
abladen verboten" steht. Und das ist nicht etwa harmloser Dreck.
Nein: Kühlschränke, Fernseher, Sofas, Betten, Ölkarnister,
Batterien, alles, was halt so anfällt. Und hier ist es auch Brauch,
daß die lieben Nachbarn, wenn sie nach ihrer Wochenendparty wieder
runter in die Stadt fahren, ihre Mülltüten auf die tiefer gelegenen
Terrassen werfen, obwohl nur ein paar hundert Meter weiter unten
große Müllcontainer stehen. Einfach reizend.
Ein
anderes Beispiel für mangelnde Solidarität aus der Nachbarschaft.
Die unter mir liegende, hufeisenförmige Terrasse teilen sich zwei
Männer, Juan und Laurelio, in zwei exakt gleich große Terrains.
Juans Garten ist nur zur Hälfte mit Obstbäumen bepflanzt, der Rest
ist unbearbeitetes Land. Ich fragte ihn, warum er dort nicht
Kartoffeln oder Bohnen oder sonst etwas pflanze. Er sagte, daß er
das Stück nach und nach wieder mit Obstbäumen bepflanzen wolle, wie
es vor seiner Operation gewesen sei. Er hatte einen Herzinfarkt
gehabt und mußte zwei Jahre lang das Bett hüten und in jener
Zeit seien die meisten Bäume vertrocknet. Seither frage ich mich,
wie Laurelio, mit dem er freundschaftlichen Umgang pflegt,
seelenruhig zuschauen konnte, wie all die Bäume langsam abstarben,
zumal Juan eine Berieselungsanlage hat, so daß Laurelio also nur
hätte von Zeit zu Zeit den Hahn aufdrehen und nicht mit der
Gießkanne herumlaufen müssen. Ja, es ist ein schlagender Beweis
für die Behauptung von Rosa Montero, daß dem Spanier nur seine
kleine Welt am Herzen liegt und der Rest zum Teufel gehen kann.
Mit
der zunehmenden Hitze wurde der Gestank des Wassers immer
unerträglicher. Seit vielen Jahren ist das große Becken oben auf
dem Berg nicht mehr gereinigt worden - obendrein ist es offen.
Darüber wird geredet, darüber wird geschimpft, aber es geschieht
nichts. Also entschloß ich mich, die Scheißarbeit zu tun. Da habe
ich mich auf etwas eingelassen. Erst einmal brauchte ich zwei
Leitern. Aber hier hat kein Mensch eine Leiter, allenfalls
kleine Hausleitern. Eine trieb ich bei Alejo auf, dem Schreiner - aus
Brettern zusammengenagelt und sau-schwer. Solche Dinger habe ich
bisher nur in Afrika gesehen. Eine zweite Leiter,
zusammengeschweißt aus massivem Eisen, hatte José, der Nachbar
über uns. Das Zeug mitsamt Schaufeln und Eimern
hochtransportiert und am Dienstag angefangen. Der Modder war erstens
nicht trocken, wie ich gedacht hatte, und zweitens war die Schicht
viel dicker als angenommen. Den ganzen Tag lang schaufelte ich
den Scheiß auf fünf große Haufen zusammen in dem
glühendheißen, aus Wellblech zusammengeschraubten Ofenloch. Am
Tag darauf halfen mir der Sohn des Hirten und José, der neben seinem
eigenen großen Obstgarten die Gärten vieler anderer Leute versorgt,
den Schlamm mit Eimern herauszubefördern. Robert, der
Engländer, von dem ich eine halbe Zusage zur Mitarbeit bekommen
hatte, ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Überhaupt war unser
ganzer Berg von allen Männern im arbeitsfähigen Alter zwei Tage
lang wie leergefegt. Kaum war ich fertig, da kamen sie an, die
Scheißer und schrien nach Wasser.
Wir
bekamen weder am Mittwoch, noch am Donnerstag, noch am Freitag
Wasser. Dafür hatte ich mich nun krumm gemacht und zwei Nächte vor
Schmerzen kaum geschlafen. Am Samstag wurde das Becken aufgefüllt,
aber wir hatten immer noch kein Wasser. Nach stundenlangem Suchen
stellten wir fest, daß wieder verschiedene Hähne zugedreht
worden waren. Inzwischen läuft es also wieder, aber so schwach, daß
es viele Stunden dauert, bevor meine Regentonne voll ist. Bei der
Jagd nach Wasser wird hier zu harten Bandagen gegriffen. Von
Solidarität nicht die Spur. Davon ist nur in den Sprüchen jener die
Rede, die kein Wasser haben.
Dieses
einfache Beispiel auf unterster Ebene zeigt, wie fast unüberwindlich
die Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens sind. Und ohne
Solidarität geht es nun einmal nicht. Man kann nicht an jeden
Wasserhahn einen Polizisten stellen. Es lassen sich Normen und Regeln
aufstellen. Gut. Pro Hektar erhält jeder soundsoviel Wasser.
Aber der eine hat viel Geld und Einfluß und schafft sich große
Motoren und Auffangbecken an und spuckt auf Solidarität. Was tun?
Ihm den Hahn zudrehen? Er geht hin und dreht ihn wieder auf. Das
Limit auf der Rechnung festhalten. Aber was, wenn er es
überschreitet? Er zahlt doch. Also einen Prozeß führen, der Jahre
dauert. Das alles funktioniert doch nicht, d.h. es funktioniert
schon, aber nur nach den Regeln des Faustrechts.
Spanien
hat wunderbare Gesetze zum Schutz des Waldes und der Umwelt. Aber wer
sorgt für ihre Durchführung? Zumal wenn jene, die damit betraut
sind, korrupt sind? Wenn jeder nach Herzenslust in der Vega
bauen kann, wie und was ihm gefällt, ohne Folgen befürchten zu
müssen? Wenn jeder seinen Dreck abladen kann, wo es ihm paßt, ohne
Angst vor Strafen? Wenn Waldhügel abbrennen, weil sie sich zur
Bebauung eignen, aber noch nie irgendjemand wegen Brandstiftung
verurteilt wurde? Weil ja bewiesen werden muß, daß es der
Bauunternehmer getan hat, der dann auf den Hügel eine Urbanisación
stellt und sich eine goldene Nase verdient.
Das
ist bei uns nicht möglich? Von wegen. Immer wieder werden am Elbufer
Richtung Blankenese 100-jährige Eichen und Buchen umgelegt, weil sie
die Aussicht auf den Fluß behindern. Es werden regelmäßig
Ermittlungen aufgenommen, bei denen nie etwas herauskommt. Es
ist ein Witz. Anstatt dem Villenbesitzer 30 Hiebe mit der
Nilpferdpeitsche zu verpassen. Oder jener Fabrikbesitzer aus dem
Ruhrgebiet, der im Naturschutzgebiet bei Damp an der Ostsee die
Erlaubnis erhielt, eine kleine bescheidene Fischerhütte zu
bauen (schon das wäre gesetzeswidrig gewesen). Ich habe sie gesehen,
die kleine Fischerhütte - mit zwanzig Zimmern und Parkanlage und
einem Marsstall für dreißig Rassepferde. Das befördert die Moral
des Volkes.
(1998)
Hier erlebt man auf unterster, der Dorfebene ganz ähnliche
Dinge. Vor vielen Jahren hat ein unternehmungslustiger junger
Mann deutscher Abstammung in einer Riesenhalle des stillgelegten
Stahlwerkes eine Forellen- und Lachszucht einge-richtet. Seither nun
wird der unterhalb der Fabrik liegende See nach Aussagen vieler
Fischer und Angler zunehmend durch die Scheiße und Futterreste und
Medikamente der Fischzucht überdüngt. Es gab Proteste und Anzeigen,
aber bis heute ist keine Filteranlage eingebaut worden. Dabei gehört
der See zu dem Wassereinzugsbereich, dem die Stadt Växjö,
Hauptstadt der Provinz, wo auch die ganzen Behörden sitzen, ihr
Trinkwasser entnehmen. (1998)
Mir
geht das Psychogramm durch den Kopf, das die Alice Schwartzer
von Bastian/Kelly gemacht hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß es
Mord war. Bastian hat Kelly ohne ihr Wissen und ohne ihre
Einwilligung im Schlaf erschossen. Schwartzer schreibt: "Gewiß,
sie hat genervt. Aber seit wann steht auf `nerven' die Todesstrafe?"
Recht hat sie! Und wie sie genervt haben muß! Mit ihrem
Verfolgungswahn und ihrem tyrannischen Gebaren. Sie hat ihn
regelrecht zu ihrem Kuli gemacht und ficken durfte er sie auch nicht
mehr, was sie auch noch öffentlich gemacht hat. Wie unanständig.
Und wie kleinkariert sie sich gegenüber Bastians Frau und
dessen Lieblingstochter aufgeführt hat. Mehr als das: Bösartig und
gehässig und intrigant. Sie muß einen miesen Charakter gehabt
haben. Aber das alles rechtfertigt nicht einen Mord.
Er
hat alles mit Fassung und Würde getragen, bis - ja bis er nicht mehr
konnte. Er wollte gehen, aber er wollte nicht allein gehen. Und
hier hat er keine Größe bewiesen. Hier brach sich der Spießbürger
Bahn, der in dem geliebten Menschen seinen Besitz sieht und
diesen Besitz nicht loslassen kann und mitnehmen möchte. Ein
Gedanke, so absurd, weil er über den Tod hinausführt.
Im
übrigen gibt es Parallellen zu dem Fall Camille Claudel und Rodin,
nur daß dort noch sexuelle Leidenschaft hineinspielte (die bei Kelly
bestimmt nicht zu finden war. Sie muß sexuell ein kaltes Aas gewesen
sein.). Auch hier die Treue des Mannes zu einer Frau, die ihm Kinder
geboren und in schlechten Zeiten zu ihm gehalten hat und die er
zweifellos liebte. Auch hier die junge Geliebte, die plötzlich
Ausschließlichkeitsansprüche stellt und damit alles zerstört. Auch
hier eine Frau, die von Verfolgungswahn gequält wurde. Nur daß hier
der Mann - Rodin - die bessere Figur gemacht hat. Und ich denke, daß
in beiden Fällen die Liebe des Mannes zur Frau größer war als
umgekehrt. Obwohl im Fall Bastian starke Zweifel angebracht sind. Aus
Liebe morden - das ist eine contradictio in adjecto, auch wenn die
große Mehrheit das anders sieht. Es könnte allerdings sein - nicht
als Entschuldigung, nur als Erklärung - daß es eine reine
Kurzschlußhandlung war. Dafür spricht der angefangene Brief, der
mitten im Wort aufhört. Doch der Argumentation von Schwartzer kann
ich dort nicht folgen, wo sie meint, er wollte damit möglicherweise
falsche Spuren legen (zumal selbst der Laie weiß, daß beim Einstieg
über den Balkon Spuren entstehen, ob verwertbar oder nicht). Aber in
der Verfassung, in der er sich offenbar befand, hat er bestimmt nicht
an derlei Pipifax gedacht. Und daß es zu einer derartigen
Kurzschlußhandlung kommen konnte, lag daran, daß er den
Gedanken wohl schon öfters gedacht hatte. Ich glaube, daß ich
so etwas deshalb nie tun könnte, weil ich es nicht einmal im Traum
gedacht habe; weil für mich im Gegenteil es immer ein ungeheurer
Beweis des Vertrauens gewesen ist, wenn eine Frau mit mir
schläft, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, jemanden im Schlaf zu
töten. Und ich weiß deshalb genau, daß ich einen derartigen
Vertrauensbruch niemals begehen könnte.
Oder
aber es war bei Bastian die romantische Idee vom Freitod zweier sich
ewig Liebender, kombiniert mit dem Mißverständnis, das auf ihrem
ständigen `ohne dich kann ich nicht sein' beruhte. Natürlich
wußte sie, daß sie so einen Kuli nie mehr bekommt. Ihr Tibeter
hat ja auch ziemlich schnell den Abflug gemacht. Allerdings paßt
dazu nicht, daß Bastian geäußert haben soll: Wenn sie doch
bloß jemand zurücknehmen wollte. Das ist alles sehr
widersprüchlich.
Vertraut
ist mir, wie wohl vielen Menschen, die Möglichkeit eines Mordes im
Affekt. Ein Streit eskaliert bis zu dem Grad, wo man quasi in
Weißglut ist, was einen zu allem fähig macht. Ich kann nicht sagen,
woher ich in solchen Momenten den Rest Vernunft genommen habe,
der mir Mord und Totschlag verbot. Nur meine Eltern, Linda und
Solveig schafften es, mich in eine solche Verfassung zu bringen.
Durch perfide Bosheiten, hinterfotzige Beschuldigungen und
Ungerechtigkeiten. Trotzdem habe ich mich regelmäßig hinterher
geschämt - viel lieber wäre ich ganz cool geblieben. Manchmal ist
es mir gelungen, wie bei jenem Streit, als Linda mal wieder auszog
und mich auf übelste Weise beschimpfte, was Katharina, die
Mitbewohnerin, ja mitbekamm. Sie fragte später Linda, warum sie
denn so getobt hätte, Einar hätte doch gar nichts gesagt. "Ja
eben deswegen," war ihre Antwort.
Ich
habe ihr dies wie hundert vergleichbare Dinge verziehen, wie man mir
auch immer wieder verziehen hat. Trotzdem: Warum nur begeht man immer
wieder Handlungen, derer man sich schämen muß, über die man im
"nachhinein noch rot wird", wie Ulrike einmal lange nach
unserer Trennung sagte.
Merkwürdigerweise
verblaßt im nachhinein der Anlaß bis zum völligen Vergessen,
während die eigene unverzeihliche Handlung einem immer wieder mit
schmerzhafter Deutlichkeit vor Augen rückt. Wie mein Ausrasten im
Urlaub in Schweden, bei dem ein Freund von Linda mitgereist war.
Solveig hatte mich mal wieder zur Weißglut gebracht (allerdings
waren verschiedene Sachen zusammengekommen, die mit ihr weniger zu
tun hatten) und ich warf ihr den Suppenteller (aus Pappe) an den
Kopf. Dafür schäme ich mich immer wieder, vor allem wegen des
Bildes, wie die Brühe über ihre schönen Haare lief. Scheiße, wie
kann man so ausrasten. Und noch etwas ärgert mich dabei maßlos: Daß
ich mich einem Kind gegenüber so verhalten habe. Einem Erwachsenen
gegenüber hätte ich nicht so reagiert. Ich hätte den Teller in den
Wald oder sonst wohin geworfen; wahrscheinlicher noch wäre ich
vorher gegangen. Aber das ist halt auch die Crux mit der
Kleinfamilie, daß man nicht einfach gehen kann. Man ist auf Gedeih
und Verderb aneinandergekettet. Vielleicht sollte jede Wohnung eine
Gummizelle besitzen, in der man sich hemmungslos austoben kann, so
wie in japanischen Fabriken, wo in jenen Räumen die Bilder vom Chef
hängen, die man zerfetzen oder mit Darts durchbohren kann.
Das
Verhängnis ist, daß in der Kleinfamilie Gewaltenteilung nicht
existiert. Legislative, Exekutive und Judikative sind in einer Hand.
In der früheren Großfamilie (wie sie teilweise in Afrika heute noch
besteht) gab es zwar den Patriarchen, aber dessen Macht war
keineswegs grenzenlos. Neben ihm gab es die Macht der Großeltern,
die Macht der Onkel und Tanten und sonstigen Verwandten, so daß
jeder die Chance hatte, sein Anliegen durch mehrere Instanzen zu
bringen. Und es gab auch die Macht der Bürgermeister und der
Ältesten, die sich auch in Familienangelegenheiten mischen konnten,
wenn Mißhandlungen oder Ungerechtigkeiten vorkamen.
Das
Beispiel zeigt jedenfalls, daß ein Ausrasten meist gar nicht so
unkontrolliert abläuft, wie man es sich und andere gerne glauben
machen möchte. Man weiß sehr wohl, wo man es sich `erlauben' kann
und wo nicht. Die wenigsten würden wohl ihre `Anfälle', die sie in
der Familie bekommen, vor dem Chef ablaufen lassen, weil sie genau
wissen, daß dann ab sofort für sie der Erste wäre. Und das macht
derlei Handlungen doppelt verwerflich und unverzeihlich.
Warum
also derlei Handlungen? Sie haben den Charakter eines Rausches und
genau wie dieser, verschaffen sie im Moment ein euphorisches Gefühl
und hinterher einen Kater. `Die Sau rauslassen', `Dampf
ablassen' - diese spezifischen Ausdrücke für derlei Fälle gelten
im gleichen Maße für den abendlichen Gang in die Stammkneipe. D.h.
in der Kneipe laufen diese Prozesse im allgemeinen immer noch
kontrollierter ab als in der Familie. Mittlerweile jedenfalls.
Vor wenigen Jahrzehnten war das noch anders.
Nicht
umsonst habe ich den Diskurs über die Familie oben eingeschoben,
weil miese Handlungen in der Familie am allgemeinsten sind, weil
selbst ansonsten untadelige Menschen sie dort begehen. Selbst durch
angestrengtes Nachdenken fällt mir nicht eine Handlung gegenüber
Freunden, Bekannten oder Fremden ein, deren ich mich schämen müßte.
Doch: Als Taxifahrer brachte ich einmal ein junges Mädchen nach
Güntherstal, einen Villenvorort von Freiburg, und sie verlor in
meinem Wagen 100 DM, in den 60-er Jahren noch eine Menge Geld. Kurz
darauf wurde ich über Funk darauf angesprochen, aber ich leugnete,
etwas gefunden zu haben. Ich hatte erstens einen extrem beschisssen
Lohn (18 DM pro 10-Stunden-Schicht) und zweitens beschwichtigte ich
mein Gewissen damit, daß sie wohl nicht zu den Ärmsten gehörte.
Das mag ja vielleicht so gewesen sein, aber vielleicht war sie ein
ebenso armes Schwein wie ich. Da habe ich mich wirklich nicht gut
verhalten. Meine Reue hält sich allerdings in Grenzen. Das ist kein
Vergleich zu jenen beschissenen Handlungen in den Be-ziehungen, die
man verdammt gerne ungeschehen machen würde.
Also
nochmals: Warum? Es entfällt das Argument, man wüßte nicht, was
man tue. Es entfällt das Argument, daß man die Folgen nicht
absehen könne. Im Chefzimmer, wo es gewiß viel häufiger Anlaß
gäbe auszurasten, weiß man es. Ist es also nur des momentanen
Rausches willen (es tut so gut, den Frust loszuwerden)? Glaubt
man, gelegentlich zeigen zu müssen, wer Herr im Haus ist? (Und dabei
denke ich nicht an die häufigen Fälle, wo das Herumtrampeln auf den
Familienmitgliedern den ständigen Identitätsverlust in
Gesellschaft und Betrieb ausgleichen muß. Und man kann sicher sein,
daß der größte Arsch im Betrieb gleichzeitig zuhause der größte
Tyrann ist.) Aber wie nennt man es dann bei Frau und Kindern, die
ganz genauso zuhause die Sau rauslassen, wenn sie aus dem Betrieb
oder der Schule kommen. Ander als ein Mann tun sie es durch
Nörgeln, Flennen, flegeliges Betragen, aber immerhin, das kann den
Partner genauso fertig machen. Es ist wohl so, daß durch
allgemeinen Konsens jederman die Familie als den Ort ansieht, wo man
völlig legitim `die Sau rauslassen' kann. Wenn dann hinzukommt,
daß zwischen den Familienmitgliedern nicht eine tiefe und
unverrückbare Liebe besteht, dann wird das traute Heim wahrlich
das Vorzimmer zur Hölle.
Dieser
Tage war Kalle Hägglund mit Hillevi, seiner Freundin hier. Er
überbrachte mit Grüße von Jan und Gun und Eric und Stefan. Mit
Stefan hat er darüber gesprochen, daß ich Erinnerungen
schreiben sollte. Mir kommt das so absurd vor. Ich halte mich
für einen mehr oder weniger belanglosen Durchschnittsmenschen,
was viele für Koketterie halten werden. Aber das stimmt nicht. Ich
bin immer aufs Neue überrascht, wenn ich gelobt werde. Wenn
Rosemarie schreibt, meine Schilderung der Bergwelt hier sei
beeindruckend, so frage ich mich, zum Teufel, was soll daran
(meiner Beschreibung) beeindruckend gewesen sein? Denn längst
habe ich jedes Wort vergessen, das ich geschrieben habe. Oder wenn
Hildrun schreibt, sie habe sich wieder `Zuckerrohr in Andalusien'
angehört und glaubte, es zum ersten Mal gehört zu haben. Was
ich alles beobachtet hätte! Ich bin verblüfft und überlege
fieberhaft, was ich denn da geschrieben habe. Das muß damit
zusammenhängen, daß ich zuhause immer der Versager, die
Null gewesen bin, der Alles-anfängt-und-nichts-zu-Ende-bringt. Ich
frage mich auch, ob mein hundsmiserables Gedächtnis nicht mit den
vielen Schlägen, vor allem den Schlägen auf den Kopf zu tun
hat. D.h. so ganz hundsmiserabel ist es gar nicht. Ich habe
schließlich mehrere Sprachen gespeichert mit einem erstaunlichen
Wortschatz. Hillevi war überrascht, wie sicher ich die
schwedische Sprache, ihre Melodie, ihre Anwendung und den Wortschatz
im Griff habe, obwohl es so lange her ist, daß ich dort gelebt habe.
Ja,
ja, aber es gibt dennoch so Vieles, was ich total vergesse. Ich
kann von all den Büchern, die ich gelesen habe, immer nur ganz
allgemein sagen, ob sie gut oder schlecht waren. Die Handlung und
Argumentation habe ich nicht mehr im Kopf, im Gegensatz zu meinem
Großvater, der sagen konnte: Hol' mal das Buch dort oben herunter
und schlage die Seite 211 auf, dort steht unten das und das. Zwar bin
ich sicher, daß ich Cohn-Bendit etwa, den ich immer für einen
Schwätzer gehalten habe (was sich in seinem kürzlichen Interview
mit der Fatema Mernissi bestätigt hat), mit ziemlich denselben
Argumenten begegnen würde wie damals in Frankfurt. Aber ich
müßte den alten Quatsch hervorsuchen und wieder lesen.
Im
übrigen tauchte bei Kalles Besuch ein Phänomen auf, wie ich es in
dieser extremen Form noch nicht erlebt hatte. Ich verfiel
dauernd ins Schwedische, ohne es zu merken, auch wenn ich etwa mit
einem spanischen Kellner sprach. Oder ich sprach mit Kalle deutsch
oder spanisch, ohne es zu merken. Es hat mich ganz rasend gemacht,
daß ich mein Sprechen nicht unter Kontrolle hatte! Wiederum ist
es problemlos, vom Spanischen ins Englische, Französische oder
Deutsche zu wechseln. Das verstehe, wer will.
Kalles
und Stefans Argument für einen Text von mir ist, daß es für
Schweden wichtiger sei, von einem Deutschen eine Einschät-zung über
Deutschland, die Hitlerzeit und den Krieg zu hören, als von einem
Schweden. Ich las ihm einige Seiten dieses Textes vor, und
er wollte ihn gleich mitnehmen. Aber so weit ist es noch nicht.
Kalle
brachte auch die neueste Folket i Bild mit, worin die dringengen
Briefe von Lord Carrington und UNO-Generalsekretär de Cuellar
abgedruckt sind, die diese an das deutsche Außenministerium,
i.e. Genscher, schickten und worin eindringlich vor einer einseitigen
deutschen Anerkennung Kroatiens durch Deutschland gewarnt wird, worin
auch exakt die absehbaren Folgen vor Augen geführt werden. Wie
es weiterging, das wissen wir inzwischen. Kalle fragte: Was zum
Teufel wollen die Deutschen? Was bezwecken sie damit? Wie kommen
sie darauf, sich über die UNO, die USA und die EG hinwegzusetzen? Es
muß doch auch ein politischer oder ökonomischer Gewinn bei so
etwas herausspringen, aber den sehe ich nicht.
Was
soll man darauf antworten? Bin ich Kohl oder Genscher? Im Ernst, ich
sehe den politischen oder ökonomischen Gewinn auch nicht. Abgesehen
von dem Landfetzen Kroation natürlich, das die Deutschen jetzt als
ihre Provinz behandeln können. Aber warum das zu einer Zeit, in der
sich doch im Osten ganz andere Perspektiven eröffnen? Aus der Sicht
der Kapitalisten natürlich. Ich glaube, daß da die
Bundesregierung mal wieder das Spiel des Vatikan mitgemacht hat. Ich
glaube, das wird allzu sehr vernachlässigt. Man weiß doch, wie die
deutschen Katholiken (angefangen von Hitler bis zu Adenauer)
immer mit großen Ohren an den Toren des Vatikan hingen. Schließlich
hat der Vatikan den Kroaten sofort ein Milliarde Dollar in den Arsch
geschoben (die er aber keineswegs abgeschrieben hatte). Und dann hat
es sicher eine starke Lobby gegeben, die in einer Zuspitzung des
Konfliktes einen hübschen Extraverdienst sah, die aber natürlich
mit fromm verdrehten Augen aufgetreten ist. Außerdem konnte Bonn
seine Interessen hinter dem Rauchvorhang der `Dankesschuld'
betreiben. Den Deutschen war schließlich die Selbstbestimmung
gewährt worden, also müßte sie jetzt auch anderen Völkern gewährt
werden. Und die Arroganz der Macht hat natürlich auch mitgespielt.
Aber
im übrigen sind Kapitalisten ja auch immer saudumm. Wie Marx gesagt
hat, verkaufen sie auch noch den Strick, an dem sie aufgehängt
werden. Ihr geiles Profitstreben ist stets derart kurzsichtig,
daß sie zu langfristigen Analysen unfähig sind. Der prekären Lage
der Sowjetunion nach der Wende hätte absolute Priorität eingeräumt
werden müssen. Der einzige, der das begriffen hatte, war Kohl, das
muß zu seiner Ehre gesagt werden. Noch vor den Aufräumarbeiten in
der ehemaligen DDR (was auch den Vorteil gehabt hätte, daß man dort
nicht so wüst und wild drauflosgewirtschaftet hätte). Jetzt, auf
dem Gipfel von Tokio war man endlich allerseits zu dieser Einsicht
gelangt, doch jetzt fehlt das Geld - was natürlich lachhaft
ist, angesichts der ungeheuren Gefahren, die da vor unserer Tür
lauern. Man weiß genau, daß sich jeder Zeit ein zweites Tschernobyl
ereignen kann. Die Umrüstung, Schließung und Sicherung der
bestehenden Atomkraftwerke würde allein 20 Milliarden Dollar
verschlingen (nicht mitgerechnet die Milliarden, die
Ersatzenergiequellen kosten würden). Gewiß ist das eine gewaltige
Summe, aber im Vergleich zu den mehreren hundert Milliarden Dollar,
die ein zweites und drittes Tschernobyl kosten würden, nur ein
Trinkgeld. Man weiß das also, aber man läßt den Karren laufen. Das
ist eine Verantwortungslosigkeit ohnegleichen. Geschäfte lassen sich
schließlich auch nur mit einem einigermaßen stabilen Staatsgebilde
machen und nicht mit dem chaotischen Sauhaufen, den das heutige
Rußland darstellt.
Es
gäbe so ungeheuer viel zu tun auf der Welt, gleichzeitig aber
ist die Hälfte der Menschheit arbeitslos und am Verhungern.
Bedenkt man die kühnen Gedanken und Projekte, mit denen die
Bourgeoisie vor 200 Jahren schwanger ging, dann ist die heutige
Bourgeoisie Lichtjahre davon entfernt. Noch mein Großvater
bekam leuchtende Augen, wenn er von der Begrünung der Sahara sprach.
Die heutige Bourgeoisie hat weder Projekte noch Gedanken, nur noch
die allerprimitivste Gier nach mehr und noch mehr. "In äußerst
kurzer Zeit ist eine Welt zerfallen. Es gibt nichts mehr - außer
dem Geld natürlich! - was das aus-sterbende Bürgertum vereint.
Ideologisch gesehen hat es auf sein Erbe verzichtet." So
schreibt der Schwede Christer Enander, ein junger und denkender
Mensch, in `Den radikale Jukeboxen' (S. 40).
Dieser
kaum 30-jährige Schwede hat bei Hägglund ein Buch mit Aufsätzen
und Essays veröffentlicht, die man mit Genuß liest. Sie sind in
einer klaren und lebendigen Sprache geschrieben und vor allem greifen
sie Fragen auf, die zum Denken anregen und diskussionswürdig sind.
Mit Schärfe greift er all diese frustrierten Scheißer an, die aus
ihrem eigenen Unvermögen und ihrer Denkfaulheit ein Versagen von
Aufklärung und Marx und Mao konstruieren, die es sich im Schoß der
Mächtigen gut gehen lassen. Ein verachtenswertes Pack! Wichtig ist,
daß Enander die Frage richtig stellt: "Dies ist das Schiff,
Europa. Das imperialistische Europa, die Herren der Kolonien mit
blutigen Händen und besudelten Idealen, Herrscher über Armeen und
die Unterdrücker der Sklaven und die eingebildeten Herren und
Meister; mit ihren von Hirnsubstanz bespritzten Stiefeln. Sieht
so das Europa aus, das wir jetzt vergessen haben? Oder ist es die
Aufklärung, der Gedanke, die Vernunft und das Wissen an alle
weiterzureichen, nicht nur an die privilegierten Schichten der
Welt oder von gewissen Teilen der Welt, dieser Gedanke, daß
Befreiung und Veränderung möglich sind - ist es das, was wir
vergessen haben? Die Frage ist unbeantwortet."
Da
von der Linken meist ganz allgemein und im banalsten Sinn vom
Fortschritt der Menschheit geredet und Aufklärung schlicht mit
Technikgläubigkeit gleichgesetzt wurde, konnte sie auch leicht zu
der Schlußfolgerung kommen, daß "in den Spuren der Aufklärung
immer die Unterdrückung folgt" - ein Argument, das "nicht
nur falsch ist, sondern auch den Boden für die neue intellektuelle
Barbarei bereitet", wie Enander sagt.
Genausowenig
wie ich die Schlußfolgerung jener Linken, die so mühelos sich in
Apologeten der Macht verwandelt haben, akzeptieren kann,
konnte ich jemals deren Prämisse zustimmen. Der Fortschritt, den sie
meinten (und nicht nur sie, sondern ebenso die sowjetische
Führung, was sich bis auf Lenin zurückverfolgen läßt),
betraf immer nur neue und noch neuere Maschinen, immer größere
Industrieanlagen, immer größere Bomben und Raketen.
Fortschritt ist für die Fnktionäre Dampf und Strom und Atom und
Elektronik und das Fernsehen. Daß dieser Fortschritt uns in einen
stinkenden Morast aus Verblödung und Aberglaube und Fanatismus
und Rassismus und Mord und Totschlag geführt hat, ist diesen Leuten
deshalb entgangen, weil sie ja eben die Sumpfblüten dieses
Morastes sind. Sie konnten daher nie die Frage stellen, welchen
Fortschritt denn die Umgestaltung der Arbeit, die Abschaffung der
Ware und des Staates, die wahre internationale Solidarität
gemacht hat, die sozialistische Humanität, die Vollendung der
Demokratie (nicht deren Abschaffung), von der Marx gesprochen
hat. Sie konnten nicht bemerken, daß der Mensch immer weniger
in der Lage war, mit diesem sogenannten Fortschritt bewußtseinsmäßig
und moralisch Schritt zu halten, wie Günther Anders so zwingend wie
eindringlich bewiesen hat.
Ich
habe schon Magengrimmen, wenn im Zusammenhang mit dem Aufkommen
des Kapitalismus von Fortschritt gesprochen wird, denn ich denke, daß
von Fortschritt doch nur dann die Rede sein könnte, wenn in den
vergangenen 500 Jahren nur ein Mensch weniger umgekommen wäre
(selbst relativ gerechnet). Eine Untersuchung, die m.W. noch
nicht durchgeführt wurde, deren Ergebnis aber mit großer
Sicherheit nicht positiv für die Neuzeit ausfallen würde. Der
Marx'schen Logik, daß diese Entwicklungsstufe unumgänglich
war, um die Grundlagen für eine sozialistische
Gesellschaftsform zu legen, konnte ich mich jedoch nicht entziehen.
Wenn
allerdings von den europäischen Linken selbstzufrieden von
Fortschritt gesprochen wurde, unter Fortschritt durchaus auch der
Fortschritt an Bildung und Demokratie verstanden wurde und man
sich auch einig war, daß dieser Fortschritt allein durch den Kampf
der Völker zustandegekommen ist, jedoch immer nur den Fortschritt
bei uns, in unserem Europa, diesem Anhängsel eines gigantischen
Kontinentes meinte, dann war ich niemals einverstanden. Ich
empfand dies stets als einen eingeengten, einen euro -
zentristischen Gesichtswinkel. Die Menschheit besteht nicht nur
aus Weißen, die zum Unglück für die übrige Menschheit noch dazu
Christen sind. Eine Binsenweisheit, die gleichwohl immer und
ständig übersehen wird.
Versuchen
wir doch wenigstens einmal, uns in die Lage der großen Mehrheit
der Menschheit zu versetzen. Was hat jenen Milliarden der
Fortschritt der vergangenen 500 Jahren gebracht? Ausrottung
ungezählter Völker, Mord und Totschlag, Verschleppung und
Vertreibung hunderter Millionen von Menschen, den Raub dreier
Kontinente, Vergewaltigung von Kulturen, Vernichtung von
ungezählten Sprachen, Zerstörung und Diebstahl unersetzlicher
Kulturgüter. Und das Entsetzliche, Unvorstellbare hat noch
lange kein Ende gefunden. Es findet täglich, stündlich,
sekündlich seine Fortsetzung. Und da wagen wir es, von Fortschritt
zu sprechen?
Von
Fortschritt der Menschheit gar? Ich jedenfalls weigere mich, von
Fortschitt zu sprechen, wenn die Barbarei, global und absolut
gesehen, zunimmt. Eine Barbarei, die wir über die Welt gebracht
haben.
Von
über 180 in der UNO vertretenen Ländern stehen über 160 auf den
Listen von amnesty international. Willkürliche Verhaftungen,
Verschleppungen, Folter, Hinrichtungen, mit allem, was das an
menschlichem Leiden und Qualen für die direkt Betroffenen und
die Angehörigen bedeutet, sind in der ganzen Welt an der
Tagesordnung (die wenigen Ausnahmen können das Gesamtbild nicht
korrigieren). Und der Hunger, den wir verschuldet haben und täglich
neu verschulden - ist das etwa keine Folter? Ich denke vor allem an
die ungezählten Mütter, die wissen, daß es auf der Welt genug
Nahrung gibt, um ihre Kinder zu retten. Ich wage kaum an den Zorn zu
denken, der all diese Frauen in ihrer Ohnmacht erfaßt. Aber
hierzulande ist das Erstaunen groß, wenn die Menschen in
besinnungsloser Wut zuweilen beginnen, die Zentren der Städte zu
stürmen und die Läden zu plündern. Erstaunen im besten Fall.
Für die meisten der braven Bürger wird es wohl nur ein erneuter
Beweis für die Unberechenbarkeit und Wildheit und Kulturlosigkeit
der Gelben, Roten und Schwarzen sein.
Angesichts
dieser Tatsachen den globalen Sieg des Westens mit Pauken und
Trompeten zu feiern, zeigt nur den Grad der allgemeinen
Bewußtlosigkeit an. Oder, wie Robert Kurz schreibt: "Tatsächlich
hat es etwas grimmig Tröstliches, daß die wertförmig
konstituierte One World mit ihren ökologischen und sozialen
Defiziten die aller kritischen Potenz verlustig gegangenen
Berufsdenker des Westens dazu zwingt, Farbe zu bekennen in
freiheitlich-demokratischen Totschlägertheorien. Denn
Marktwirtschaft und westliche Demokratie als Oberflächen- und
Erscheinungsformen des modernen Fetischismus sind ganz praktisch
nicht mehr fähig, die überwältigende Mehrheit der Menschheit zu
integrieren. Das Ende des Staatssozialismus, der nur eine
Modernisierungsdiktatur unter vielen war, bringt ersichtlich und
mit elementarer Gewalt nichts weniger als eine Revitalisierung der
westlichen Demokratie, wie es sich die Zivilisationstheoretiker
erhofft haben, sondern im Gegenteil die galoppierende Barbarisierung
mit sich. Das jugoslawische Menetekel spricht von unserer eigenen
Zukunft." (Der Letzte macht das Licht aus, Berlin 1993, S. 52)
Dieser Robert Kurz mit seinem frechen Maul wagt selbständig zu
denken, was allein ihn schon sympathisch macht, auch wenn ich mit ihm
in manchen Fragen nicht einverstanden bin.
Neben
mir liegt völlig erschöpft und mit hängender Zunge der Hund. Seit
einer Woche jagt er Tag und Nacht den Ladies in der Nachbarschaft
hinterher. Frißt kaum, säuft nur jede Menge Wasser. Die
Nachbarin hat ihn mir für 14 Tage in Pflege gegeben. Und mich packt
der Zorn, wenn ich sehe, was dieses Vieh, das ja nun gar nichts dafür
kann, auf dem Speisezettel hat. Morgens Vasa-Knäckebrot mit
Käse. Mittags einen Spezial-Hundeknochen und abends
Vollwertflocken mit Büchsenfleisch. Zwischendurch bekommt er
noch seine Markknochen. Wenn er wenigstens der einsam lebenden Dame
als Schutz dienen würde, aber nein, denn er begrüßt alle Welt sehr
freundlich mit dem Schwanze wedelnd. Er macht lediglich, wie alle
Hunde hier, eine Menge Krach durch sein Gebelle. Es ist oft genug
ausgerechnet worden, wie viele Menschen allein von dem leben
könnten, was die westliche Welt für ihre Viecher ausgibt. Aber
jetzt, wo ich selbst dem an sich liebenswerten Vieh das Fressen
verabreichen muß, berührt es mich doch auf ganz andere Weise.
Und
natürlich denke ich an unsere Katze, die unsere Tochter sich
unbedingt wünschte. Gewiß bekam sie nur Haferflocken, die mit
Abfällen aus dem Fleisch- oder Fischladen gekocht wurden. Aber das
sind doch nur Gradunterschiede und Rechtfertigungen. Auch von dem
Wenigen, was sie gekostet hat, hätten in der 3. Welt ein oder
mehrere Menschen leben können. Es geht ja auch nicht darum, daß wir
alle jetzt unsere Hunde, Katzen und Kanarienvögel umbringen
sollen, aber ist es zu viel verlangt, daß jemand, der ein Lebewesen
hält, auch an den Mitmenschen denkt? Daß ihm das vielleicht ein
besonderer Ansporn sei mitzuwirken, daß wenigstens alle Menschen
erst einmal satt werden? Ja, das ist zu viel verlangt.
Was
ist dies für eine Zeit
in
der deine Liebe
im
Scheinwerferlicht deiner Erwartung
so
restlos verbrennt
daß
du dich fragst
ob
es je eine Erwartung gab
Was
ist dies für eine Zeit
wo
deine Liebe kaum ausreicht
einen
Kanarienvogel zu füttern.
Ein
Auszug aus einem Gedicht, das ich 1966 schrieb. Immer wieder
dieselben Gedanken in neuer Verkleidung.
Den
sogenannten Tierliebhabern geht es in Wirklichkeit gar
nicht um das Vieh, sondern ausschließlich um sich selbst. Sie
hätscheln oder trietzen es, je nachdem, ob sie zu Selbstmitleid
oder Selbsthaß neigen. Und natürlich ist so ein armes Vieh
immer gut dafür, Macht über Leben und Tod ausüben zu können.
Und deshalb ist mir dieses ganze Gesockse von Tierhaltern so
widerlich.
Es
kommt ein Punkt dazu. Hunde machen Lärm und sie scheißen in den
Städten alle Gehwege zu. Insofern machen sich Hundehalter zudem
einer permanenten Aggression gegenüber ihren Mitmenschen schuldig
(ganz genauso wie Autofahrer). Wie oft war ich gezwungen, meine
Wohnung zu säubern, weil meine Tochter oder ihre Freundinnen oder
unsere Freunde oder ich selbst in Hundescheiße getappt waren?
Wie oft bin ich zuhause aus dem Schlaf gejagt worden, wenn die
Hausgenossen ihre Viecher Gassi führten und im Treppenhaus ein
ohrenbetäubendes Gebell losging? Und wieviele Nächte konnte ich
hier nicht schlafen, weil die hunderttausend Köter ringsherum wie
irrsinnig heulten und bellten, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Nacht um
Nacht? Es gibt kein anderes Tier, das so penetrant und permanent
Krach macht wie der Hund. Und warum muß man das erdulden und
erleiden? Damit eine kleine Minderheit ihren Spaß hat. Von dem
Kant'schen Grundsatz `Was du nicht willst, das man dir tu, das
füg' auch keinem Anderen zu' sind wir wahrlich noch Welten
entfernt.
Ich
habe auch die Autofahrer genannt. Es kommt natürlich das berechtigte
Argument: Du bist doch selbst Autofahrer. Diese Frage habe ich mit
meinem Freund Hans Steiger - dem `Autofeind Nummer Eins der Schweiz',
wie ihn die Medien gerne nennen -
immer
wieder durchdiskutiert. Vorausschicken muß man, daß wir beide
radikal für die Abschaffung jedweden Individualverkehrs eintreten.
Es ist oft genug durchgerechnet worden, daß die Einführung eines
optimalen flächendeckenden Verkehrsnetzes, das obendrein kostenlos
sein könnte, die Gesellschaft immer noch weitaus billiger käme als
unser gegenwärtiges System des Individualverkehrs. Wer also sich
gegen diese Lösung sträubt, ist entweder ein Ignorant, ein
Reaktionär (etwa die Partei "Freie Fahrt für freie Bürger"
in der Schweiz) oder hat ein direktes Interesse an seiner
Beibehaltung - schließlich hängen Millionen Arbeitsplätze daran
(vom Arzt bis zum Straßenbauer, der Erdöllobby und der
Autoindustrie, sowie ihren Zulieferern). Hinzu kommt der
Gesichtspunkt der Aggression: Das Auto ist eine Waffe, verpestet die
Umwelt, schlägt auf die Ohren, verschlingt Unmengen an Gelände
(schon vor 100 Jahren hat ein Österreicher diese eherne Logik des
Autos bis zu Ende gedacht) und frische Luft. Schon aus Gründen
demokratischer Gesinnung müßten wir alle für die Abschaffung des
Autos sein: Würde man jedem erwachsenen Menschen auf der Welt ein
Auto zugestehen, dann wäre die Welt schon vorgestern an ihren
Abgasen erstickt. Aber diesem Argument weichen selbst die
`progressivsten' Menschen aus.
Nun
in all diesen Punkten sind sich Hans und ich vollkommen einig. Es
geht also allein um die Frage, weshalb ich ein Auto benutze. Ich habe
ihm detailliert nachgewiesen, daß ich bei meinem Verdienst
beispielsweise meine Reportagen unmöglich machen könnte. Selbst
wenn ich bei einer Reise nach Spanien etwa zwei oder drei auf einmal
mache. Das extrem beschissene Honorar für freie Mitarbeiter des NDR
würde allein von den Reisekosten verschlungen werden. Oder meinen
Freund Uli in der Heide - ca. 65 km von Hamburg entfernt - könnte
ich kaum über das Wochenende besuchen. Die Verbindungen sind extrem
schlecht und obendrein teuer. Ansonsten benutze ich das Auto in
Hamburg selbst so gut wie nie, sondern das Fahrrad. Und für längere
Fahrten besorge ich mir immer Mitfahrer.
Für
einen Großteil der Berufstätigen ist das Auto ebenfalls ein
zwingendes und nicht immer erwünschtes Verkehrsmittel. Piet, mit dem
ich im Hafen als Schauermann Schicht arbeitete, haßte sein Gefährt
von ganzem Herzen: "Aber kannst du mir sagen, wie ich um 5
Uhr früh von Eidelstedt wegkommen soll?" Konnte ich nicht, denn
Eidelstedt liegt am Arsch der Welt. Diese Argumente hat Hans
schließlich eingesehen. Und sie sind ein Argument mehr im Kampf
gegen das Auto, denn ich halte es für eine Ungeheuerlichkeit, daß
die Autolobby Menschen gegen ihren ausgesprochenen Willen zwingen
kann, ihre Produkte zu benutzen. Nicht nur das. Sie zwingt auch die
Gesellschaft, jährlich tausende und aber tausende Tote einfach in
Kauf zu nehmen (weltweit ein Hiroshima jährlich), von denen ein
großer Prozentsatz völlig Unbeteiligte sind.
Aber
das Auto ist ebenso wie die ganze Freizeitindustrie, das Fernsehen,
Video zur ideologischen Waffe der Herrschenden geworden. Sie
sind ein ausgezeichnetes Mittel, die arbeitende Menschheit unten zu
halten, es ihr beinahe unmöglich zu machen, aus einer Klasse an
sich zu einer Klasse für sich zu werden. Den Herrschenden ist es
gelungen, diese Dinge geradezu zu Symbolen der Freiheit zu
stilisieren. Das wurde ja bei der großen Wende mit aller
Deutlichkeit exemplifiziert. Armer Marx, im Grabe würdest du dich
umdrehen!
Dabei
läßt sich die Frage für ein sozialistisches Bewußtsein einfach
stellen und einfach beantworten. Was für die große Mehrheit der
Menschheit gefährlich und schädlich ist, das darf nicht produziert
werden. Die `Mehrheit der Menschheit' muß ergänzt werden: Und für
irgendeinen Teil der Arbeiterschaft. Dies für den Fall, wo etwa die
Förderung von Blei oder auch Quecksilber durchaus von Nutzen für
die große Mehrheit sein kann, aber tödliche Auswirkungen auf jene
Menschen hat, die es ans Tageslicht bringen müssen. Würde die Frage
unter diesem Gesichtswinkel gestellt werden, die Welt sähe wahrlich
anders aus.
Nicht
ein einziges `sozialistisches' Land hat auch nur ansatzweise
versucht, eine derartige Politik durchzuführen. Bei sehr schweren
und gesundheitsgefährdenden Arbeiten wurde in der SU das
Pensionsalter heruntergesetzt, aber gleichzeitig hat man dort
das Stachanow-System `erfunden'. Nur ein krankes Hirn wie Stalin
konnte sich so etwas ausdenken. Einen Akt extrem unsolidarischen
Verhaltens gegenüber den Kollegen (Stachanow erhöhte seine
Arbeitsleistung um 1300%!) auch noch zu belohnen! Aber man konnte ja
alles damit rechtfertigen, daß es der Staat der Arbeiter und Bauern
war. Nur Intellektuelle in ihrer weltfernen Ignoranz können auf
solch haarsträubenden Unsinn kommen.
1956,
ich war 19 und noch so blöde, wie man es ist, wenn man gerade das
Abitur hinter sich hat, bin ich auf einem großen Gut bei Coburg ganz
unabhängig auch auf diese glorreiche Idee gekommen. Wir waren beim
Ernten der Zuckerrüben. Auf Grund der starken Regenfälle konnten
die Maschinen nicht eingesetzt werden. Die Rüben mußten von
Hand herausgerissen, in Reih und Glied gelegt und von ihren Blättern
mit Spezialmessern an langen Stielen befreit werden. Mir wurde
es zu langweilig, Rübe um Rübe einzeln rauszuziehen. Ich stellte
mich zwischen zwei Reihen, nahm links und rechts eine in die Hand,
zog sie zur gleichen Zeit heraus und war dadurch doppelt so schnell
wie die anderen am Ende des Feldes. Ich war mächtig stolz und
wunderte mich, daß die Arbeiter nicht Beifall klatschten. Sie
straften mich im Gegenteil mit Verachtung.
Erich,
ein alter Arbeiter, nahm mich am Abend auf die Seite. Er erklärte
mir, daß das keine Kunst sei. Jeder andere könne das auch. Aber
damit würde jeder seine Gesundheit ruinieren und das Arbeitstempo
würde immer mehr beschleunigt werden. Ich schämte mich sehr, weil
ich Idiot nicht selbst auf diese Idee gekommen war.
Und
mit solch einem System wollte die SU die Welt für den Sozialismus
gewinnen! Die Arbeiter rochen den Braten und die Kapitalisten konnten
sich beruhigt in ihre Kissen zurückfallen lassen.
Eine
ganz andere Sache ist es, wenn Arbeiter oder Bauern in einem
kurzfristigen, gewaltigen Kraftakt die Grundlagen für ihre Zukunft
gelegt haben, wie das sowohl in der SU als auch in China oft
geschehen ist. Vom Krieg zerstörte Fabriken mußten in Gang
gebracht werden oder kahle, unfruchtbare Hänge in Terrassenfelder
umgewandelt werden. Derlei Glanzleistungen sind zu Anfang der
Revolution häufig vollbracht worden, so lange Gleichheit noch nicht
zu einem Schlagwort degradiert worden war.
Aber
der Gedanke, daß jedwede Arbeit, wenn sie immer und ein Leben lang
ausgeübt wird, schädlich für Geist und Körper ist (siehe den
Bericht im Spiegel im Juni `93 zur Schulsituation, der verdeutlicht,
wie Lehrer sich selbst und die Kinder zu Idioten machen, wenn sie
ihren Beruf mehr als maximal 10 Jahre ausüben), der wurde nicht
einmal gedacht, obwohl es bei Marx genügend Hinweise darauf gibt.
Marx und Engels hatten einen allseitig entwickelten Menschen vor
Augen, der mehrere sowohl geistige als auch körperliche Berufe
ausübt. Sie wollten die Arbeit von ihrem Geruch der Tretmühle und
des Zwanges befreien und damit auch den Menschen befreien.
Stattdessen hat man in den sozialistischen Ländern die
kapitalistische Erfindung der Zwangsarbeit übernommen!
Häufig
ist zur Verteidigung der SU - gerade in ihrer Phase des Aufbaus -
vorgebracht worden, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte wegen der
drohenden Faschismusgefahr. Ich habe dieses Argument immer für
grundlegend falsch gehalten. Wäre das Land Schritt für Schritt im
Sinne sozialistischer Brüderlichkeit aufgebaut worden (wie Mao es
später in Yenan gemacht hat), dann hätten die Menschen ihr Land
gegen den Faschismus mit Zähnen und Klauen verteidigt, mit Hacken
und Schaufeln und alten Gewehren, genau wie ihre chinesischen
Genossen, und sie wären nicht millionenfach zu den Deutschen
übergelaufen und am Ende hätte nicht Hitler nachträglich bei
Stalingrad gesiegt, was ich schon vor 10 Jahren geschrieben habe und
was heute doppelt seine Richtigkeit hat.
Wenn
ich an all jene denke, die in diesem Jahrhundert sich schon das Leben
genommen haben - Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Klaus Mann,
Vilhelm Moberg, Cesare Pavese, Agnes v. Krusenstjerna, Stefan
Zweig, Wladimir Majakowski, etc. etc. - nicht aus persönlichem
Mißgeschick, sondern aus Verzweiflung über die Verhältnisse hier
auf Erden und weil sie nirgends einen Lichtblick sahen, Menschen von
viel größerer Begabung und Klugheit als ich, dann kommt mir mein
Leben noch viel sinnloser als ohnehin vor. Es ist, als würden sie
aus ihren Gräbern heraus anklagende Finger erheben: Was hast du denn
dort zu suchen? Warum habe ich derlei Gedankten? Weil ich seit meiner
frühen Jugend an dieser Welt leide, mindestens ebenso gelitten habe
wie jene meine Vorbilder und weil mich seit jener Zeit der
Gedanke an Selbstmord begleitet. Nur habe ich bisher nicht ihren Mut
zur Konsequenz gehabt.
Mir
schien, als würde ich auf ewig dazu verdammt sein, in jenem
bayrischen Kaff zu verbringen, alle Auswege schienen versperrt,
die Welt nach draußen zugenagelt. So sehr ich jene reizende
Mittelgebirgslandschaft von Anfang an liebte, die tiefen Wälder der
Rhön, die klaren Bäche in den Wiesen mit Blumen, die es seit langem
nicht mehr gibt, die unergründliche Saale, die weithin
überschwemmten Wiesen im Frühling, so sehr haßte ich von Anfang an
jenen frömmelnden, heuchlerischen katholischen Menschenschlag.
Prägend waren zwei Erlebnisse. Wir waren gerade nach Bad Neustadt
gekommen und bewohnten zu fünft ein kleines Loch in einem Altbau im
eigentlichen Bad, das am Fuße der Salzburg am anderen Ufer der Saale
lag, und Bad Neuhaus hieß. Wir waren Flüchtlinge, die nur das
besaßen, was im PKW Platz gefunden hatte, und, was viel schlimmer
war, wir waren Heiden. Wir kleinen Heidenkinder also, meine
sechsjährige Schwester und ich mit meinen stolzen acht Jahren,
gingen den Weg zum Fluß hinunter, ein Fußweg, der bis hinüber in
die Stadt führte. Bei der Kirche trafen wir zwei Schwestern in ihren
schwarzen Trachten, die wir grüßten, wie es sich gehörte. Ich
hatte diese Sorte Mensch zuvor niemals gesehen. In Westpreußen hatte
es so etwas nicht gegeben. Sie winkten uns zu sich heran und die
dicke Ältere begann mit geheimnisvoller Miene in ihren Taschen zu
graben. Wir Kinder waren aufs Höchste gespannt. Schließlich
förderte sie zwei alte angebissene Brotkanten zu Tage, die sie uns
feierlich überreichte. Noch heute schäme ich mich, dafür Danke
gesagt zu haben. Zu meiner Genugtuung schäumte mein Vater vor Wut.
Und mir wird heute noch schlecht, wenn ich vor mir sehe, wo sie nach
den Kanten gegrabbelt hatte: Unterhalb ihres Wanstes in Nähe ihrer
mit Sicherheit ungewaschenen und stinkenden Möse (das Wort kannte
ich damals natürlich nicht, aber ich kann mich nicht entsinnen,
welch groteske Umschreibung damals bei uns üblich war).
An
derselben Stelle gegenüber der Kirche wurde ich wenig später
von zwei halbwüchsigen Mädchen nach Strich und Faden vertrimmt,
weil ich ein Heidenkind sei und nicht in die Kirche ginge. Nun, das
war gewissermaßen die Einführung in das fromme, erzkatholische
Bad Neustadt. Es war allerdings auch meine Einführung in das
wirkliche Leben, das ich bis dahin als behüteter Bengel im
feinen Vorortviertel von Marienwerder in Westpreußen nicht
kennengelernt hatte.
Die
Flucht in den endlosen Trecks, die Bomben, der Beschuß aus
Jagdflugzeugen, die Leichen links und rechts des Weges, das war nur
ein spannender Film gewesen, der in meinem kleinen Hirn abgespeichert
wurde und seine Wirkung erst sehr viel später zeitigte.
Erst
dort also, in Bad Neustadt begann für den 8-jährigen die
Wirklichkeit des Lebens. Eine sehr fremde Wirklichkeit, aber
immerhin. Als der Unterricht wieder in Gang kam, wurde zuhause
diskutiert, in welche Schule ich geschickt werden sollte, denn es gab
katholische und evangelische Volksschulen. Ich kam in die
protestantische. Wegen der geringen Anzahl von Schülern, überwiegend
Flüchtlingskinder, paßten alle fünf Klassen in ein einziges
Zimmer. Unterrichtet wurden wir von einem `Fräulein', wie es damals
hieß, einer jungen und verschlagenen alten Jungfer, die es
liebte, sich von ihren Lieblingen frische Weidenruten mitbringen
zu lassen, mit denen sie uns auf die Pfoten hauen konnte. Aber
scheißfreundlich war sie und je scheißfreundlicher sie war, um
so sicherer konnte man sein, daß sie wieder eine Gemeinheit im
Schilde führte. Mit Vorliebe drehte sie einem auch die Ohren dreimal
herum, daß man sich dreimal überschlug wie ein Karnickel. Normale
Watschen hingegen nahm man kaum zur Kenntnis.
Auch
die Brutalität der Kinder untereinander war für mich völlig
neu. Immer lauerte einem irgendwo ein Typ auf, sprang aus seinem
Versteck hervor, haute einem eins in die Fresse und war verschwunden,
bevor man sich von seiner Überraschung erholen konnte. Ich mußte
viel lernen, lernen, auf der Hut zu sein, auch lernen, daß Anstand
nichts galt. Ein anderes Mal war ein kleiner, aber zäher und als
Schläger berüchtigter Typ über mich hergefallen. Ich bezwang ihn,
saß auf ihm und glaubte, die Sache damit erledigt zu haben. Ich ließ
ihn los und stand auf. Er auch, aber nur, um mir einen solchen Hieb
zu versetzen, daß mir ein Zahn rausflog, und dann flitzte er
los wie der Teufel.
Kam
ich nachhause, war immer irgendwas zerrissen, die Hose oder das Hemd
oder die Schuhe - und das in jener Zeit, als es kaum etwas zu kaufen
gab, und wenn, dann nur auf Bezugsscheine - und mein Alter glaubte
mir natürlich kein Wort, schon gar nicht, daß ich an den
Schlägereien unschuldig war (ja, sie sogar verabscheute) und
verabreichte mir dann noch eine Tracht Prügel. Ich begann, sie alle
zu hassen, ein Haß, der bis heute nichts von seiner Intensität
verloren hat.
Ich
weiß nicht, wann und wie die ersten Selbstmordgedanken auftauchten.
Jedenfalls sehr früh. Ob aus Überdruß an der Ungerechtigkeit,
der Verlogenheit und der Heuchelei oder ob sich anfangs der Haß
gegen mich selbst richtete. Einfach verschwinden aus dieser
Welt, die nicht die meine war, nicht die Welt eines kleinen dummen,
verspielten und verträumten Jungen.
Mit
acht Jahren bot sich erstmals eine Gelegenheit zum Verschwinden
aus der mir verhaßten Welt. In Bad Neuhaus lernte ich einen
amerikanischen Offizier kennen. Ich kann unmöglich sagen, ob wir uns
auf deutsch oder englisch verständigten, d.h. mit den paar Brocken,
die ich aufgeschnappt hatte (das ganze Bad mit Kurhaus und Villen war
natürlich von den Amerikanern beschlagnahmt worden). Jedenfalls
machten wir lange Spaziergänge und führten, wie ich meine, ernste
Gespräche. D.h. sicher auch, daß ich ihm mein Leid klagte. Da
versprach er mir, mich mit in die USA zu nehmen. Er und seine Frau
hätten keine Kinder und würden sich über mich freuen. Aber
ich müßte meine Eltern fragen.
Und
ich Idiot fragte tatsächlich. Nein, ich kam nachhause und sagte:
"Ich gehe nach Amerika." Die Alten sperrten Maul und Nase
auf und stereo: "Wohin gehst du?" - "Nach Amerika. Ein
sehr netter Mann nimmt mich mit." Schon hatte mein Vater seinen
Stock, den er als Gehbehinderter immer bei sich hatte, fester
gepackt, mich geschnappt und grün und blau geschlagen, wobei die
Mutter half, mich festzuhalten. So bekam ich wieder einmal die
Beweise ihrer elterlichen Liebe zu spüren. Ob ich danach für ein
paar Tage eingesperrt wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls sah ich
jenen großen, liebenswerten und verständigen Menschen nie
mehr.
Heute
graust mir natürlich bei dem Gedanken, was mit großer
Wahrscheinlichkeit dort aus mir geworden wäre. GI in Korea oder
Vietnam und dann im besten Fall ein liberaler Prof, der in einem der
`little houses, a yellow, a red or a blue one' mit einer entzückenden
Frau und vier blonden Gören sein Leben zugebracht hätte. Wenn ich
daran denke, dann erscheinen mir die weiteren 10 Kerkerjahre, die ich
in Bad Neustadt noch zubringen mußte, geradezu als Geschenk des
Himmels.
In
Bad Neuhaus wohnten wir, wie gesagt, zu fünft in einem Zimmer,
das kaum größer als 20 qm gewesen sein dürfte, in einem uralten
Haus, das einem Schneider gehörte. Ein Schneider, wie er im Buche
steht, alt und bucklig und mit einer Brille auf der Nase saß er auf
seinem Tisch, natürlich im Schneidersitz. Und seine Alte war der
Hausdrache, vor dem alle kuschten. Dort, in der ersten Zeit, war es
auch, wo wir wirklichen Hunger zu spüren bekamen. In der Not
fraßen wir Eicheln, die vorher in der Bratröhre des
Küchenherdes geröstet wurden, um ihnen zumindest ein wenig den
bitteren Geschmack zu nehmen. Ich muß heute noch kotzen, wenn ich
daran denke. Dabei hatten die Pueblo-Indianer Jahrhunderte zuvor ein
Verfahren entwickelt, den Eicheln die Bitterstoffe zu entziehen. Die
Eicheln wurden sodann zu feinem und hochwertigem Mehl gemahlen.
Die
zehn Jahre in Bad Neustadt waren für mich eine Zeit des
Überwinterns. Ich legte mir eine Art Kokon zu, den ich nach Belieben
öffnen und schließen konnte. Zuhause und in der Schule und in
der Stadt blieb er geschlossen. Ich war überall als arroganter
Bengel verschrien, der niemanden grüßte, was ich aus den Klagen
gegenüber meinen Eltern erfuhr. Aber das stimmte nicht. Ich sah
die Leute ganz einfach nicht. Ich sah nur, was ich sehen wollte. Die
alte Mauer des Klostergartens mitten in der Stadt, das Pflaster, die
kleinen Fenster in den engen Gassen mit ihren Geranien und hübsche
Mädchen, die sah ich auch.
Mein
Interesse an der Sexualität war verdammt früh erwacht. Noch zuhause
in Marienwerder spielte ich des Nachts zu gerne mit meinem Pimmel. Es
scheint auch Folgen gehabt zu haben; ich erinnere das nicht mehr,
aber ich weiß noch, daß plötzlich meine Mutter abends immer ans
Bett kam und mir verbot, die Hände unter der Bettdecke zu haben, was
nur zur Folge hatte, daß ich vorsichtiger wurde.
Welch
eine Qual, diese ewige Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach dem anderen
Geschlecht, das einem gleichzeitig so viel Angst einjagte. Man hatte
nichts anderes im Kopf, die Geilheit beherrschte das gesamte
Denken. Ich frage mich, wie wir jemals eine Mathe- oder Physikarbeit
schreiben konnten, ohne daß lauter Fotzen und Pimmel daraus
wurden - wobei wir damals natürlich weder Fotze noch Pimmel
auch nur dachten. Die Sitten in dem frommen Städtchen waren so
streng, daß mit dem Rauswurf aus dem Gymnasium bedroht wurde, wer
etwa küssend hinter dem Stadtmäuerchen erwischt wurde. Und es gab
einen großen Skandal, als Nicole, die Tochter eines Ingenieurs
aus Berlin, der zu Siemens nach Bad Neustadt versetzt worden war, in
unserer Klasse mit einem Ausschnitt auftauchte, der zu viel von ihren
üppigen Brüsten sehen ließ.
Ich
kann sagen, daß dieses Versprechen, das das Leben zu bieten
schien, das so vage und undeutlich wie eine Fata morgana an einem
allzu fernen Horizont schwebte, das auf jeden Fall aber mit Mädchen
zusammenhing, daß es dies war, was mich knurrend und murrend
die Hölle zuhause aushalten ließ. Und die Natur. Jede freie Minute,
und die waren nicht so häufig, da ich schon als 8-jähriger hart
arbeiten mußte, nutzte ich, um von zuhause abzuhauen. Zu Fuß und
die letzten beiden Jahre mit dem Fahrrad. Ein häufig
vorgeschobener Grund war das `Organisieren' von Brennholz, von
wilden Früchten oder Pilzen oder Obst, je nach Jahreszeit. Das
besorgte ich aber nebenbei, kannte ich doch im Umkreis von 10 km alle
einschlägigen Stellen und jeden Obstbaum und wußte genau, wann
seine Früchte reif waren. Wichtig war nur, allein zu sein und
endlos herumstrolchen zu können. Und mit Sicherheit führte
mich mein Weg immer an die Saale, um im Sommer wie im Winter zu
baden. Nackt natürlich, denn die Straße lag weit ab. Aber doch
nicht so weit, daß man nicht sehen konnte, daß da jemand nackt
badete (ich und manchmal auch mein Freund Heinrich), weshalb öfters
im Gymnasium Aufrufe erschienen, die das Nacktbaden auf das
Strengste untersagten. Sie wurden gewissermaßen ins Blaue
erlassen, denn die Täter fanden sie nie.
Ich
weiß auch, warum gerade hier in Spanien die Bilder aus meiner Jugend
so massiv wieder auftauchen. Wenn ich auf der Terrasse sitze und dem
Flug der Mehl- und Rauchschwalben zusehe, wie sie elegant und so
mühelos mit nur wenigen Flügelschlägen über das Tal
hinsegeln und ihre Kapriolen schlagen, dann sehe ich mich dort im
Saale-Tal liegen, ins Blau des Himmels schauen und eben jenem
Spiel der Schwalben zuschauen. Bilder unendlichen Glücks. Und mein
ganzes Leben lang, vor allem in den Zeiten meiner tiefsten
Depressionen, floh ich hinaus in die Natur, um durch das Schauen
meinen Schwerpunkt wiederzufinden. Das mag ein verschneiter Weg im
Segeberger Forst sein oder der wolkenverhangene Himmel in den Ebenen
Norddeutschlands mit ihren fernen Horizonten, der Wellenschlag des
Indischen Ozeans, das Spiel eines Baches in der Sierra Nevada oder
die endlose Weite der Masai-Steppe.
Auch
Lorca hat diese Erfahrung gemacht. Er sagte einmal zu einem
Journalisten: "Ich liebe die Natur. Ich fühle mich ihr mit
allen meinen Gefühlen verbunden. Die frühesten Erinnerungen
meiner Jugend haben den Geruch der Erde. Die Wiesen, die Felder haben
für mich Wunder bewirkt. Die wilden Tiere in der freien Natur, das
Vieh, die Leute, die auf dem Land leben, all dies hat für mich eine
Faszination, die nur sehr wenige Leute begreifen. Wäre dies nicht
so, hätte ich nicht Bluthochzeit schreiben können. Meine ersten
emotionalen Erfahrungen sind mit dem Land und mit der Arbeit auf dem
Land verbunden. Und deshalb gibt es im tiefsten Innern meines Lebens
das, was Psychoanalytiker einen `Agrar-Komplex' nennen würden."
(Gibson `Lorca's Granada', S. 136)
Die
Erfahrung war für mich immer die gleiche: Das Gefühl, sich fallen
lassen zu können, heimgekehrt zu sein. Heimkehr zu mir selbst, was
auch mit Heimat zu tun hat. Durch den Verlust meiner Heimat habe
ich mir in der Natur, egal an welchem Punkt der Welt, eine zweite
Heimat geschaffen.
Diese
zweite Heimat sollte mir niemand mehr nehmen können und ich hielt
sie in meiner Jugend für ewig und unzerstörbar. Natürlich
nahm ich damals schon die Verschmutzungen `meines' Flusses, der
Saale, wahr. An einem Wehr unterhalb meines Lieblingsbadeplatzes
waren sie stets deutlich zu besichtigen: Mal waren es Flaschen, mal
eine Holzkiste oder gar mal eine bereits aufgequollene Sau. Und
ich ärgerte mich über jeden Neubau, der sich in fruchtbares
Land hineinfraß. Jeder Baum, der für die Verbreiterung einer Straße
gefällt wurde, war mir ein zu hoher Preis. Ach, wäre es bei all
jenen Harmlosigkeiten geblieben, die ich immer für reparabel hielt.
Jahrzehnte später machte ich einen kurzen Besuch in Bad
Neustadt an der Saale. Die Zerstörung der Stadt und ihres
Umlandes hätte ich mir in meiner wildesten Phantasie nicht
gigantischer vorstellen können. Neben der alten Kaiserpfalz, der
Salzburg haben Strauß u. Co. eine gigantische Herzklinik
hingeknallt, der Berg nach Herschfeld mit seinen Obstterrassen
ist mit Villen und Straßen zubetoniert worden, wie alle anderen
Hügel rings um die Stadt auch. Und die Stadt selbst? Nun ja, jedes
Kaff will sich ja irgendwie das Flair einer Großstadt geben. Ein
spastischer Bastard ist das Ergebnis. Diese hochwohlanständigen
Herren Stadtväter sind überall dieselben Typen. Korrupt bis zur
Halskrause, kungeln und saufen und huren sie mit den Herren
Bauunternehmern und Zementfabrikanten und Holz- und
Stahllieferanten herum und da sie alle kulturlose Banausen und
Barbaren sind, muß einfach so etwas herauskommen.
Ich
lese gerade bei Jan Gibson, daß exakt dasselbe seit 100 Jahren in
Granada passiert. Alte traditionsreiche Straßen und Häuser -
natürlich auch das Wohnhaus von Lorca - wurden niedergelegt,
eines der Wahrzeichen der Stadt, der Darro-Fluß, wurde in eine
Betonröhre geleitet und statt die Erweiterung der Stadt die Berge
hinauf zu planen, wurde hemmungslos die fruchtbare Vega zubetoniert.
Dabei gab es schon seit 100 Jahren einflußreiche Stimmen, die
vor solch einer Entwicklung warnten. Ich frage mich, warum überall,
von Haparanda bis Granada, von Le Havre bis Athen (und auch in
der übrigen Welt, der entwickelten natürlich!) dasselbe Spiel
gespielt werden konnte. Warum sich ausnahmslos und überall diese
Schweine durchsetzen konnten. Und es sind ja nicht nur schlicht und
einfach kulturlose Abzocker, sondern sie sind außerdem noch
kriminell. Ich meine nicht die normale Korruption - die Bestechung
der Politiker, der kontrollierenden Geodäten, der staatlichen
Prüfer u.dgl. Nein, die echte Kriminalität. Wie hier ein paar
Millimeter Sand oder Kieselstein als Unterlage für die Autobahn und
dort ein paar Kilo Zement pro Kubikmeter beim Mischen für den
Elbeseitenkanal eingespart werden. Und wenn sich nach einem Jahr
bereits Rinnen und damit Aquaplaning auf der Autobahn bilden, was zu
immer neuen Toten führt, oder nach wenigen Jahren der
Elbeseitenkanal bricht und hunderte Millionen Schäden
verursacht, dann ist es niemand gewesen und auch in den
pro-forma-Prozessen wird niemals ein Verantwortlicher gefunden. Man
könnte sie alle unbesehen einsammeln und an den nächsten
Laternenpfahl hängen. Aber das darf man ja in unserem
freiheitlich-demagogisch-theokratisch-demokratischen Rechtsstaat
nicht sagen. Ich nehme es also zurück und behaupte das Gegenteil.
Alle Laternenpfähle sollen eingesammelt und ihnen umgehängt werden.
Hier
in Spanien läuft es nicht anders. Gleich zwei solcher Exemplare, die
ihren Mitmenschen zu Leide leben, habe ich in unmittelbarer
Nachbarschaft. Beide wegen betrügerischen Bankrotts schon
verhaftet und im Gefängnis gewesen, sind beide fetter herausgekommen
als sie hineingegangen sind. Man sieht ihre Visagen und weiß
Bescheid. Und obwohl jeder weiß, daß es Verbrecher sind, werden
beide, wenn sie mit ihren schweren Mercedes-Geländewagen die
Staubstraße hochjagen, von allen bis hin zum Ziegenhirten
freundlich, ja ehrerbietig gegrüßt. Statt ihnen Steine
hinterherzuwerfen! Sie zumindest sozial in Acht und Bann zu tun. Aber
nein, vor dem betäubenden Duft des Geldes machen sie brav ihren
Knicks und fallen beinahe in Ohnmacht.
Aber
ich wollte von der Natur als meiner eigentlichen Heimat reden. Nicht
nur, daß alle meine auseinanderflatternden Sinne und Nerven sich
dort sammeln konnten, um einen Kern kreisen konnten, der
allmählich das wurde, was man gemeinhin den ruhenden Pol einer
Person nennt, sondern es gab auch eine umgekehrte Bewegung: Ich
selbst floß in den Kreislauf der Natur hinein, mein Puls ging in den
Puls der Bäume und Pflanzen, den Puls der Insekten und Vögel über.
Ich begann diese grundlegende Einheit alles Lebens zu spüren.
Die Brüderlichkeit alles Lebendigen, weit hinausgehend über das,
was die Revolutionäre von 1789 darunter verstanden. Ich konnte die
Augen schließen und mich mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde
entfernen und zu einem Atom des Weltalls werden, jenes Atom
betrachtend, das wir Erde nennen. Mir gelang es dadurch, Relationen
zurechtzurücken und selbst nicht dem Hochmut zu verfallen.
Ich
habe nie nur einen Quadratzentimeter Land und nicht einen Ziegelstein
besessen, aber wo auch immer ich lebte, ob in verschiedenen
Teilen Deutschlands oder in Afrika oder in Schweden oder jetzt hier
in Andalusien, habe ich das jeweilige Fleckchen Erde stets als
`mein' empfunden. `Mein' im Sinne: In meine Obhut gegeben. Ich
habe Gärten angelegt und Bäume gepflanzt, als würde ich für
immer bleiben. In Afrika haben wir ein halbes Dutzend Gärten gehabt
und etliche Bäume gepflanzt und die vorhandenen Bäume gehegt und
gepflegt, obwohl wir immer nur maximal drei Monate blieben. Mehr
noch: Selbst die Gärten meiner Freunde habe ich in diesem Sinn als
`mein' empfunden und immer mit Lust und Freude darinnen
gearbeitet. Und als ich kürzlich gemeinsam mit den Ökologen hier
ein Feuchtgebiet unten am Meer säuberte, war das mein humedal,
den es zu erhalten galt. Insofern ist mir die spanische Mentalität,
die alles, was außerhalb ihres unmittelbaren Einflusses (sprich
Besitzes) liegt, als `Feindesland' betrachtet, außerordentlich
fremd. Natürlich ist sie auch bei uns weit verbreitet, aber doch
nicht so ausgeprägt wie hier. Es ist die kapitalistische Mentalität:
Nach mir die Sintflut.
Neidvoll
habe ich immer nach China geblickt, wo in den so viel geschmähten
Kommunen hingebungsvolle Arbeit geleistet wurde, die dem Besitzdenken
fern lag. Ich verschlang die Berichte von Hinton und Miller und
Myrdal und freute mich über jeden noch so kleinen Erfolg. Trotz
romantischer Übertreibungen und auch Schönfärbereien so mancher
Chronisten gab es da eine Vision, den Gedanken an eine Welt, die
durch gemeinsame Anstrengungen verbessert werden könnte und müßte.
Und der beschrittene Weg erschien tatsächlich gangbar. Nun ja, wir
wissen, was aus dieser Vision durch den auch in geistiger
Hinsicht zwergenhaften Deng wurde. `Bereichert euch' - das Schlagwort
der französischen Bourgeoisie nach der Revolution wurde auch
zum Schlagwort der Post-Mao-Ära.
`Wo
ich mich befinde, dort ist der Mittelpunkt der Welt, aber ich kann
mich an vielen Punkten der Welt befinden', sagte einst ein kluger
Indianer zu Häuptling Büffelkind Langspeer, dem Vorkämpfer für
die Rechte der nordamerikanischen Indianer, der unter so mysteriösen
Umständen ums Leben kommen sollte. Dieser Satz enthält auch etwas
von dem, was ich meine: Hier bist du jetzt, hier lebst du jetzt, ein
anderes Leben gibt es nicht und nun mach was draus. Und zu dem Leben
gehört nun einmal das Leben der anderen, von Mensch, Tier und
Pflanze. Aber das genau haben wir ja nicht einmal ansatzweise
begriffen. Da sei Gott vor, könnte man ausrufen. Das Christentum hat
2000 Jahre lang diesen Denkansatz unmöglich gemacht. Gott hat
ruckzuck die Welt erschaffen, hokuspokus den Menschen
hineingesetzt und ihn mit der Aufgabe betraut, sich die Welt
untertan zu machen. (Ja, ich sehe sie die Mündlein spitzen und höre
ihr Gequake: Das ist aber sehr verkürzt. Und dann zählen sie noch
ein paar Ausnahmen auf. Die sollen doch ihr Maul halten und die Bibel
lesen und zwar ganz und sollen sich nicht nur herauspicken, was
ihnen in den Kram paßt.)
Dies
hat zu einem Hochmut im Umgang mit der Natur geführt, der
seinesgleichen auf der Welt nicht wieder findet. Aber ich meinte
nicht nur diesen Hochmut, sondern auch jenen gefährlichen
Hochmut, der zu elitistischem und faschistischem Denken führen kann
und der immer bei Jugendlichen auftritt, die das Korrektiv der Liebe
noch nicht kennengelernt haben, die unsicher und voller Komplexe
sind, die andererseits wissen, daß sie Gedanken und Gefühle und
Wünsche haben, von denen die Menschen um sie herum nicht einmal
eine Ahnung haben. Es ist die Zeit, in der man sich als Genie fühlt,
als verkanntes, als Herkules unter Zwergen, der die Welt zum Staunen
bringen würde, wenn man ihn nur ließe, wenn man ihm nur eine
Chance gäbe.
Aber
diese Chance löst sich stets wie Frühnebel hinter den Tücken des
täglichen Lebens auf, die einen zurück in den Morast werfen,
wodurch man tagelang nur damit beschäftigt ist, sich wieder
herauszuarbeiten und zu säubern. Mein Alter, der maximal zwei Monate
im Jahr von zuhause abwesend war und sein Büro im Haus hatte, daher
stets alles unter Kontrolle hatte, versäumte nicht eine
Gelegenheit, mir zu zeigen, welch elender Krüppel ich sei. Er hatte
sich die Auffassung angeeignet, daß ich als Ältester gegenüber
meinen jüngeren Schwestern (zwei und acht Jahre jünger) die
Verantwortung trüge. Das wurde natürlich von meiner nur zwei
Jahre jüngeren Schwester weidlich ausgenutzt. Paßte ihr irgendetwas
nicht, ließ sie sofort prophylaktisch einen Schrei los. Die Tür
ging auf, ein Griff und ich bekam entweder eine saftige Backpfeife
oder den Arsch versohlt. Es ist verdammt schwer für ein Kind,
so viel Ungerechtigkeit zu ertragen. Mich machte es jedesmal
rasend vor Wut. Ich sprach tagelang nicht mit den Eltern oder nur das
Allernotwendigste.
Dieselben
Ungerechtigkeiten passierten mir auch ständig als dem mit Abstand
jüngsten Kind in meiner Klasse. An mir kühlten die bis zu sechs
Jahre älteren Bauernrüpel ihr Mütchen. Bad Neustadt hatte ein
Zentralgymnasium, das für das ganze ländliche Hinterland bis
zur Zonengrenze zuständig war. Alle Leute mit Geld, die Bierbrauer,
Metzger, Großbauern und Koofmichs schickten ihre Sprößlinge ins
Gymnasium, wo die meisten die Mittlere Reife selten überstanden.
Aber sie blieben lange genug, um dem Heidenkind zu zeigen, was
eine Harke ist. Und man war nicht zimperlich. Einem Jungen, ein
zarter Kerl aus Wollbach, wo sein Vater eine kleine Klitsche
hatte, wurde sogar einmal ein Bein gebrochen.
Erst
mit fünfzehn Jahren hatte ich die Größe und die Kräfte der
anderen eingeholt und ich rächte mich an allen. Ich lernte,
sofort und erbarmungslos zuzuschlagen, sowie mir die geringste
Ungerechtigkeit zuteil wurde. Dabei kam mir der von der väterlichen
Seite ererbte Jähzorn zugute. Ich verwandelte mich in einen
Berserker, der ohne Besinnung zuschlug, auch wenn der andere längst
am Boden lag, so daß mich oft genug mehrere Leute von meinem Opfer
trennen mußten, bevor es zu spät war. Allerdings ließ ich den
anderen in der Regel den ersten Schlag tun. Ich wollte einfach
niemals mehr Prügel beziehen, niemals mehr Opfer sein. Diese
Lektion hatte ich sowohl im Elternhaus, als auch in der Schule
gründlich gelernt.
Vielleicht
hat auch dieser starke Wille, nicht selbst Opfer sein zu wollen,
frühzeitig zu meiner Solidarität mit allen anderen Opfern auf
dieser Welt geführt. Ich erinnere mich, die faschistische
Kolonialliteratur, die in meines Vaters Bibliothek stand, immer
`linksherum' gelesen zu haben. Meine Helden waren die Unterdrückten,
die Zulus, die Hereros, die Wahaya und ich feierte mit dem Mahdi die
vernichtende Niederlage, die er den Engländern bei Khartum
beigebracht hatte. Mit Absicht sage ich nicht `Solidarität mit den
Schwächeren', denn all diese Völker und Menschen waren ja nicht
schwach. Sie konnten nur der eher zufälligen Überlegenheit der
Waffen der Weißen nichts entgegensetzen. Als Kitchener seinen Kumpan
Gordon rächen sollte und die ersten Maschinengewehre zum
Einsatz brachte, war der Heldenmut der Sudanesen, die mit ihren
Schwertern und Flinten in immer neuen Wogen gegen die englischen
Stellungen brandeten, völlig vergebens. Aber Kitchener wurde
für seine `Heldentat' zum Earl of Khartoum and of Broome
erhoben. Mir war immer rätselhaft, wie man die feigen Weißen, die
sich hinter ihren Kanonen und ihren Maschinengewehren (später
in ihren Schlachtschiffen und Flugzeugen) versteckten, als Helden
feiern konnte. Im Kampf Mann gegen Mann haben die Weißen meist
eine schlechte Figur abgegeben.
Diese
Einstellung hat mich quasi automatisch links werden lassen,
lange bevor mir dies als politischer Begriff richtig klar war. Dieser
Einstellung habe ich meine quasi-Ausweisung aus der Schweiz 1965 zu
verdanken. Wie ich hintenherum erfuhr, wurde mir meine
Aufenthaltserlaubnis (und damit auch die Fortführung meiner
Arbeit als Gallerist) deshalb entzogen, weil ich Kommunist sei. Mir
war damals völlig unverständlich, wie man zu so einer Auffassung
gelangen konnte. Erst Jahre später wurde mir klar, daß, wer mit
solchen Einstellungen und seinen Sympathien für alle
Befreiungsbewegungen spazierenging, ganz einfach ein Kommunist sein
mußte.
Das
ist keine Koketterie. Ich war damals so blauäugig. Ich habe zwar
schon 1958 für die FLN gespendet, war 1959 oder 1960 auf den großen
Demos in Paris mit dem Ruf `Massu - assassin' mitgerannt, die von der
Polizei brutal zusammengeschlagen wurden und ich war von Anfang
an für die kubanische Revolution eingetreten, aber als politischen
Menschen verstand ich mich nicht. Ich schrieb Gedichte, wann ich Lust
und Laune hatte, verdiente mit tausenderlei Jobs meinen
Lebensunterhalt und damit hatte es sich. Das hing wohl auch damit
zusammen, daß in den Freiburger Künstlerkreisen, in denen ich
damals verkehrte, jedwedes politisches Handeln völlig out war. Man
diskutierte und kritisierte endlos und leidenschaftlich, aber
anschließend fuhren wir zum Kaiserstuhl, um unser Schöpple zu
trinken.
Ich
glaube, der Widerwille gegen die Politik reicht noch weiter
zurück, in die Neustädter Zeit. Schon als Kind hörte ich ja das
eine oder andere - wie dieser durch seine Beziehungen es zu dem
Posten gebracht und jener durch dunkle Machenschaften zu
Reichtum gekommen sei - worauf unausweichlich der Stoßseufzer
kam: Politik ist eben ein schmutziges Geschäft. Wann mir klar wurde,
daß jene Leute diesen Seufzer nicht aus moralischer Empörung
taten, sondern weil sie selbst aus diesem oder jenem Grunde oder aus
Blödheit nicht mit im Geschäft steckten, weiß ich nicht mehr. Ich
machte mir jedenfalls diesen Satz - mit seinem moralischen
Inhalt - zu eigen, zumal er ja auch auf Geld und Macht bezogen war,
und beides interessierte mich absolut nicht. Selbst hielt ich
mich also für einen völlig unpolitischen und harmlosen
Menschen, für eine ganze Menge Leute hingegen war ich das
durchaus nicht.
Außer
den Schweizern gibt es noch ein hübsches Beispiel. Der dicke
Pfister. Pfister kam aus Mühlbach, ein reizendes kleines Dorf nur
zwei Kilometer von Bad Neuhaus entfernt. Er ging nach der mittleren
Reife vom Gymnasium ab, für ihn eine gigantische Leistung, wie wir
meinten, denn wir hielten ihn alle für einen halben Dorftrottel.
Dazu paßte es wunderbar, daß er in seinem Mühlbach Dorfpolizist
wurde.
25
Jahre, nachdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, traf ich ihn auf einem
Abiturienten-Treffen wieder, wozu er aus mir nicht verständlichen
Gründen eingeladen worden war. Schon leicht angeheitert, brüllte er
mir über mehrere Tische hinweg zu: "Na, Schlereth, bist du
immer noch so ein Linksintellektueller?" Mich rührte fast
der Schlag. Wie konnte so ein Idiot mich offenbar damals schon
richtig eingeschätzt haben? Das nenne ich Klasseninstinkt.
Außer
meiner `unpolitischen Haltung', wie ich meinte, gab es noch einen
Punkt, in dem ich sehr früh eine typisch linke Haltung einnahm.
Mit Schiller, den ich in dieser Frage als ersten las, war ich der
Meinung, daß Dichtung erzieherisch zu wirken habe, daß l'art pour
l'art in eine Sackgasse führe. Dieser Linie, die über Diderot zu
Marx und Mao führt, bin ich bis heute treu geblieben.
In
dem Buch über JORGE AMADO von Erhard Engler lese ich, was Amado
selbst z.B. über seine Bahia-Serie schreibt: "Als Werk eines
jungen Menschen kann sie gar nicht frei von Fehlern sein. Dagegen
weiß ich, daß in ihr ein Gefühl lebendig ist, das den Werken der
brasilianischen Literatur fast immer mangelte: eine unbedingte
Solidarität und eine tiefe Liebe zu den Menschen, die in diesen
Büchern leben." Oder an anderer Stelle: "Als
Schriftsteller verbindet mich eines zutiefst mit Castro Alves:
wie er habe ich stets dem Leben die Stirn geboten, und wie er
schreibe ich für das Volk und im Auftrag des Volkes."
Oder: "Meine Parteilichkeit galt der Freiheit gegen den
Despotismus und die Übergriffe der Gewalt, dem Schwachen gegen den
Starken, der Freude gegen den Schmerz, sie galt der Hoffnung
gegen die Verzweiflung, und ich bin stolz auf meine Parteinahme.
Ich war nie unparteilich und werde nie unparteilich sein im Kampf
zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Morgen und Gestern."
Und noch ein entscheidender Satz: "Ich habe die Freude, mein
Herz jung bewahrt zu haben, weil ich nie die Einheit zwischen meinem
Leben und meinem Werk gesprengt habe und weil ich sicher bin, daß
ich sie nie sprengen werde." Das ist es, was für mich zählt,
da mögen die Frösche in ihrem akademischen Sumpf - die Calvo, Bosi,
Brode und wie sie alle heißen - noch so laut quaken.
Ich
sage nicht, daß sie Unrecht haben. Als bürgerliche Frösche haben
sie natürlich Recht. Amado hat `parteiliche' Literatur geschrieben,
was er ausdrücklich bestätigt hat. Aber daß die Kritiker der
Bourgeoisie zutiefst unehrlich sind, wenn sie bestreiten, daß ihre
Literatur ebenfalls parteilich ist, wertet ihre Kritik erheblich
ab. Und natürlich wirkt auch die sogenannte unpolitische Literatur
`erzieherisch', indem sie das Volk verblödet, aber das hören die
Vertreter der reinen Kunst nicht gerne. Und da spreche ich noch nicht
einmal von all dem Kitsch und Schund, den Lore-Romanen und den
Schnulzen auf dem Musikmarkt und den Schmachtfetzen in Kino und
Fernsehen, was schließlich auch zur bourgeoisen Kunst gehört.
Da leugnen die bourgeoisen Ästheten schlankweg jede Vaterschaft.
Alle
Kunst sollte unter diesem Gesichtspunkt durchleuchtet werden. Ist es
Zufall, daß Johann Strauß seinen `Kaiserwalzer' fast zur selben
Zeit komponierte, als Kitchener das Massaker unter den Schwarzen
Sudans beging? Diese ganze Walzerseligkeit und die
Gartenlauben-Literatur blühten zu einer Zeit, als in der Welt die
blutigsten Kolonialkriege geführt wurden. Diese `Kultur' war nichts
als ein Opiat, um die Gewissen einzuschläfern. Und da es so
offenbar gut funktionierte, ging man schon in den 60-er Jahren des
vorigen Jahrhunderts dazu über, auch die Gehirne des Proletariats
damit vollzupumpen, wie etwa in den Arbeiterbildungsvereinen. Es war
ein unverzeihlicher Fehler der Sozialdemokratie, die
theoretische, geistige und kulturelle Bildung ihrer eigenen
Mitglieder - vom Proletariat insgesamt ganz zu schweigen - total
vernachlässigt zu haben. Wobei ich eher geneigt bin, von bewußter
Sabotage zu reden und nicht von einem Fehler, wenn ich bedenke, wie
revisionistisch verseucht die Partei schon zu einem frühen Zeitpunkt
gewesen ist.
Die
geistige und kulturelle Bildung des Proletariats hätte das A und O
sozialistischer Parteipolitik sein müssen. Vielleicht hat Marx
selbst diesen Punkt nicht deutlich genug herausgearbeitet. Der
Sozialismus ist schließlich die einzige Gesellschaftsform, die
nicht auf dem Boden der vorhergehenden entstehen kann. Marx hat
das notwendige Scheitern aller sozialistischen Utopien innerhalb
einer kapitalistischen Gesellschaft bewiesen. Der Kapitalismus konnte
auf dem Boden des Feudalismus über Jahrhunderte de facto
heranreifen, bevor er im vergangenen Jahrhundert auch de jure
die Macht übernahm. Das kann der Sozialismus nicht. Abgesehen davon,
daß er mit den kapitalistischen Marktgesetzen unvereinbar ist,
sorgt auch der bürgerlich-kapitalistische Staat über die
Reinheit der Lehre wie dazumal der Großinquisitor und verfolgt mit
ebensolcher barbarischer Strenge jedwede Abweichung. Und das
Furchtbare ist, daß der Imperialismus durch seine Wandlung in seine
heutige neokolonialistische oder post-imperialistische Form sich so
stark gewachsen hat, daß er nicht nur in seinen Stammländern,
sondern auch an jedem beliebigen Punkt der Welt jede Abweichung
sofort und rücksichtslos unterdrücken kann. Ein Kuba, Vietnam oder
Moçambique ist heute kaum noch vorzustellen, wenn wir daran denken,
wie der Golfkrieg geführt worden ist.
In
der Nachkriegszeit und zunehmend in der Zeit, als die Kolonien
sich von ihren Mutterländern befreiten, mußten noch viele dieser
`chirurgischen' Eingriffe in größter Heimlichkeit mit Hilfe der
Geheimdienste, gekaufter Söldlinge und sorgfältig geplanter Morde
und Coups durchgeführt werden. Man denke nur an Iran, Zaire,
Indonesien, Chile, an Mondlane, Cabral usw. Heute ist der Sieg des
Kapitals so vollständig, seine Macht so ungeheuer, daß es sich den
UNO-Mantel des Friedensstifters umhängen und drauflos bomben kann,
unter dem frenetischen Beifall der gesamten `zivilisierten', der
weißen Welt (und Japans, die Ausnahme, aber als Preußen Asiens
sind sie ja fast Weiße). Konnten sich früher noch die Linken in der
seligen Hoffnung wiegen, daß die Revolution über die fernen `eins,
zwei, drei, vielen Vietnams' irgendwann einmal auch die
Mutterländer erreichen würde - wie ja die afrikanischen
Befreiungskriege in Angola, Moçambique, Guinea-Bissao
tatsächlich Rückwirkungen auf das Mutterland gehabt haben - so
liegt im Gegenteil die Verantwortung heute wieder dort, wo sie
eigentlich immer gelegen hat, nämlich allein bei uns. Eine
Umwälzung ist nur noch in den Mutterländern denkbar und auch
machbar - allerdings nur unter Beteiligung der großen Mehrheit der
Bevölkerung (man braucht nur an die extreme Anfälligkeit
unserer Kommunikationsgesellschaft zu denken, um sich vorstellen
zu können, wie wenig nötig wäre, um sie vollständig
lahmzulegen).
Allerdings
gilt auch heute, was ich an anderer Stelle für das vorige
Jahrhundert geltend gemacht habe, daß falls - den völlig
unwahrscheinlichen Fall angenommen - in Deutschland eine Revolution
einträte, die Internationale des Kapitals bestimmt nicht untätig
zuschauen würde. Sie würde, allen ihren demokratischen
Lippenbekenntnissen zum Trotz, notfalls nicht davor zurückschrecken,
Deutschland in die Steinzeit zurückzubomben. Man denkt unwillkürlich
an Trotzkis Idee von der `Unmöglichkeit der Revolution in einem
Land' - die damals zu Recht von Stalin bekämpft wurde (wobei der
Eispickel das denkbar ungeeignetste Instrument war) - d.h. daß
revolutionäre Entwicklungen heute simultan in mehreren Ländern
stattfinden müßten, etwa in Westeuropa oder den USA. Aber, so etwas
nur zu denken, ist ja schon Schwachsinn. Da müßten schon für eine
Weile alle Fußballspiele abgesagt und die Bierproduktion eingestellt
werden.
Jetzt
steigt beinahe täglich hier im äußersten Süden Spaniens die
Temperatur, so daß jede Bewegung einem immer schwerer fällt und
auch die Synapsen im Gehirn sich langsamer zu öffnen und zu
schließen scheinen. Sevilla hatte vor kurzem 47 Grad im Schatten.
Hier liegen die Temperaturen meist zwischen 32 und 38 Grad, aber die
Luftfeuchtigkeit ist außerordentlich hoch, so daß man immer und zu
jeder Stunde des Tages und der Nacht in Schweiß gebadet ist. Neulich
gab es sogar das Phänomen, daß mitten in der Nacht das Thermometer
von 32 auf 34 und schließlich auf 36 Grad kletterte. Um zwei 2
Uhr in der Nacht! Ich legte mich völlig ermattet in mein
Moskito-Zelt, nackt, nur mit der hauchdünnen Gaze und dem
Sternenzelt über mir und konnte so ein paar Stunden schlafen.
Immer
wieder bin ich total erstaunt zu sehen, daß alle Frauen auch bei
diesen Temperaturen ihre Tittenschaukeln nicht ablegen, nicht
einmal die kleinsten Mädchen, bei denen sich gerade erst zarte
Knöspchen bilden. In acht Monaten habe ich erst zwei oder drei
Frauen ohne diese widerlichen, oft bis unter die Achseln reichenden
BH's gesehen, was ich als wohltuend empfand, denn ich liebe Brüste
ganz allgemein. A propos, die Achseln. Alle Frauen, ganz junge
Mädchen inbegriffen, rasieren sich die Haare unter den Achseln und
an den Beinen ab, d.h. sie lassen es machen und geben dafür eine
Menge Geld aus. Auch bei uns reißt diese `Mode' zunehmend ein. Mich
macht es regelrecht aggressiv. Ich kann es nicht mehr sehen, ich
finde es einfach ekelhaft. Die Haltung, die dahinter steckt. Eine
puritanische, sinnenfeindliche Haltung. Genau wie in den USA.
Dabei ist es nicht, wie in den `sozialistischen' Ländern ein von der
Regierung verordneter, sondern ein von der Kirche auferlegter
und verinnerlichter Puritanismus.
Es
erscheint mir wie eine Kriegserklärung an den eigenen Körper.
Und nur dadurch, daß die Brüste durch die BHs in die
unglaublichsten Formen und an die unwahrscheinlichsten Stellen
gepreßt und gerückt werden, kommt auch das viele dumme Gequatsche
von den Hängetitten zustande. Es ist doch auch klar. Wenn eine Frau
ihre Brüste mit Gewalt unter den Hals zurrt, obwohl auf einen Blick
zu sehen ist, daß die ein oder zwei Etagen tiefer sitzen müßten,
dann werden Witze gemacht. Gäbe es nicht die BHs, gäbe es auch die
Witze nicht. Selbstverständlich können die Brüste einer reifen
Frau nicht wie die eines 16-jährigen Mädchens stehen. Bei älteren
Männern hängt schließlich auch das eine oder andere.
Andererseits
laufen außerordentlich viele Mädchen und selbst viele Frauen
mittleren Alters mit Höschen oder Röcken herum, die knappe zwei
Zentimeter überm Arsch enden, um dann ständig an den Röcken zu
zupfen. Wobei zu sagen ist, daß die Ärsche häufiger als bei uns
außerordentlich wohl geformt sind und beim Gehen in wundervolle
Schwingungen geraten. Eine wahre Augenweide. Zum Kronzeugen rufe ich
Renoir an, der gesagt hat, daß der `nichts von Frauen verstehe, der
nichts von Ärschen verstehe'.
Der
Sinn ist klar. Die heiratsfähigen Gören kommen daher wie hinter
Glas, hinter einer Schaufensterscheibe und das Augenmerk wird
auf Fotze und Arsch gelenkt. Seht her, das hier ist zu haben, wenn
ihr eintretet und das Portemonnai zückt. Sie ersparen sich daher
auch jeden kleinen Flirt, jeden Blick, jedes Augenzwinkern. Sie
vertrauen darauf, daß der Arsch für sich spricht.
Nur
ganz junge Mädchen werfen einem hin und wieder verträumte,
schmachtende Blicke zu, die manchmal gar etwas verzweifeltes haben,
als wollten sie sagen: Hol' mich hier heraus, aus diesem
Gefängnis, egal wie. Es ist kein Wunder, daß gerade Federico
García Lorca als Schwuler aus der eigenen Erfahrung heraus - in
Spanien ist Homosexualität äußerst verpönt und gerade deswegen
latent überall gegenwärtig - diese Unterdrückung der Frau mit
ihren Sehnsüchten und ihrer verhaltenen Wut genau gespürt hat und
ihr Ausdruck verleihen konnte, und deshalb auch gerade bei Frauen
dankbare und verständnisvolle Verehrung erfuhr. Und die Misere der
verheirateten Frauen ist heute bestimmt nicht geringer als zu
Lorcas Zeiten. Es gibt nichts Trostloseres, als alle diese Ehepaare
abends über den Paseo schlendern zu sehen. Mit allen ihren Gören
und Kinderwagen und Fifi und Großmama und Großpapa und Onkel und
Tante und noch ein Fifi. Und so viele junge Mädchen, selbst noch
halbe Kinder, die schon die Karre vor sich her schieben. Himmel,
Arsch und Zwirn, da dreht sich einem der Magen um. Alle diese
vergrämten, frustrierten, verhärmten Gesichter. Diese
Lieblosigkeit, dieser Haß. Vor allem dieser Haß, den man
überall aufblitzen sieht. Da laufen einem kalte Schauer über
den Rücken. Das ist die gerechte Strafe dafür, daß sie ihre Fotze
zu einer beliebigen Ware gemacht haben, die jedes beliebige Arschloch
erwerben kann. Das Märchen von der feurigen Spanierin ist
wahrscheinlich durch Carmen und die Kastagnetten-klappernden Gitanas
zustandegekommen. Man nimmt die Geste für das Wesen. Ein guter
Werbegag und sonst nichts. In keinem Land, in dem ich lebte, war so
wenig Sinnenfreude, so wenig Sinnlichkeit und Lust zu finden.
Das
habe ich schon immer so empfunden und das ist irgendwann auch durch
irgendwelche Erhebungen klar bestätigt worden.
Es
ist eigenartig, du gehst durch die Straßen und siehst so viele
hübsche Frauen und Mädchen, kannst ihre Schönheit durchaus
würdigen, aber dich lassen sie kalt. Das ist wie in einem
Wachsfigurenkabinett. Würde einen dort plötzlich jemand anfassen,
würde man auch schreiend davonlaufen. Es ist alles nur Schminke, nur
Schau, all dieses Getue und Gerede von Sex und Liebe und dem ganzen
Quatsch. Genau wie in den Filmen - den schlechten jedenfalls und die
meisten sind es ja - und den Liedern und Songs und dem ganzen
Pop-Gedudel, was einem von morgens bis abends aus Radio und Fernseher
entgegendröhnt. Insofern ist Spanien wie die USA ein perfektes
Waren- und Konsumland - und ebenso gespenstisch.
Aber
ich bin ja in gewisser Weise ein hoffnungsloser Optimist. Ich weigere
mich zu glauben, daß der Mensch für solch eine Misere
vorausbestimmt ist, daß es das ist, was er eigentlich will, wie uns
die Reklamefritzen, Politiker und Industriehaie und sonstige
Schlaumeier immer weismachen wollen. Schon Anfang dieses Jahrhunderts
hat Andersen Nexö seinen Pelle am Ende, als er nach vielen Kämpfen
im eigenen Häuschen mit Garten saß, fragen lassen: "Ist es
das, was wir eigentlich wollten?" Nein und nochmals nein.
Aber
es ist einfach so, daß die einfachen Menschen - das Volk, wenn man
will - einen unglaublichen Respekt vor Bildung haben. Das scheint
durch alle ihre Äußerungen immer wieder durch. Oft ist es leider
nicht einfach Respekt, sondern ein Gefühl der Minderwertigkeit.
Alles, was sie denken und fühlen, wird von den Intellektuellen (im
weitesten Sinne! Das kann schon ein mieser kleiner Bürokrat im
Finanzamt sein!) herabgewürdigt und mißachtet. Am Ende bleibt nur
die totale Verunsicherung, was automatisch zu fremdbestimmtem Handeln
führt. Als eins unter tausend Beispielen: Ich brauche nur an die
Bauern zu denken, ob in Schweden, Spanien, Tanzania oder bei uns
zuhause. Jeder Schritt in die abgrundtiefe Scheiße, in der heute
überall die Landwirtschaft steckt, wurde von diesen Klugscheißern
aus der Agro-Chemie-Industrie vorgezeichnet. Neue Kartoffelsorten
hieß es da! Schmeißt den alten Dreck auf den Mist! Und die
entsprechenden Insektizide und Pestizide und Fungizide und
chemischen Düngemittel wurden gleich mitgeliefert. Und in 30-40
Jahren hat man es geschafft, das ungeheure genetische Material, das
über Jahrtausende entstanden ist, zu vernichten, und heute fressen
wir Kartoffeln, die schwarz und braun sind und sogar von Würmern
angefressen werden. Nicht Kartoffeln sollt ihr anbauen, sondern
Rüben. Nicht Rüben, sondern Weizen und so jagt eine Empfehlung die
andere und die Bauern geraten immer tiefer in die Verschuldung,
schließlich in den Bankrott und in die Vororte der Städte. Dieses
Schicksal teilt seit 1945 ein Drittel der Bevölkerung.
Dann
heißt es: Was habt ihr nur für scheißantiquierte Möbel in der
Bude stehen. Und der Hilfsarbeiter schmeißt die Erbstücke auf die
Straße und kauft neue Möbel bei Karstadt (natürlich nicht bei
Beckmann, wo ein Stuhl 2000 DM kostet).
Und
natürlich wohnt man nicht in einem alten, vergammelten Fachwerkhaus,
sondern es muß aufgemotzt und verputzt und mit Eternitplatten
verschönert werden, und die alte Holztüre muß heraus und eine neue
mit buntem Glas und Sicherheitsschloß muß eingebaut werden, so daß
die Nachbarin nicht mal eben rasch hereinschauen und Guten Tag sagen
kann.
Und
das läßt sich Punkt für Punkt fortsetzen, bis hin zur Lektüre.
Man schaue sich die Umfrageergebnisse von der Büchergilde
Gutenberg aus den 20-er Jahren an. Die Arbeiter lasen Traven und
Upton Sinclair und Jack London und Jules Verne und die Bürger, samt
der bürgerlichen studentischen Jugend lasen Karl May! Aber das haben
die Bürger, an ihrer Spitze Hitler, Adenauer & Co, den
Arbeitern gründlich ausgetrieben. Nicht die verbrannten Bücher
wurden nach dem Krieg als erstes gedruckt und jedem Deutschen in die
Hand gedrückt, zumindest den jungen Menschen, die noch nicht vom
Nationalsozialismus angefressen waren, sondern die ganze bürgerliche
und vor allem amerikanische bürgerliche Scheiße. Es sollte
Jahrzehnte dauern, bis die verbrannten Bücher und die Exilliteratur
in der BRD erschienen.
Die
Intellektuellen haben sich genau wie die Pfaffen immer auf die Seite
der Herrschenden geschlagen, weil sie so `schlau' sind, weil sie
immer wußten, auf welcher Seite das Brot geschmiert war. Ich
spreche von der großen Mehrheit der Intellektuellen (im
weitesten Sinne). Zur Ehre der Schriftsteller muß gesagt werden, daß
es unter ihnen immer einen großen Prozentsatz gab, der an der
Seite des Volkes gestanden hat. Sie stellten auch den größten Teil
jener Intellektuellen, die den Faschismus bekämpften und ins Exil
gingen. Aber die anderen alle? Die Chemiker, Physiker, Ingenieure,
Advokaten, Richter, Ärzte, Techniker, die viel leichter im Exil
hätten einen Job finden und überleben können, sie blieben und
machten Karriere. Ohne die ganze technische und wissenschaftliche
Intelligenz hätte es tatsächlich den Zusammenbruch des
Hitler-Regimes gegeben, von dem die Exil-KPD immer geschwätzt
hat.
Aber
warum hätten sie gehen sollen? Ihnen ist es doch ganz prächtig
gegangen und nachher ist es ihnen wieder prächtig gegangen, ja noch
viel prächtiger. Sie haben Hitlers Autobahnen weitergebaut, sie
haben Hoechst und Bayer und Siemens und AEG und die Deutsche Bank und
die Dresdner Bank noch viel größer und mächtiger gemacht und
den Amerikanern haben sie die Atombombe gebaut und haben sich dann
befriedigt das hübsche Feuerwerk in Hiroshima und Nagasaki
angeschaut. Und wurden sie je mit Vorwürfen oder Gewissensbissen
konfrontiert, dann haben sie sich hinter Argumenten wie: `Hätte ich
es nicht gemacht, dann ein anderer' oder `Das habe ich nicht gewollt'
verschanzt. Als würden die Mächtigen, gleich welcher Couleur,
sich eine Atombombe ins Arbeitszimmer zum Anschauen stellen! Was für
ein erbärmliches und mieses Pack. Aber die Bourgeoisie sorgt schon
dafür, daß sie sich nicht als solches fühlen. Sie werden gefeiert
und geehrt und mit Nobelpreisen versehen und können am Ende ihres
Lebens zufrieden auf ihr Lebenswerk zurückschauen. Die
Millionen und aber Millionen Toten, die verhungerten,
verstümmelten, verbrannten und vergifteten Menschen, die zählen
nicht, die werden beileibe nicht mit ihnen in Verbindung gebracht,
die werden sorgfältig in die Fußnoten verwiesen, sind Marginalien.
So
handelt die bürgerliche Gesellschaft, die sich immer so genüßlich
darüber mokiert hat, daß Stalin alle paar Jahre die Geschichte des
glorreichen Sozialistischen Vaterlandes umschreiben ließ. Sie
selbst schreibt noch viel öfters um, läßt weg und verdreht und
lügt, daß sich die Balken biegen. Gerade jetzt wieder. Nach dem
`Sieg' der Demokratier und des kapitalistischen
Gesellschaftssystems.
Dafür
bietet gerade Andalusien schönes Anschauungsmaterial.
In
allen Schul- und Geschichtsbüchern können wir von der Vertreibung
der Juden und Morisken (wie die spanischen Araber genannt wurden)
lesen. Dabei ist `Vertreibung'ein purer Euphemismus. Höchstens
ein paar hunderttausend Juden und Araber erreichten lebend das andere
Ufer in Nordafrika oder einen rettenden Hafen des osmanischen Reiches
auf dem Balkan oder in der Türkei. Eine riesige Zahl - manche
Historiker schätzen sie auf eine Million, wobei die geringe
Bevölkerung Spaniens in der damaligen Zeit zu berücksichtigen ist -
ist auf grausame Weise getötet worden. Die Flüchtenden, die drei
Tage Zeit hatten, das Land zu verlassen, was natürlich
höchstens den Menschen an der Küste gelang, wurden wie Hunde
totgeschlagen und vorher häufig vergewaltigt und gefoltert. Daß die
Kirche als größte organisierte Verbrecherorganisation und
notorische Lügnerin diese unerhörten Schandtaten ihrer
Schützlinge, der reyes catolicos, der Katholischen Könige,
verschweigt, das ist nur zu verständlich. Nicht aber, daß die
gesamte Bourgeoisie, von Spanien bis zum protestantischen Schweden,
diese Lüge unbesehen übernimmt. Zumal dieses Verbrechen
weitreichende Konsequenzen hatte. Man kann sagen, daß damals
der spanische Staat als erstes Land die Grundlagen für jeden
künftigen Rassismus gelegt hat. Die Reinheit der Rasse ist ein
Schlagwort, das damals entstanden ist (der Tag der Reinen Rasse wird
heute noch gefeiert!). Dieses hunderttausendfache Morden
andersartiger Menschen im eigenen Land war das Vorspiel für die
millionenfache Schlächterei in den Kolonien, die mit den
Gualchos auf den Kanarischen Inseln ihren Anfang nahm.
Aber
die bürgerliche Geschichtschreibung und Berichterstattung lügt
nicht nur im großen, sondern auch im kleinen. Das mag sich um die
Teilnehmerzahlen an Demonstrationen oder den Feiern zum 1. Mai
drehen oder um Jahreszahlen von Erfindungen, wie etwa das
Siemens-Bessemer-Verfahren, das der Einfachheit halber in die Mitte
des 19. Jhrh. gelegt wird, in Wahrheit aber 1000 Jahre früher in
Ostafrika erfunden wurde. Gelogen wird natürlich nicht aus Spaß am
Lügen, sondern zielgerichtet. Wenn es heißt, daß bei der Mai- oder
Anti-AKW-Demo zehntausend Demonstranten waren, hört sich das doch
ganz anders als 100 oder 200 Tausend an. Jeder kann die paar tausend
einfach den notorischen Spinnern und Krawallmachern zurechnen. Im
zweiten Fall handelt es sich um puren Rassismus: Es kann einfach
nicht sein, daß Afrikaner irgendetwas von Bedeutung in der
Geschichte geleistet haben. Es kann nicht sein, daß Afrikaner
Städte aus Stein gebaut haben, weshalb man sie überall zerstört
und als Steinbruch benutzt hat. Und Ägypten sowie Äthiopien und
ihre Bewohner werden der Einfachheit halber nicht zu Afrika
gerechnet. Man braucht sich nur die haarsträubenden Verrenkungen
anzuschauen, die Wissenschaftler schon unternommen haben, aus den
ägyptischen Pharaonen - sie mögen so schwarz und so afrikanisch
aussehen, wie sie wollen - eingewanderte Indogermanen zu machen.
Ein
abstruses Beispiel für diese ständige Lügerei ist mein
erzkatholischer Geschichtslehrer am Neustädter Gymnasium, der
gleichzeitig CSU-Abgeordneter im Landrat war. Marx tat er mit den
folgenden Worten ab: Marx hatte sich als Korrespondent bei der NEW
YORK TIMES beworben, war aber nicht genommen worden. Aus Rache hat er
Das Kapital geschrieben, ein Haßlied auf den Kapitalismus. Bums aus,
das war's. Es läßt sich nicht leicht beurteilen, ob er das aus
Blödheit oder Berechnung tat. Ich neige eher zur ersten Annahme,
wenn ich die allgemeine Nichtbildung und Dummheit des
gewöhnlichen Bürgers bedenke. Darüber kann man gewiß lachen, aber
mich packt heute noch die Wut, weil dieses Beispiel symptomatisch für
den gesamten Lehrbetrieb war. Daß die Bürger nicht gerne über
sozialistisches Gedankengut reden, mag ja noch angehen. Aber sie
enthalten einem auch das eigentliche bürgerliche Erbe vor. Ob in der
Geschichte oder der Literatur. Die Bauernkriege wurden uns von einem
reaktionären, feudalen Gesichtspunkt aus beschrieben, die
Französische Revolution von einem ultrarechten bürgerlichen
Gesichtspunkt. In der Literatur bekamen wir natürlich vor allem die
Klassiker unter besonderer Hervorhebung Goethes serviert,
während Heine als eine Art Komiker abgetan wurde.
Man
muß sich einmal das Weltbild vorstellen, mit dem wir das Gymnasium
verlassen haben. Gewiß war ich kritisch - das habe ich schriftlich
im Abitur, das einzige, worauf ich stolz bin - nicht auf der
Grundlage von Wissen (woher auch), sondern aufgrund eines
instinktiven Mißtrauens gegenüber allen Autoritäten, aber das
reichte natürlich nicht für ein nur annähernd gefestigtes
Weltbild. Das Wenige, das ich weiß, habe ich mir selbst mühsam
Stück für Stück aneignen müssen. U.a. daß Heine für seinen
Grabstein diesen Satz niedergeschrieben hat: Hier ruht einer, der das
Brot seines Wissens redlich mit seinen Mitmenschen geteilt hat.
Allein damit hat Heine in meinem Herzen einen unauslöschlichen
Platz erworben, ist er für mich wichtiger als alle Klassiker
zusammen.
Die
Klassiker! Goethe zum Beispiel! Ich war völlig platt zu erfahren,
daß Goethe noch heute, und das auf einem Abend - Gymnasium wie
verrückt gebüffelt wird. Meine Freundin stand in ihrer Kritik und
Ablehnung Goethes auf verlorenem Posten und brachte mir die
`Wahlverwandtschaften', damit ich ihr bei der Beschaffung von
Munition behilflich wäre. Bei der Lektüre wurde mir speiübel.
Spießig bis dorthinaus, eine verlogene Sprache, verlogene
Attitüden, Verachtung alles Bürgerlichen und Arschkriecherei
gegenüber dem Adel. Die einzige Freude bestand darin, daß meine
Freundin und ich in allen Punkten diese Auffassung teilten.
Im
übrigen war es mein Großvater, der mir über Goethes Verhältnis
zum Adel eine bezeichnende Anekdote erzählte: Goethe ging mit
Beethoven im Park von Bad Kissingen spazieren, als ihnen irgendeine
Prinzessin mit Gefolge begegnete. Goethe ließ Beethoven stehen und
eilte schwanzwedelnd und kratzfüßelnd zur Prinzessin, während der
bürgerlich-revolutionär eingestellte Beethoven die ganze
Gesellschaft mit seiner Nichtachtung strafte. Dafür habe ich sowohl
Beethoven als auch meinen Großvater geliebt.
Wer
die Geschichte nur einigermaßen kritisch betrachtet, muß einfach zu
der Auffassung gelangen, daß der Adel durchweg ein verbrecherisches
und gesinnungsloses Gesindel ist. Immer und überall, ob in
Deutschland oder China oder Frankreich oder etwa in Schweden. Vilhelm
Moberg bringt in `Meine schwedische Geschichte' dafür hunderte
Beispiele bei. Daß die Bourgeoisie in Deutschland dennoch immer vor
dem Adel gekuscht hat, der ihr zum Dank pausenlos in den Arsch
getreten hat, braucht einen nicht weiter Wunder zu nehmen. Aber
daß die deutsche Sozialdemokratie ihr diese Liebedienerei
nachgemacht hat, gehört zum Schändlichsten, was diese Partei an
Schändlichem geleistet hat.
Heute
morgen flog der Wiedehopf in den Garten ein, während ich noch am
Frühstückstisch saß. Er spazierte kreuz und quer unter den Bäumen
und zwischen den Beeten herum und ich staunte, was er auf dem
ausgebrannten Boden alles an Fressen fand. Nun ja, seinen langen,
gebogenen Schnabel hat er nicht umsonst. Er benutzt ihn wie eine
Pinzette, steckt ihn in jedes winzige Loch und zerrt und zurrt alles
Mögliche heraus, Spinnen, Würmer, Käfer. Der Schnabel muß ja
wohl ein hochempfindliches Sensorium sein, um leblose von lebendigen
Dingen unterscheiden zu können.
Als
er hinter meinem Zelt verschwunden war, konnte ich mich ins Haus
schleichen, die Kamera holen und mich hinter der Bougainvillea
auf die Lauer legen. Er kam tatsächlich auf etwa sechs Meter
heranspaziert. Er blieb, als er das Knipsgeräusch hörte, wie
angewurzelt stehen und linste in meine Richtung. Beim zweiten Foto
flog er dann auf. Mein schwedischen Freunde und Vogelliebhaber werden
sich über das Foto freuen, auch wenn es nicht so toll sein wird wie
es mit ihrer Spezialkamera geworden wäre, mit der sie so oft
vergeblich auf ihre Chance warteten.
Welch
unendliche, bewundernswerte Geduld müssen Tier- und Vogelfotografen
aufbringen, um nur einen Vogel solo aufs Bild zu bannen, und welche
Geduld erst, um sie beim Nisten und Füttern zu erwischen. Außerdem
müssen sie über eine sehr gute Kondition und
Selbstbeherrschung verfügen. Mir schliefen schon beim sechsminütigem
Warten in der Hocke die Beine ein. Stell dir vor, nach tagelangem
Warten taucht endlich der heiß ersehnte Vogel auf und du mußt
niesen. Vogel weg, Foto verwackelt, umsonst gewartet.
Warum
entwickeln Kinder so wenig Interesse an der lebendigen Welt um sie
herum? Gewiß ist es eine Wiederspiegelung des Desinteresses der
Erwachsenen und natürlich haben Kinder in der Stadt nicht mehr die
Vielfalt von Pflanzen und Tieren um sich herum wie Landkinder. Aber
erstens ist selbst bei Kindern von Bauern das Interesse auf ein
Minimum beschränkt und zweitens gibt es selbst in der Stadt, selbst
in einer tristen Wohnung unglaublich viel Lebendiges zu sehen und zu
beobachten. Aber nein, jedes saudumme Videospiel fesselt die Kinder
mehr als der spannende Netzbau einer Spinne, mehr als der aufregende
Kampf einer winzigen Ameise, eines David, mit einem Goliath von einer
Fliege. Liegt es daran, daß von den meisten Erwachsenen diese
ganze Welt mit `igitt-igitt' und `Ungeziefer' abgetan wird und
als angemessene Reaktion der Griff zur Spraydose gilt? Oder
daran, daß auch beim blödesten Spiel das Kind
Eingriffsmöglichkeiten besitzt? Die hat es nicht, wenn es einer
Spinne zuschaut. Der einzig mögliche Eingriff besteht im Quälen
oder Töten des Tieres, wobei die `Spieldauer' stark oder auf Null
reduziert wird.
Mit
Sean O'Casey wünschte ich mir immer mehrere Leben, wovon ich eines
der Zoologie widmen würde. Allerdings nicht ausschließlich
einem einzigen Käfer oder nur dem Eisbären, sondern dem ganzen
Bereich des Lebendigen. Die Schwierigkeit begänne schon damit,
daß es so einen Beruf gar nicht gibt. Höchstens
Biologie-Lehrer, aber Lehrer stand niemals auf meiner Wunschliste,
und Bio-Lehrer schon gar nicht. Das waren die abschreckendsten
Beispiele an unserer Schule und eigentlich nur dazu da, um uns jedes
Interesse an Tieren und Pflanzen auszutreiben.
Dabei
fällt mir eine der wenigen Ohrfeigen ein, die ich von meinem Vater
zu Recht erhalten habe. Ich saß - höchstens sieben Jahre alt -
am Fenster des Kinderzimmers und riß einer Fliege ein Bein aus,
schaute, was passiert, dann das nächste, schaute, dann - rums machte
es und ich hatte eine sitzen. Ich war so gedankenverloren gewesen,
daß ich nicht gemerkt hatte, wie mein Vater mir von draußen
zugeschaut hatte, ums Haus gerannt und hereingekommen war. "Man
quält Tiere nicht, auch keine Fliege." Ja, so war mein Vater.
Gleichzeitig hat er eifrig für den Endsieg geschrieben und
nichts dagegen gehabt, daß die `russischen Untermenschen'
massakriert wurden. Die Frage, wie sich das verbinden läßt, konnte
ich ihm damals noch nicht stellen.
Inwieweit
die Ohrfeige meine Neugier befördert hat, kann ich nicht sagen, aber
ich empfand damals schon, daß ich sie zu Recht erhalten hatte, weil
ich wußte oder mir vorstellen konnte, daß Fliegenbeine
ausreißen eine Quälerei ist. Und seitdem ist mir jede Quälerei, ob
von Tieren oder Menschen, zutiefst zuwider. Meinen größten Feind
würde ich allenfalls erschießen, aber niemals quälen. Zu meiner
Schande muß ich gestehen, daß ich zum Angeln regelmäßig
Regenwürmer gesucht und am Haken aufgespießt habe. Eine unüberlegte
Dummheit, denn natürlich ist das auch Quälerei.
Jan
Guillou greift in der FiB 8/93 Greenpeace u.a. deshalb an, weil diese
Organisation aus menschlicher Schwäche Kapital schlage. "Dieser
menschliche Mangel ist mental, eine Art Fehlen von Phantasie und
Einfühlungsvermögen, wenn es um Menschen geht und übertriebene
Phantasie, wenn es um Tiere geht. Unendlich mehr Menschen
schmerzen die Wale mehr als die Inuit und die nordnorwegische
Küstenbevölkerung. Unendlich mehr Menschen sind wegen der Wale
beunruhigt als wegen der Bosnier, phantasieren lieber über den
Gesang der Buckelwale als über den Hunger der Afrikaner oder
palästinensische Kinder, von denen jeden Tag eines von ihren
Besatzern erschossen wird."
Ja,
er hat ja Recht, aber wir sollten eine solche Organisation nicht
deshalb angreifen, weil es von dieser Sorte Mensch so viele gibt.
Einerseits gilt, daß Leute, die Tiere so sehr lieben, Menschen
quälen können (Herr Hitler und sein Schäfer!), aber das muß nicht
so sein - und auch der Umkehrschluß gilt nicht. Andererseits sind
für mich Menschen, die Tiere wahllos töten oder quälen, a priori
potentielle Folterer. Wir brauchen nur an die weißen Siedler zu
denken, die in Nordamerika wahllos die Büffelherden und die
Indianer abknallten. Im übrigen gibt es heutzutage so unendlich viel
zu tun, daß wir über jede Aktivität froh sein sollten, auch wenn
es "nur" um den Schutz der Wale geht. Außerdem hat
Greenpeace auch eine wichtige Rolle im Kampf gegen
Atombombenversuche gespielt. Erst vor einer Woche hat Greenpeace
wieder eine riesige Sauerei aufgedeckt: Die Russen verklappten
seelenruhig, trotz internationaler Abkommen, ihren Atommüll
mitten im Japanischen Meer. Man kann der Organisation ihren Mangel an
innerorganisatorischer Demokratie, so manches Mal ein mangelndes
Bewußtsein für Realitäten - die Seehunde und die Inuit - und
alles mögliche vorwerfen, aber man sollte nicht mit Kanonen auf
sie schießen.
Wenn
ich mir das neue `pogrom' vom Juli 93 anschaue, dann lese ich:
Völkermord an den Bosniern; Unterdrückung der Zyprioten durch die
Türken; Fortsetzung des Vernichtungsfeldzuges der Türken gegen die
Kurden; Folter und Liquidierung in Bougainville
(Papua-Neuguinea); fortgesetzte Diskriminierung der Lubicon-Cree
und Athabasca durch die US-amerikanische und kanadische
Regierung sowie Diebstahl und Ausplünderung ihrer Territorien;
menschenunwürdige Behandlung indianischer Frauen in
US-amerikanischen Gefängnissen; Verfolgung und Verurteilung von
Mapuche-Indianern in Chile; verschiedene Völker am Amazonas
werden weiterhin von der Regierung, Großgrundbesitzern, Goldsuchern
und Minenbesitzern trakassiert und um ihr Land betrogen; seitenweise
Berichte über Mißhandlungen, Vergewaltigungen, Versklavung und
Vertreibung der vielen Minderheiten (adivasi) in Indien;
Menschenrechtsvergehen von Kroaten und Serben in Mostar;
Maltraitierung, Zwangsenteignungen, Vergewaltigungen der
Kosovo-Albaner durch die Serben; erneute Vertreibung der
Inguschen durch Nordosseten; Diskriminierung der Juden in der Ukraine
geht weiter; Hunger und mangelnde medizinische Versorgung der
kurdischen Bevölkerung im Nord-Irak; Völkermord in Süd-Irak;
Verfolgung der Assyrer in der Türkei geht weiter; blutige Verfolgung
der Bahá'i Anhänger in Iran; brutale Unterdrückung der
Ahmadiyya-Muslime in Pakistan; ethnische Zusammenstöße in
Kenia; Diktator Mobuto provoziert in Zaire Stammeskonflikte; der
Krieg gegen die schwarze Bevölkerung im Sudan geht weiter;
Rassismus in Deutschland; permanente
Menschenrechtsverletzungungen in Ruanda. Das sind die Nachrichten
in einem einzigen Heft und nur jene in Schlagzeilen. Daneben finden
sich noch viele andere kurze Hinweise auf ähnliche Ereignisse
in anderen Teilen der Welt und natürlich auch Nachrichten über die
damit verbundenen Zerstörungen der Umwelt, der Lebensgrundlage
vieler Minderheiten.
Was
fange ich jetzt mit all diesen Informationen an? Außer, daß ich sie
hier niedergeschrieben habe, und sie der eine oder andere vielleicht
lesen wird. Ich habe mich empört, entrüstet, habe eine Wut gehabt
und nun? Was unterscheidet mich jetzt von Paco, Pepe und Pedro, die
diese Informationen nicht haben? Sich auch nicht dafür
interessieren, weil sie von vornherein wissen, daß sie machtlos
sind. Was könnte ich einem jungen Menschen sagen oder raten, der
diese Informationen liest und irgendetwas unternehmen möchte? Er
kann Spenden überweisen, kann Mitglied in der GfbV oder in amnesty
international werden, kann Briefe zur Freilassung von Gefangenen
schreiben. Gut, aber reicht das alles denn? Ist es nicht nur ein
Trostpflaster für unser schlechtes Gewissen oder auch für
unseren echten Kummer? Wenn ich bedenke, daß wir vor 15 Jahren noch
zehntausende waren, die für Angola, Moçambique oder Vietnam auf die
Straße gegangen sind, und sich damals schon die Herrschenden
über die paar lärmenden Idioten unten auf der Straße halb
totgelacht haben! Da können ihnen heute doch die paar Ankläger, die
sich an den fünf Fingern abzählen lassen, nicht einmal mehr ein
müdes Lächeln entlocken. Sie wissen, daß sie die Wahrheit unter
Kontrolle haben, daß sie lediglich in winzigen Kreisen
zirkuliert, was zudem die nützliche Funktion erfüllt, als
demokratisches Alibi zu dienen.
Was
also anfangen mit all unseren Informationen? Ich kann sie doch nicht
wie ein beliebiger Bildungsbürger einfach abspeichern. Sie
fordern ein Handeln ein. Aber wie? Und wo? Und mit wem? Wenn indische
Frauen sich an die Bäume ihres Regenwaldes ketten, müßten in
Hamburg ein paar tausend Leute Piquet stehen vor der Firma Holzmann &
Co, die das große Geschäft mit Edelhölzern macht. Wenn wir
erfahren, daß der indische Tee zu einem großen Teil durch
Sklavenarbeit, an der enorm viel Kinder beteiligt sind, produziert
wird, müßte ein effektiver Boykott der Java-Läden organisiert
werden (wie es die holländischen Hausfrauen vor Jahren schafften,
den Kaffeeimport aus den portugiesischen Kolonien zu
unterbinden). Wenn wir wissen, daß in Kenia wertvolle Anbauflächen
dem Anbau von Blumen gewidmet werden, während die Bevölkerung
hungert, dürfte nicht eine solche Blume gekauft werden. So ergäben
sich tausende Aktionsmöglichkeiten bis hin zum Boykott
israelischen Obstes oder bolivianischen Zinns, das ebenfalls mit
Kinderarbeit gewonnen wird. Nur, was gewännen wir damit? Die
internationalen Multis sind mittlerweile so flexibel, daß sie ihre
Warenströme mühelos umlenken können. Was hier nicht verkauft
werden kann, wird eben woanders verkauft; was die deutsche Industrie
an Giften nicht mehr im eigenen Lande produzieren kann, das
produziert sie eben in Spanien. Und würde es den Firmen zu bunt
werden, ließe man ein bißchen die Knüppel der Polizei tanzen.
Ich
will damit keineswegs derlei Aktionen abwerten. Sie können eine
wichtige Rolle im Prozeß der Bewußtmachung der Bevölkerung
spielen. Aber sie verändern die Situation genausowenig grundlegend,
wie die Gewerkschaftsarbeit in 100 Jahren nur ein Deut an der
kapitalistischen Entwicklung geändert hat. Es ist genau die Art
politischer Aktionismus, der die ML-Bewegungen in den Bankrott
getrieben hat. Wo immer sich was bewegt, da muß man dabei sein,
nicht nur das, man muß sich an die Spitze setzen, um die
Führungsrolle zu beweisen.
Myrdal
schreibt in einem Beitrag in der FiB 8/93 unter dem Titel `A propos
das so Einfache und Selbstverständliche' angesichts der
allgemeinen Misere und der gleichzeitigen enormen Arbeitslosigkeit:
"Weder
Gott noch das Schicksal haben das angerichtet. Auch nicht das Gesetz
der Schwerkraft. Denn, wenn hier in Schweden hunderttausende
arbeitslos sind, während es gleichzeitig jede Menge Arbeiten gibt,
die ausgeführt werden müssen, so muß man ja nur dafür sorgen, daß
jene, die ohne Arbeit sind, anfangen, die notwendigen Arbeiten
auszuführen, die nicht getan werden. Minus und plus würden sich
ausgleichen. Die Arbeitslosigkeit
würde
verschwinden. Die überwältigende Mehrheit ein besseres Leben haben.
So
einfach ist das. Und das, was für Schweden gilt, gilt für Europa
und die ganze Welt. Nicht nur die Arbeitslosigkeit und die
verfallenden Schulen in Schweden, sondern alles Elend, aller Hunger,
alle Massenkrankheiten sind unnötig - genauso wie die kleinen
herrschenden Klassen, die an diesen Ungereimtheiten verdienen.
Mit ihnen verfährt man wie mit den scheußlich saugenden und
virusbehafteten Zecken, die man nach einem Waldspaziergang an sich
hat. Man entfernt sie.
Eigentlich
weiß das doch jeder von uns, wenn man ein bißchen nachdenkt."
Schön
und gut. Wären neunzig oder nur siebzig von hundert Menschen
der festen Überzeugung, daß es so nicht mehr weitergehen kann, dann
würden sie Mittel und Wege finden, `die Zecken zu entfernen', kurz
und schmerzlos. Aber das ist doch gerade das Problem: Wie kommen wir
dahin? Ich mache mit Myrdal jede Wette, daß er von 100 keine
sieben Menschen wirklich davon überzeugen kann, daß die Zecken
weg müssen. Er wird dem Mann im Brecht'schen Gedicht gleichen, der
die Menschen überzeugen will, das brennende Haus zu verlassen.
Natürlich
ist das Ganze ein simples Rechenexempel. Nehmen wir ruhig das
beliebte Kuchenbeispiel. Wenn von dem vorhandenen Kuchen (abgesehen
davon, daß wir so viel Kuchen produzieren, daß wir laufend riesige
Mengen zerstören müssen, um die `Preise zu halten') eine
verschwindende Minderheit sich den Löwenanteil sichert, um
Macht und Druck ausüben zu können, ein großer Teil hingegen
gerade ausreichend zum Überleben erhält und die überwältigende
Mehrheit der Menschen die Krümel bekommt, dann kann die Welt gar
nicht anders aussehen als sie es tut.
Wir
alle wissen - und das ist ein Punkt, auf den sich wirklich alle
einigen können - daß genügend Nahrung für alle da ist. Hingegen
eine Einigkeit herzustellen zwischen einem Arzt, einem Arbeiter
und dem türkischen Straßenfeger, daß es auf die gerechte
Verteilung ankommt, ohne wenn und aber, dürfte schon ein Ding der
Unmöglichkeit sein. Der Arzt wird auf sein Privilegium pochen,
zehnmal so viel zu verdienen wie der Arbeiter, weil er so lange
studiert hat und so viel Verantwortung trägt. Der Arbeiter wird auf
sein Privilegium pochen, doppelt so viel verdienen zu müssen wie
sein Kollege, weil der doch Türke ist. Und der Türke? Nun, den
letzten beißen die Hunde.
Es
wäre so einfach, ja. Wenn der tägliche, entwürdigende Kampf um das
Fressen und ein Dach über dem Kopf wegfiele, welche Energien könnten
dadurch freigesetzt werden! Man könnte sich den wesentlichen Fragen
zuwenden: Was braucht der Mensch zum Leben? Eine gesunde Wohnung,
gesunde Nahrung und ein intaktes soziales Umfeld, eine menschliche
Gemeinschaft, die den Namen verdient und vor allem eine
menschenwürdige Arbeit. Nichts davon haben wir jetzt. Die Städte
sind wild wuchernde Krebsgeschwüre, Erde, Wasser, Luft und
Nahrungsmittel sind vergiftet, und die menschliche Gemeinschaft
- nun, dazu erübrigt sich jedes Wort.
Ich
weiß nicht, was getan werden müßte. Das wußte auch Marx nicht. Er
hat sich immer geweigert, einen solchen Entwurf zu machen. Hätte er
natürlich machen können, aber es wäre ein individualistischer
Entwurf geworden, ein Entwurf nach seinem Geschmack. Und darum geht
es gerade nicht. Aber er wußte, wie man es anpackt. Durch gemeinsame
Überlegungen und Beratungen, durch Übertragung von Verantwortung an
jeden Einzelnen, durch Erproben, Fehler machen, erneutes
Ausprobieren. Und das alles in einer wirklich demokratischen
Atmosphäre, die von der bürgerlichen Scheindemokratie
himmelweit entfernt wäre.
Was
wirkliche Demokratie angeht, so könnten wir von vielen Völkern
lernen, so wie sich Jefferson und Washington nicht zu schade waren,
von dem einzig damals existierenden demokratischen Staatswesen
zu lernen, dem Irokesen - Bund. Ein wesentliches demokratisches
Element der indianischen Gesellschaft haben sie allerdings nicht
übernommen: Die gemeinsamen Beratungen, deren Beschlüsse
einstimmig gefaßt werden mußten, und derart beschaffen sein mußten,
daß sie auch in der siebten Generation niemandem zum Schaden
gereichen würden.
Dieses
Element gab es in vielen Gesellschaften sowohl in Asien, Melanesien,
Südamerika als auch in Afrika. Mit unseren notorischen
Überheblichkeit haben wir es Palaver genannt. In unserer komplexen
Welt ist es ein Unding, daß Mini-Minderheiten über die
Mehrheit bestimmen. Es wäre höchste Zeit, die Diktatur des
bürgerlich - demokratischen Procedere endlich zu beenden. Doch statt
die Demokratie auszuweiten, soll sie über die Maastrichter Hintertür
noch erheblich stärker zurückgeschraubt werden.
Glücklicherweise nehmen die Querelen innerhalb der
`Gemeinschaft' derart zu, daß mit der Umsetzung des geplanten Coups
vorerst nicht zu rechnen ist. Und wenn die Krise noch tiefgreifender
wird, dann wird das Hauen und Stechen erst richtig losgehen.
Statt
Einschränkung der Demokratie ihre Ausweitung. Tausende und aber
tausende Bürgerinitiativen beweisen, daß die Bürger gewillt sind,
Verantwortung zu übernehmen, daß sie den Politikern und
Bürokraten nicht mehr über den Weg trauen. Ich bin der festen
Überzeugung, daß alles, von der Fabrik bis zum Häuserblock
den Betroffenen überantwortet werden könnte und bei ihnen in besten
Händen wäre. Ich habe in genügend kleinen und großen Betrieben
gearbeitet und weiß, daß überall die Leute selbst genau wußten,
wer von ihnen der beste Mann war. In allen `sozialistischen'
Staaten hingegen wußte das immer die Partei. Deswegen wurde das
Rätesystem niemals konsequent durchgeführt, weil die Partei Angst
um ihren Führungsanspruch hatte. Mao hat es in der Kulturrevolution
versucht, aber die Apparatschiks und Bürokraten waren schon zu
mächtig geworden. Das Rätesystem bedeutet nichts anderes, als daß
die Menschen die Leute ihres Vertrauens nicht nur wählen, sondern
auch, und das ist das Wichtige, abwählen können.
Nehmen
wir nur als Beispiel die Wohnungen und Häuser in Zanzibar. Die
wurden dort nach dem Muster der DDR in Eigentum des Staates
verwandelt. So weit, so gut. Aber Nutzungsrecht und Verwaltung mit
allen Verantwortlichkeiten wurde nicht den Bewohnern selbst
übertragen, sondern der Staat zentralisierte die Verwaltung. Und
entsprechend sahen die Häuser denn auch aus. Um sich ein Bild davon
zu machen, braucht man nur nach Ostdeutschland zu fahren und sich den
Verfall dort anzuschauen. Ist ja auch klar. Die Gelder, die
zentral eingezogen wurden, brauchte man immer dringend für ganz
andere Dinge, wenn sie nicht gleich in den Taschen der Bürokraten
verschwanden. Zweitens muß man sich nur den Verwaltungsaufwand
vorstellen, wenn in dem Dorf xy irgendwo ein Ziegel vom Haus fällt.
So etwas kann einfach nicht zentral geregelt werden, das muß vor Ort
und zwar von den Betroffenen selbst geregelt werden. Die einzig
wirklich demokratische Form dafür wäre ein Rat oder Verein oder wie
auch immer man das Ding nennen wollte.
Um
zu verhindern, daß in basisdemokratischen Organisationen die
Vielschwätzer und Spätaufsteher das Sagen haben (wie das in allen
linken Organisationen bis hin zu den Grünen der Fall war und ist),
und zu gewährleisten, daß einstimmige Beschlüsse gefaßt werden,
sollte man sich am Konklave ein Beispiel nehmen: Sperrt die
Delegierten mit imperativem Mandat ohne Essen und Trinken ein und
laßt sie nicht eher heraus, bis sie zu einem Ergebnis gekommen sind.
Sie werden schnell lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Einstimmigkeit
wäre der Idealfall, der sich nicht immer und überall wird erreichen
lassen. Die Gesellschaft wird sich wahrscheinlich in allen Bereichen
mit Querulanten, notorischen Stänkerern, Gleichgültigen oder
prinzipiellen Nein-Sagern (die Wahrheit kann durchaus bei diesem
einen Menschen liegen und nicht bei den 99 anderen) auseinandersetzen
müssen. Sie wird Mittel und Wege finden müssen, um mit ihnen zu
Rande zu kommen, wobei Gewalt und Strafe möglichst
ausgeschlossen sein sollten. Mir kommt es ja auch lediglich darauf
an, von den alten ausgetretenen Pfaden wegzukommen, Neues
auszuprobieren, was auch bedeutet, Fehler zu machen.
Weg
also mit dem ganzen Parteien-Nonsense. Parteien haben nicht nur lange
genug ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt, sondern sie sind auch
Organisationen, die jedem anständigen Menschen das Rückgrat x-mal
brechen, bis er nach oben gekommen ist. Schaut sie euch doch an, die
Ganovengesichter. Mal ganz vorurteilsfrei, ohne in ihnen den
Parteivorsitzenden, den Minister, den Bundeskanzler zu sehen.
Austauschbar. Ost, West, Nord, Süd. Vom weißen Amerika bis zum
schwärzesten Afrika, vom Nordkap bis nach Peking. Überall die
gleichen Visagen, zu denen sich noch die meist unsichtbaren
Visagen der Bürokraten gesellen, die auch überall gleich sind.
Parasiten. Zecken. Ein Aufatmen ginge durch die Welt, würde die
Menschheit von ihnen befreit werden.
Aber
ich habe mich treiben lassen und bin dort gelandet, wo auch Myrdal
hinkam. Das Problem ist ja aber gerade, dorthin zu gelangen, der Weg
also. Daß die große Mehrheit sagt: Jetzt reicht es. Und zum Handeln
schreitet. Die Misere sehen, das tun viele Menschen. Ob das der alte
José eine Terrasse über mir ist oder eine Nachbarin, die beide nie
links gewesen sind. José spricht nur von den ladrones, den
Verbrechern da oben. Die in die eigenen Taschen wirtschaften und
zuschauen, daß kleine Kinder auf offener Straße ermordet werden.
Und die Nachbarin sagte noch gestern: Das Schlimme ist doch, daß es
auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Politiker mit Visionen
gibt. Nur Eigennutz und Machtgier und Korruption. Das kann man an
jeder Ecke hören. Das wissen auch die Politiker. Sie bekommen es ja
durch jede neue Meinungsumfrage gesagt. Aber auch das interessiert
die ja einen feuchten Dreck. Weil sie auch wissen, daß sie noch mit
30 Prozent Wahlbeteiligung weitermachen können, wie das
Beispiel USA zeigt. Und aus eigener Erfahrung wissen sie, daß der
Schritt von Reden zum Handeln unendlich weit ist. Man kann den Leuten
also ruhig noch mehr bieten. Noch mehr Bestechung, Raffgier,
Korruption, Kungelei und Verantwortungslosigkeit. Die schlucken das
schon. Und Recht haben sie.
Aber
richtig ist auch, daß die Herrschenden in ihrem Übermut den Bogen
immer wieder überspannt haben. Plötzlich haben's die Menschen nicht
mehr geschluckt. Und wenn die Köpfe rollten, dann war das Wehklagen
groß. Dann redeten sie von Barbarei und von Unmenschlichkeit, jene,
die Unmenschlichkeit und Barbarei in großem Stil zum System erhoben
haben. Aber Schamlosigkeit ist ja der hervorstechendste Charakterzug
dieser Herren.
Den
ersten und bleibenden Eindruck von der Charakterlosigkeit der Herren
Politiker erhielt ich mit 16 Jahren. Damals begann die Debatte über
die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Ich verfolgte gierig am
Radio die heftigen Diskussionen im Bundestag und freute mich
über Schuhmachers scharfe Angriffe. Als die SPD am Ende umfiel, war
meine Enttäuschung maßlos. Damals begriff ich, daß all das
Gequatsche nur für die Galerie gewesen ist, und ich beschloß,
dieses Gesindel niemals zu wählen.
Von
diesem Prinzip bin ich nur ein einziges Mal abgewichen, bei einer
Kommunalwahl in Hamburg, als ich die Bunte Liste wählte, weil sie
als einzige Partei entschieden Front gegen den damals aufkommenden
Rechtsradikalismus machte. Ich bin deswegen immer wieder vor allem
von Freunden angegriffen worden. Man müsse das kleinere Übel
wählen. Jaja, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich weigere
mich. Ich will weder Pest noch Cholera. Ich bezweifle auch, ob es
etwas bringt, den Wahlzettel zu beschriften oder ungültig zu machen.
Als würde Protokoll über das geführt, was auf die Wahlzettel
gemalt wird. Die werden unter `Ungültige Stimmen' geführt und das
sind doch die ganz Blöden, die nicht wissen, wie und wo sie ihr
Kreuzchen hinmalen sollen. Geht man nicht hin, dann gehört man zur
großen Partei der Sofahocker. Es ist also ziemlich Jacke wie Hose.
Mein
Aufenthalt in Spanien neigt sich dem Ende zu. Deshalb habe ich rasch
eine kurze Reise nach Marokko eingeschoben, bevor der nächste Besuch
hier eintrifft und die Regenzeit ernsthaft einsetzt. Eigentlich
wollte ich schon Anfang des Jahres nach Rabat fahren, um mit Fatema
Mernissi über ihr neues Buch zu reden, das ich ebenfalls
übersetzen sollte. Das erübrigte sich, weil sie sich weigerte,
ihren Vertrag mit dem deutschen Verlag zu erfüllen. Und ich muß
gestehen, daß ich - halb bewußt, halb unbewußt - die Reise
deswegen immer weiter hinausgeschoben habe, weil von all den
Horrorgeschichten über die fremdenfeindlichen, fundamentalistische
Horden etwas halt doch hängenbleibt.
Mit
dem Schiff setzte ich von Algeciras nach Ceuta über, fuhr über
Tetouan nach Rabat, wo ich Freunde habe, und auf dem Rückweg über
Larache und Tanger zurück nach Ceuta. Ich habe also nur einen
winzigen Bruchteil des riesigen Landes gesehen. Aber was ich gesehen
habe, hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte mir vorgestellt, daß
Nordafrika sich nicht wesentlich von Andalusien unterscheidet, aber
das ist ein Irrtum. Das von mir durchreiste Gebiet ist sehr viel
grüner und bewaldeter und alle Flüsse führten Wasser. Manche
Landschaften erinnerten mich sehr an bestimmte Gegenden in Tanzania,
ebenso wie die kleinen Dörfer aus Lehmhütten mit Wellblechdächern.
Und die Höflichkeit und Freundlichkeit der Menschen erinnerte mich
ebenfalls an das ostafrikanische Land.
Natürlich
ist die Armut überall sichtbar. Marokko ist sehr viel ärmer als
Spanien, aber sehr viel reicher als Tanzania. Die Arbeitslosigkeit
ist noch viel höher als hier und ebenso die Zahl der Bettler und in
den Städten und Dörfern ist der Verfall augenscheinlich.
Andererseits gibt es wohl eine recht starke Mittelschicht, was allein
schon an dem sehr starken Autoverkehr in den Städten abzulesen ist,
und eine ungeheuer reiche Oberschicht mit ihrem Boß Hassan II. an
der Spitze, die sich im Luxus wälzt.
Welch
eine Verschwendung menschlicher Ressourcen ist diese
Arbeitslosigkeit. Um jeden arbeitenden Menschen stehen zwei, drei
oder noch mehr nicht Arbeitende herum, die auf irgendeine Art und
Weise zu partizipieren versuchen. Mit welcher Verzweiflung die
Leute versuchen, irgendeiner Tätigkeit nachzugehen. Kinder, die
mit einer Schachtel Zigaretten in der Hand `ein Geschäft eröffnen',
Männer oder Frauen, die sich mit einer Schüssel glühender
Kohlen an die Straße stellen und irgendetwas bruzzeln.
Fasziniert
hat mich auch, daß in den Cafés und Restaurants die Menschen, fast
durchweg Männer, zivilisiert miteinander reden, daß dort nicht das
ohrenbetäubende, aggressive Geschrei der Spanier zu hören ist. Auch
nicht - dort so wenig wie in Spanien - die typisch deutsche
`dreckige Lache', die mich auf die Palme bringen kann. Ein einziges
Mal habe ich im Suk von Rabat eine lautstarke Auseinandersetzung
zwischen zwei Frauen gehört.
Und
als angenehm empfand ich auch die Schönheit der Menschen, der
überwiegenden Mehrheit jedenfalls. Sie sind groß und schlank und
fette Leute sind kaum zu sehen, was ich darauf zurückführe, daß
eben kaum Bier und Alkohol getrunken wird (außer in den `besseren'
Schichten). Und noch etwas zu den Frauen. Sie sind nicht nur
außerordentlich schön mit fein geschnittenen Gesichtszügen,
sondern treten auch voller Anmut und Würde auf, keineswegs
unterwürfig, wie man sich das bei uns immer vorstellt. Von
Gleichberechtigung kann natürlich nicht die Rede sein, aber auch
nicht von Sklaverei. Ich habe im Gegenteil dort in einer Woche mehr
selbstbewußte Frauen gesehen, als in einem ganzen Jahr hier in
Spanien. Im übrigen auch mehr verhaltene Zärtlichkeit zwischen
Paaren. Ich bin sehr froh, diese Reise doch noch gemacht zu haben,
weil dadurch meine schiefe Vorstellung von den nordafrikanischen
Ländern korrigiert wurde. Allerdings habe ich die nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts entstandene Stilisierung des Islam zum neuen
Weltfeind Nummer Eins von Anfang an mit Abscheu und Widerwillen
verfolgt.
Ein
Rätsel bleibt mir bis heute, wie meine politische Bildung
zustandegekommen ist. Ich glaube, daß meine Opposition zum
Elternhaus den größten Anteil daran hatte. Im Grunde wurde Politik
zuhause nicht diskutiert, schon gar nicht die jüngste Geschichte.
Beide Eltern waren Ludendorffianer und ich erinnere mich, daß
von denen auch eine regelmäßig erscheinende Zeitschrift
(Quelle?) herausgegeben wurde. Die propagierte hauptsächlich
die `philosophischen' Schriften von Ludendorffs Frau, die vom
`Schönen, Guten und Wahren' handelten. Politisch fuhren sie
einen stramm deutschnationalen und antikommunistischen Kurs. Dieses
Heft war quasi Pflichtlektüre und schon deshalb unbeliebt.
Nichtsdestoweniger hielt ich einmal sogar einen Vortrag über die
Zwangsumsiedlungen der zahlreichen Völker in der Sowjetunion mit
ihren unermeßlichen Opfern, der im wesentlichen auf einem
Artikel aus jener Zeitschrift basierte, wofür ich von unserem
Direktor außerordentlich gelobt wurde. Was ein Wunder, war er doch
als deutschstämmiger Jude aus dem amerikanischen Exil mit der
Besatzungsarmee zurückgekehrt und glühender Verfechter der
amerikanischen Demokratie.
Ich
hatte also ein gespaltenes Verhältnis zum Ludendorff-Verein.
Das hinderte mich nicht, als 16 oder 17-jähriger auf einer
Fahrradtour die Mathilde Ludendorff in Tutzing bei Starnberg
aufzusuchen. An Einzelheiten kann ich mich absolut nicht entsinnen.
Sie war damals schon eine alte Frau, der man aber ihre einstige
Schönheit noch ansah. Trotzdem hat sie wohl keinen großen
Eindruck auf mich gemacht. Und das einzige, was mich an ihrem Mann,
Erich Ludendorff, jemals beeindruckt hat, war seine öffentliche
Anklage Hitlers in Nürnberg: Herr Hitler, ich glaube Ihnen
nicht. Sie wollen den Krieg. Allerdings habe ich nie und nirgends
dafür eine Bestätigung gefunden.
Ich
muß unbedingt etwas Neueres über die Ameisen lesen. Der Maeterlinck
ist zwar eine faszinierende Lektüre, dürfte aber etwas veraltet
sein. Stundenlang schaue ich den fünf verschiedenen Arten auf
meiner Terrasse zu: Ganz winzige, braune Tierchen, die höchstens
gut einen Millimeter groß sind; zwei Millimeter große,
ebenfalls braune Ameisen, die sich gerne im Haus breit machen;
schwarze Ameisen von zierlicher Gestalt, ca. 5 mm groß; etwa gleich
große schwarze Ameisen mit großen, polierten Schädeln und Zangen,
was ihnen ein wuchtiges Aussehen verleiht; und ebenfalls
schwarze Ameisen, die ihren Hinterkörper allerdings senkrecht
in die Höhe stellen und mit unglaublicher Geschwindigkeit über den
Hof fegen. Letztere habe ich nie mit irgendwelcher Beute gesehen. Ich
habe immer den Eindruck, daß sie bei dem Tempo gar nichts finden
können. Die großköpfigen Schwarzen haben ihre Nester im Garten in
der Erde und scheinen überwiegend Vegetarier zu sein. Sie schleppen
sehr viel Grassamen u. dgl. in ihren Bau und nur ausnahmsweise
auch mal eine Fliege. Am interessantesten sind die etwas größeren
braunen und die zierlichen schwarzen Ameisen. D.h. für das
Zuschauen. Da hier eine unglaubliche Fliegenplage herrscht, ich mich
von morgens bis abends ihrer erwehren und sie zu hunderten
totschlagen muß, ist für die Ameisen der Tisch den ganzen Tag über
gedeckt. Die kleinen Ameisen versammeln sich erst einmal in
Scharen um die Fliege, um sie auseinanderzunehmen, zu fressen
oder erst einmal vollständig zu töten, kann ich nicht richtig
erkennen. Aber manchmal schleppen sie die Leiche auch gleich davon.
Kommt allerdings eine der größeren Schwarzen dazu, dann haben sie
Pech gehabt. Die umtanzt das Schlachtfest, vermeidet aber
sorgfältig jede Berührung mit einer Kleinen, bis sie ein Bein
oder einen Flügel der Fliege erwischt hat und zerrt sie dann eiligst
davon, mitsamt ein paar Kleinen, die vergeblich sich dagegen
anzustemmen versuchen, bevor sie aufgeben.
Das
Faszinierendste für mich ist immer wieder, wie es einem solchen
Tierchen möglich ist, zehnfach und noch größere Beute
davonzuschleppen, in relativ hohem Tempo über Stock und Stein. Als
würden wir uns einen Ochsen unter den Arm klemmen und mal eben einen
Berg hochjagen. Wo nehmen die Ameisen also ihre Energien her? Sie
haben doch keine Muskeln. Auf welche Weise also funktioniert ihre
Kraftübertragung? Entweder ist ihr `Verbrennungsmotor' wesentlich
effektiver als unserer oder aber sie haben ein völlig anderes System
der Energiegewinnung. Und wie funktioniert die
Nachrichtenübermittlung? Wie kommt es, daß binnen kurzem ein ganzer
Trupp Ameisen versammelt ist, sobald eine größere Beute gefunden
wurde, die nicht von einer Ameise allein bewältigt werden kann.
Sehen können sie ja nicht, d.h. sie nehmen nur das Licht wahr, das
ihnen zur Orientierung dient. Der Tastsinn hingegen ist
hervorragend ausgebildet. Trotzdem kommt es vor, daß sie die
Orientierung verlieren und hilflos hin- und hertappen.
Stehenbleiben, als würden sie nachdenken, wieder einen Anlauf
nehmen und wieder in die Irre laufen. Darüber möchte ich mehr
wissen.
Wesentlich
mehr als die Ludendorfferei interessierte mich die dritte Welt. Die
regelmäßigen, ganzseitigen Beiträge in der "Rhön - und
Saalpost" über ferne Länder hob ich sorgfältig auf. Und bei
meinem Großvater besorgte ich mir die bessere Literatur über Afrika
- mein Vater hatte wie gesagt nur die Kolonialliteratur - vor allem
die Forschungsberichte von Nachtigall, Schweinfurth, Livingstone
und dem größten von allen, von Heinrich Barth. Schon als
15-jähriger schätzte ich ihn am meisten, begründen konnte ich es
erst 30 Jahre später in einem Feature. Barth war der einzige von
allen, der kein Rassist war. Von umfassender humanistischer Bildung
reiste er weltoffen und lernbegierig, mit jener geradezu
kindlichen Neugier, die Verständnis erst möglich macht. Bezeichnend
ist, daß sein großes vierbändiges Werk nur ein einziges Mal Mitte
des vergangenen Jahrhunderts erschienen ist und nie wieder,
während Barth in ganz Afrika noch heute als einer der ganz großen
Forscher gefeiert wird. Alles, was seine Vaterstadt Hamburg je
für ihn getan hat, ist eine winzige Gasse nach ihm zu benennen!
Überhaupt
mein Großvater! Er war einer der faszinierendsten Männer, die ich
je kennengelernt habe. Mit 10 Jahren verlor er beide Eltern und war
mit seinen beiden jüngeren Geschwistern auf sich allein gestellt. Er
mußte die Volksschule nach zwei Jahren abbrechen und bei der
Reichsbahn arbeiten. Er brachte nicht nur seine Geschwister durch,
sondern arbeitete sich auch mit zäher Beharrlichkeit nach oben.
Irgendwann war er Lokomotiv-Führer auf der Linie Schweinfurth -
Berlin und das Ende seiner Laufbahn war er Oberinspektor; weiter
konnte er ohne abgeschlossene Volksschule nicht kommen.
Trotzdem
bildete er sich unaufhörlich weiter. Er kaufte Bücher, Bücher
und nochmals Bücher und hatte schließlich 10000 Bände bei sich
stehen. Und jedes einzelne liebte er. Nur kartonierte Einbände
und Taschenbücher konnte er nicht ausstehen. Kam er um deren Kauf
nicht herum, dann brachte er solch ein Buch als erstes zum Buchbinder
und ließ es in Leder binden. Das hatte nichts mit Protzerei zu tun.
Er lebte völlig zurückgezogen und niemals kam zu ihm Besuch,
dem er es hätte `vorführen' können. An einem schön
gebundenen Buch konnte er sich wie ein Kind freuen. Und er kannte den
Inhalt der Bücher. Und wie! "Hol' mal das Buch da oben
herunter, das dritte von links. Schlag die Seite 231 auf. Links oben
steht ..." Und er zitierte, was dort stand. Das grenzte für
mich an Hexerei. Er hatte eine Speicherfähigkeit, gegen die jeder
moderne PC vorsintflutlich ist. Nicht nur für Texte, sondern
auch für Zahlen. Man konnte ihm sechsstellige Zahlen zum
Multiplizieren geben und das Ergebnis kam in Sekundenschnelle. Er
versuchte mir des öfteren das Geheimnis zu erklären, aber ich habe
es absolut nicht begriffen.
Er
war also ein großer Literaturkenner, ein hervorragender
Mathematiker, der sich auch mit den großen Problemen der Mathematik
herumschlug, und er war - so erzählte man sich in Bad Neustadt - der
beste Schach- und der beste Skatspieler.
In
den letzten Kriegstagen wurde er in Schweinfurth ausgebombt.
Seine Bibliothek hatte er aber rechtzeitig in Sicherheit bringen
können. Er zog schließlich nach Bad Neustadt, das ihm einigermaßen
sicher erschien, obwohl es dort die großen Werke von Siemens und
Preh gab. Und dort passierte etwas, was dem alten Mann einen schweren
Schlag versetzt haben muß. Die amerikanischen Besatzer hatten eine
beliebte Methode der Schikane: Binnen weniger Stunden mußten
die Bewohner eines Hauses, das sie für sich beanspruchten, ihre
Wohnung verlassen. Dabei blieb natürlich immer eine Menge der
ohnehin wenigen Habseligkeiten der Leute zurück. Bei einem
dieser `Umzüge' mußte mein Großvater 7000 Bände seiner Bibliothek
zurücklassen. Und das Schmerzhafteste war, daß er manche der
wertvollen Bücher zerfetzt in den Straßen, auf dem Müll oder
auf den Toiletten in Kneipen und Restaurants wiederfand. Und diese
Barbarei wurde von amerikanischen Offizieren begangen und nicht etwa
von einfachen Soldaten. Die Kulturnation Amerika!
Trotzdem,
brechen ließ sich der alte Mann nicht. Er wurde nach dem Krieg als
Lehrer für Mathematik und Deutsch am städtischen Gymnasium
angestellt - für die Abiturklassen! Nur abnehmen durfte er, der
nicht einmal Volksschulabschluß hatte, das Abitur nicht. Er war
einer der beliebtesten Lehrer, die es an jener Schule je gegeben hat.
Ich kannte mehrere seiner Schüler und einer von ihnen wurde sogar
mein Schwager. Sie erzählen noch heute von seiner Freundlichkeit und
Solidarität. Während der Prüfungsarbeiten zum Abitur etwa setzte
sich der alte Schlereth, wie er liebevoll genannt wurde, um die Ecke
in Dörr's Weinstuben. Die Prüflinge meldeten sich zum Pissen,
flitzten zu meinem Großvater, der die Aufgaben in Sekundenschnelle
löste, und sausten wieder zurück. Auf diese Weise hat manch einer
sein Abitur bestanden. Und das war das Bestechende an ihm, daß er in
keinster Weise eingebildet war, daß er sein Leben lang von äußerster
Bescheidenheit war. Ich sehe ihn vor mir, wie er sehr aufrecht und
voller Würde mit seinem abgeschabten, viel zu kurzen Mäntelchen
und einem alten Hut, ein kleines Leiterwägelchen hinter sich
herziehend quer durch die Stadt läuft, hinüber zur Salzburg, um
Holz zu sammeln. Er spaltete bis ins hohe Alter sein Holz selbst.
Zuhause war er ein Patriarch. Das Haus besorgte allein die
Großmutter, die in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes als die
Regenbogenpresse las, und wohl auch deshalb von dem Großvater immer
für etwas blöde gehalten wurde. Nur ihre Kochkünste wußte er zu
schätzen. Nicht daß er das besonders betont hätte, aber er aß
immer mit großem Appetit. Dabei amüsierte uns eine Besonderheit: Er
aß alles getrennt, zuerst die Kartoffeln, dann das Gemüse oder den
Salat, zuletzt die Soße und das Fleisch. Heute betrachtet man das ja
als letzten Schrei bewußter Ernährung.
Großvater
war immer gesund und als er mit 74 Jahren in das Krankenhaus
eingeliefert wurde, war uns allen klar, daß er es nur im Sarg
verlassen würde. Sein letzter Kraftakt war, den Pfaffen
rauszuschmeißen, den Großmutter in der letzten Minute angeschleift
hatte.
Das
einzig Interessante an Großmutter war etwas, was ich eigentlich
gar nie hätte hören dürfen. Aber genau so etwas bekommen ja
Kinder immer mit. Es wurde gemunkelt, daß da eine entfernte
Verwandtschaft zu Liebknecht bestünde. Wie ich mir den Namen merken
konnte, ohne damit in dem Alter das geringste zu verbinden!
Jahrzehnte später checkte ich den Stammbaum und fand tatsächlich in
der großmütterlichen Linie diesen Namen. Ob zwischen den
thüringischen und den nicht weit entfernten hessischen `echten'
Liebknechts eine Verwandtschaft bestanden hat, konnte ich nicht
herausfinden.
Ich
bedaure sehr, daß ich Großvater niemals nahe gekommen bin. Ich
hatte immer eine gewisse Scheu vor ihm, die ich mir bis heute nicht
erklären kann. Wenn ich mal mit mathematischen Problemen zu ihm kam,
erklärte er sie mir immer mit großer Geduld. Wir spielten hin und
wieder Schach zusammen, das er mich manchmal gewinnen ließ. Und er
hatte Humor. Wenn er lachte, zeigten sich in den Augenwinkeln
unendlich viele Lachfältchen. Und dennoch blieb er ein Fremder
für mich, den ich zwar sehr verehrte, aber eben ein Fremder, der,
wie ich heute glaube, sehr, sehr einsam gewesen ist. Aber ihm
verdanke ich mit Sicherheit - und dafür bin ich sehr, sehr dankbar -
meine Liebe zu den Büchern. Aus Trotz zu meinem Vater hatte ich
mich lange Jahre stur geweigert, überhaupt ein Buch in die Hand zu
nehmen.
Was
ich ebenfalls bis heute nicht verstehe, ist die Tatsache, daß bei so
einem Vater ein solch egozentrischer, eingebildeter und zuweilen
sadistischer Widerling wie mein Alter herausgekommen ist. Das
genaue Gegenteil auch von seinem älteren Bruder, an dessen
Besuch in Westpreußen ich mich nur schwach entsinnen kann, und
der in den allerletzten Kriegstagen gefallen ist. Vielleicht der
typische Fall von einem Kind, das sich hintangesetzt fühlt? Das sich
dann in studentischen Verbindungen und bei der Hitlerei
hervortun mußte? Mit Hitler und Ludendorff hatte mein Großvater
jedenfalls nichts im Sinn. Er war ein liberaler und humanistischer
Mann, der schon deswegen zu meinem Vater nie ein herzliches
Verhältnis haben konnte.
Das
Taubenschwänzchen ist wieder da, das ich zum ersten Mal hier in
Spanien sehe. Es ist ein schön gezeichneter Schwärmer, der an der
Bougainvillea pfeilschnell von Blüte zu Blüte fliegt. Die oberen
Flügel sind bräunlich, die unteren rot und der Hinterkörper ist
schwarz mit weißen Tupfen und besitzt am Ende bürstenähnliche
Fortsätze, rechts und links je zwei. Die Schwärmer sind den
Kolibris zum Verwechseln ähnlich. Ihre endlos lange Zunge, mit
der sie in die tiefen Blütenkelche der Schwärmerblüten eintauchen,
gleichen den Schnäbeln, und ebenso wie die Kolibris `stehen' sie vor
den Blüten, indem sie ihre Flügel wie Hubschrauberrotoren kreisen
lassen. Kolibris schaffen 50 - 80 Flügelschläge in der
Sekunde, Schwärmer `nur' die Hälfte. Der pummelige Körper und die
schwarzen Knopfäuglein geben ihnen ein gemütliches Aussehen, das zu
ihren rasanten Bewegungen in seltsamem Kontrast steht.
Ich
sagte, daß Politik bei uns zuhause nicht diskutiert wurde. Das
stimmt insofern, als mit meiner Mutter Diskussionen eh nicht zu
führen waren und ich mich allen Diskussionen möglichst entzog.
Und meine Schwestern waren zu jung. D.h. nicht, daß mein Vater nicht
Politik diskutierte, wann immer sich ihm Gelegenheit dazu bot. Ich
erinnere eine Situation, die mir im nachhinein gespenstisch vorkommt.
Wir waren in Frühjahr `45 auf der Flucht, die kein Ende nahm, auf
Schloß Bristow mitten in Mecklenburg bei einem Grafen Bassewitz
einquartiert. Seine riesigen Ländereien wurden von polnischen
Zwangsarbeitern bewirtschaftet. Nicht weit entfernt befand sich
eine Abschußrampe für die V2. Wenn die Dinger, riesigen Särgen
gleich, in Richtung England flogen, dann erbebte das ganze Schloß,
offene Fenster flogen zu, geschlossene auf. Im Osten hörten wir
bereits die russische Artillerie. Von Westen her flog ein
Luftgeschwader nach dem anderen ein. Da kam die Nachricht von
Roosevelts Tod. Und ich hörte ein Gespräch zwischen meinem
Vater und dem Grafen mit. "Truman und Stalin können sich nicht
ausstehen. Das geht nicht lange gut und die beiden bekommen sich
in die Haare. Sie werden sehen, dann gewinnen wir den Krieg doch
noch."
Oft
hörte ich später auch den Namen Ernst v. Salomon und sein `Der
Fragebogen' fallen. Von der Entnazifizierung als einem ungeheuren
Unrecht war die Rede oder von den Schandtaten der amerikanischen
Besatzer. Derlei Gespräche hat mein Vater wohl immer mit
Gleichgesinnten geführt, denn Freunde hatte er nicht einen. Aber
mich interessierten die Gespräche damals überhaupt nicht.
Und
ein Thema war absolut tabu: Die Verbrechen der Nazi. Das war genau so
tabu wie alles Geschlechtliche. Beides gab es eigentlich nicht. Für
Fotze und Schwanz wurden lächerliche Umschreibungen benutzt, die ich
immer als so widerlich empfand, daß ich mit 15 Jahren auf die
Frage eines Schweden, was kuk bzw. penis auf deutsch hieße, nichts
antworten konnte. Die Naziverbrechen wurden also nicht diskutiert,
weder zuhause noch in der Schule, auch nicht von dem jüdischen
Direktor, der sich andererseits stundenlang über die amerikanische
Demokratie und die herrlichen Verhältnisse dort auslassen
konnte. Das tat er so ausgiebig, daß er darüber unseren
Englisch-Unterricht vernachlässigte, weshalb das Abitur im
Englischen so katastrophal ausfiel, daß er vom weiteren Führen
einer Abiturklasse suspendiert wurde. Was wir natürlich mit
großer Genugtuung zur Kenntnis nahmen.
Weshalb
mein Vater, der immerhin bis zum bitteren Ende Chef einer
Tageszeitung gewesen ist, nicht zur Entnazifizierung mußte, das habe
ich mich erst sehr viel später gefragt. Ich kann es mir nur so
erklären, daß das Tabu, nicht an die Zeit `davor' zu rühren, mein
Gehirn partiell lähmte. Nicht allein mein Gehirn. Meines Vaters
Terror war so groß, daß ich niemals an Widerstand auch nur dachte,
obwohl ich spätestens mit 15 Jahren dafür stark genug gewesen wäre.
Auch meine Mutter hat mich bis in die Abiturzeit hinein geschlagen.
Als ich einmal zur Abwehr ihrer Schläge die Arme hob, machte sie ein
Riesengeschrei. "Dein Sohn hat die Hand gegen seine Mutter
erhoben." Worauf mein Vater herbeieilte und mir eine zusätzliche
Ration zukommen ließ. Mir ist heute noch unklar, wie eine erwachsene
Frau ihrem eigenen Kind gegenüber so bewußt und infam lügen kann.
Nach Möglichkeit steckte ich die Prügel lautlos weg und haßte die
beiden nach jedem Mal nur noch intensiver.
A
propos Entnazifizierung. Meine letzten Jahre in Neustadt verbrachte
ich im letzten Haus am Nordrand der Stadt, im Donsenhaug, einer
winzigen Straße. Dort lernten wir die Baers kennen, eine Familie mit
zahlreichen Kindern. Der alte Baer war im 1000-jährigen Reich
Gauleiter gewesen und einige Jahre lang entnazifiziert worden, d.h.
im Knast gewesen. Als er zurückkam, waren ziemlich alle Züge
abgefahren und er blieb ein armer Kerl. Und er blieb Faschist -
offen. Er hatte ein Stückchen Land, auf dem er Kohl und
Schweine groß zog. Mit einem Leiterwägelchen, das mit alten Fässern
beladen war, machte er täglich die Runde durch alle Kneipen, um die
Abfälle einzusammeln, was natürlich eine goldige Mischung
ergab, die stets gefährlich über den Rand schwappte. Trotzdem
überwand ich oft meinen Ekel und half dem alten Mann den Wagen zum
Donsenhaug hochzuschieben. Zu dieser Familie durften wir keinen
Kontakt haben, was zum Ergebnis hatte, daß jeder von uns unter den
Kindern einen Freund oder Freundin hatte. Und zu guterletzt heiratete
eine meiner Schwestern einen der Baers sogar.
Warum
hielt mein Vater gegenüber dem alten Baer auf Distanz, obwohl er
doch Gesinnungsgenosse war? Aus schlechtem Gewissen, weil der sich
auch weiterhin offen dazu bekannte? Weil der nicht so schlau wie er
gewesen ist, sich rechtzeitig einen `Persilschein' zu besorgen? Weil
sich die älteren Töchter mit Amerikanern abgaben? Weil die Familie
arm gewesen ist? Das hat sicher eine Rolle gespielt, ob
ausschlaggebend, weiß ich nicht. Zu Anfang wohl deshalb, um sich
keine Blöße zu geben, da er ja davongekommen war. Außerdem trank
der alte Baer gerne einen, des öfteren auch einen über den Durst,
was mein Alter verabscheute. Dann konnte es auch passieren, daß er
am hellichten Tag in der Kneipe saß und die `alten' Lieder
sang, worüber sich kein Mensch aufregte, nur mein Alter rümpfte
dann verächtlich die Nase, nicht wegen der Lieder, sondern wegen des
Suffs.
Der
drittälteste Sohn Heinrich war mein Freund oder sollte ich eher
sagen mein guter Kumpan? Denn es gab viele Dinge, über die wir
niemals miteinander sprachen, obwohl wir, schon durch unseren langen
gemeinsamen Schulweg, unerhört viel Zeit miteinander
verbrachten. Außerdem bewunderte ich ihn zu sehr, als daß wir
wirklich hätten Freunde sein können. Ich bewunderte seine
weltmännische Art, seinen Charme, seinen Schlag bei den Frauen, weil
er ein verdammt gut aussehender Kerl war, wie im übrigen alle Baers.
Wir konnten ausgezeichnet miteinander lernen, vor allem auf den
letzten Drücker, wenn es richtig brenzlig wurde. Wir konnten
das mit viel Spaß verbinden und oft lagen wir vor Lachen unter dem
Tisch. Da es bei den Baers sehr beengt war, lernten wir immer in
meiner Dachkammer, von der aus ich ihm Zeichen geben konnte, weil er
ebenfalls unter dem Dach wohnte, ca. 200 m entfernt. In den letzten
zwei, drei Jahren vor dem Abitur hatte Heinrich, von allen beneidet,
sogar eine feste Freundin mit eigener, sturmfreier Bude. Obwohl
er also über einschlägige Erfahrungen verfügte, wagte ich ihn
niemals einige der Dinge zu fragen, die man schon immer über den Sex
wissen wollte.
Hier
in Spanien läßt sich an den Ausländern dasselbe Phänomen
rassistischer Überheblichkeit wie in Afrika beobachten. Nur sind es
hier nicht die weißen Entwicklungshelfer, sondern Pensionäre,
die sich den Traum ihres Lebens erfüllt und hier ein Grundstück mit
Häuschen erworben haben und da sitzen sie nun - überwiegend ältere
Frauen aus Deutschland, England, Frankreich - und wohnen ihre Möpse
ab bis ans Ende ihrer Tage. Eigentlich haben sie es bald satt, aber
sie haben nun einmal den Schritt getan, der sich nur schwer
rückgängig machen läßt, und müssen nun dem Bild vom erfüllten
Glück gerecht werden, vor allem gegenüber den Daheimgebliebenen.
Und bald hassen sie das Land und die Trockenheit und die
Luftfeuchtigkeit und das ganze Klima und die Leute sowieso. Die
Sprache beherrschen sie meist nur unvollständig oder gar nicht, weil
man sie ja im Umgang mit den Dienstboten auch nicht braucht. Sie
treffen sich untereinander und tauschen dann ihre Erfahrungen
mit `ihren' Gärtnern, Putzfrauen, Taxifahrern, Friseuren, Maurern
und Malern aus und wie schlecht die Zustände überhaupt in
diesem Lande sind. `Ihre' Bank funktioniert nicht wie zuhause und
auch nicht die Post. Und die Tischlampen, die es zuhause an jeder
Ecke gibt, bekommt man hier ebenfalls nicht. Von der guten deutschen
Wurst und dem schwarzen Brot ganz zu schweigen. Zum Glück gibt
es ja `meinen' deutschen Metzger, der die Wurst zwar nicht ganz so
wie zuhause in Kassel macht, aber immerhin. Und dann die Straßen und
der verdreckte Strand und die Strom- und Wasserversorgung und die
allgemeine Schlamperei.
Meine
Nachbarin ist ein Prototyp für diese Haltung, die eindeutig
rassistische Untertöne hat. Weder hat sie Umgang mit Spaniern, noch
sucht sie ihn. Zwar spricht sie von ihrer Freundin Carmen, die zwei
Häuser weiter wohnt, aber eigentlich nur, um das
Ausbeutungsverhältnis zu verschleiern, das zwischen den beiden
besteht. Carmen ist eine einfache, nette Frau mit zwei Kindern und
Ehefrau eines Klempners, der sich mit zwei Kumpanen selbständig
gemacht hat. Eine völlig normale, typische spanische Familie. Da
meine deutsche Nachbarin ohne Fahrzeug hier oben am Berg lebt, ist
sie quasi auf ihre `Freundin' angewiesen. Die schleppt ihr die Kisten
mit Bier und Sprudel hoch, die sauschweren Gasflaschen, nimmt ihren
Abfall mit hinunter und näht ihr auf ihrer Maschine hin und wieder
das eine oder andere. Und ihren Swimmingpool nutzt meine
Nachbarin auch gerne.
Für
all diese Dienste wird Carmen dann ab und zu zum Kaffee eingeladen
und Weihnachten wird sie natürlich auch bedacht. Ansonsten hält
meine Nachbarin sie für ein dummes Stück Scheiße. Die sei so
saudumm, daß sie kaum ihren Namen lesen könne. Sie habe sie einmal
animiert, Abendkurse zu besuchen, was die aber nach dem zweiten Mal
aufgegeben habe. Nicht einmal kochen könne die richtig. Und wenn man
der was leihe, dann sei es hinterher garantiert kaputt. Die sei halt
ein Bauerntrampel.
Aber
den Gipfel leistete sie sich vor ein paar Tagen. Der Anlaß war
folgender: Carmens Mann hatte seinem Neffen erlaubt, in einem
Schuppen zur Einfahrt ihres Grundstückes mit seinen Kumpels Musik zu
machen. Vor ein paar Monaten begannen sie also zu üben. Mit ihren
Syntizizern und Verstärkern hauten sie derart auf die Pauke, daß
einem in dem kleinen Talkessel hier die Ohren abfielen und selbst die
halb taube Nachbarin die Gabel fallen ließ. Sie redete daraufhin
zweimal mit Carmen und ich sprach mehrmals mit den Jungens. Danach
ging es regelmäßig zwei Tage gut, d.h. der Lärm war erträglich,
und dann ging das Tongewitter wieder los. Meine Nachbarin wollte
nochmals ganz ernsthaft mit Carmen reden, bevor sie zur Polizei, zur
Umweltbehörde und was weiß ich wohin noch ginge. Dazu kam es
aber nicht, denn vorher bekam sie einen Nervenzusammenbruch. Als
Carmen, von Nachbarn herbeigerufen, ihr zu Hilfe eilen wollte, wurde
sie von der heulenden, kreischenden, an ihrem Fenstergitter
rüttelnden Nachbarin empfangen: Du Mörderin, du, hau ab oder ich
schlag dich tot, hau ab.
Was
die entgeisterte Carmen natürlich umgehend befolgte und ihrerseits
mit den Nerven am Ende war. Zwei Tage später, ich traue meinen Augen
nicht, steht Carmen wieder auf der Matte und pflegt die
`Schwerkranke'. Ich hätte es an ihrer Stelle wie ihr Mann gemacht,
der gesagt hat: "Hätte sie das zu mir gesagt, kein Wort würde
ich mehr mit der reden." Aber Carmen hat diese Bewunderung des
einfachen Menschen für all jene, die etwas mehr Bildung besitzen,
für die `Studierten', was von denen wiederum hemmungslos ausgenutzt
wird.
Nachdem
ich Carmen in Schutz genommen hatte und die Meinung geäußert hatte,
daß sie, schon im eigenen Interesse sich entschuldigen solle,
richtete sich der Haß der Nachbarin gegen mich. Sie warf mir
entliehene Zeitschriften und Manuskripte über den Zaun und schnitt
mir kurzerhand Strom und Wasser ab. Ich weiß schon, warum ich um die
reizenden deutschen Landsleute einen weiten Bogen mache.
Noch
spät am Abend sitze ich fast nackt auf der Terrasse. Der volle Mond
wandert erstaunlich schnell hinter den ungemein hohen Eukalyptus, der
einer Pappel so ähnlich sieht. Drüben türmen sich Hügel um Hügel
in nebligem Dunst aufwärts zu Bergen und der Kreis der Lichter
der Wetterstation auf dem Gipfel ganz rechts scheint sich feenhaft
tanzend loszulösen und in die Lüfte zu entschweben. In dem Moment
kommt in Radio Dos Clasica der Sommernachtstraum von Mendelssohn -
Bartholdy. Welch hübsche Koinzidenz der Ereignisse.
Ich
überlege, ob ich irgendwann, vielleicht in allerfrühester Jugend
rassistische Vorurteile oder Gedanken hatte. Mir fällt dazu absolut
nichts ein. Nun muß man dazu sagen, daß in jenem gottverlassenen
bayrischen Kaff das konkrete Objekt für Vorurteile so gut wie
inexistent war. Außer einigen schwarzen Soldaten in der Anfangszeit
der Besatzung - die Amerikaner verlegten ihr Hauptquartier alsbald
nach Wildflecken - gab es keine `Andersartigen', keine Fremden,
abgesehen von einer italienischen Eisdiele, die von allen sehr
geschätzt wurde. Sehr viel später brachte der Sohn eines
Bauunternehmers von einem Studienaufenthalt eine schöne Madagassin
als Ehefrau mit nachhause. Natürlich gab es eine Menge Gerede,
aber wir jungen Kerle bewunderten die Schönheit der Frau und ich
außerdem den Mut des Typen. Ich nahm mir fest vor, später mit einer
Afrikanern viele Kinder zu zeugen, um `es den Spießern zu
zeigen'. Jahrzehnte danach erst wurde mir anhand konkreter Fälle
klar, daß man dadurch höchstens sich selbst oder anderen etwas
beweisen kann, den Kindern aber damit wahrhaftig keinen Gefallen
erweist.
Später
als Werkstudent kam ich mit Spaniern, Italienern, Türken,
Ägyptern, Iranern, Engländern, Franzosen, Albanern, Jugoslawen
zusammen und mit vielen von ihnen verband mich eine oft langjährige
Freundschaft. Manche waren mir widerlich oder extrem widerlich,
aber derlei Empfindungen unterschieden sich ja in keiner Weise von
denen, wie man sie gegenüber deutschen
Volksgenossen
hat. Ich kann mir auch nicht denken, daß ich nur aus einer
Trotzreaktion heraus zum Antirassisten geworden bin, quasi aus Trotz
meinem Vater gegenüber, wie ich aus Trotz weder Klavier noch
Geige gelernt habe. Ich glaube, das wäre in diesem Fall zu kurz
gegriffen. In meinem tiefsten Innern gibt es gewissermaßen eine
Ur-Liebe allen Menschen und allem Lebenden gegenüber. Sie
verführt mich auch immer wieder dazu, den Menschen allzu
vertrauensvoll zu begegnen, was mir oft keineswegs gut bekommen
ist. Alle Ermahnungen mir gegenüber, mißtrauischer, zumindest
vorsichtiger zu sein, fruchteten nichts, weil ich es nicht sein
wollte. Und, müßte ich eine Rechnung aufmachen, so bin ich sicher,
daß das Gute, das ich von Menschen, Frauen und Männern,
erfahren habe, das Schlechte bei weitem überwiegt.
Gleichzeitig
habe ich, so weit ich zurückdenken kann, immer auch einen beinahe
instinktiven Haß gegen Unterdrückung, Willkür und Terror und
jene, die sie ausübten, empfunden. Viele Menschen, vor allem
Frauen, sind der Meinung, man dürfe nicht hassen. Nichts halte ich
für verkehrter. Ich war sogar sehr früh der Meinung, die ich stets
bestätigt gefunden habe, daß jene Menschen, die nicht hassen, auch
nicht lieben können. Wenn ich den menschlichen Körper mit allen
seinen Fasern, seinen offenen und geheimen Funktionen, seinen
Reaktionen, seine unglaubliche Zähigkeit und extreme Verletzlichkeit
wirklich liebe, den des anderen und meinen, den meinen im anderen,
wie kann ich dann unberührt bleiben, wenn diesem Körper Schaden und
Leid zugefügt werden? Und wie anders soll man es nennen als Haß,
wenn ich alles tue, Schaden und Leid von mir und anderen
abzuwenden, wirklich alles inklusive Gewalt und mich nicht nur in
allgemeinen Floskeln des Mitleids ergehe? Das Paradox, auch durch
gerechte Gewalt wiederum anderen Lebewesen Schaden zuzufügen, läßt
sich einfach nicht vermeiden. Gewalt ist jedoch nicht gleich Gewalt.
Die Gewalt der Gerechtigkeit dient dazu, Gewalt zu stoppen, während
die Gewalt der Unterdrücker der Perpetuierung der Gewalt dient.
Und dem dienen auch die allgemeinen Friedensschalmeien lauer
Pazifisten und Gefühlsduselanten.
Heute
wollen sich Israel und die PLO anerkennen. Im Radio ist von einer
`reconciliación historico', einer `historischen Wieder-Versöhnung'
die Rede. Genau davon kann nicht die Rede sein. Die Palästinenser
werden dieses Papier mit größter Bitterkeit im Herzen
unterschreiben, der äußersten Not gehorchend, weil sie die
ganze Welt gegen sich haben, zumindest jene Welt, die alle
Machtmittel in Händen hält. Was den Palästinensern angetan
wurde, gehört zu den ganz großen Verbrechen der Geschichte, die für
immer auf dem Gewissen der Menschheit lasten müßten - wenn sie denn
eines hätte. Aber sie reiht Verbrechen an Verbrechen und kann
deswegen trotzdem ausgezeichnet schlafen.
Ausgerechnet
die Araber, die über viele Jahrhunderte hinweg, vor allem seitdem
Spanien durch seine katholischen Könige als erstes Land der Welt
judenfrei gemacht wurde, den Juden Asyl und Heimstatt gewährten, wo
sie zudem nicht unter ständigen Pogromen leiden mußten, hatten die
Gründung des Staates Israel mitten in ihrem Gebiet zu erdulden, was
allein durch die Waffen des Westens möglich war. Die Berufung
auf 2000 Jahre alte Rechte diente dabei lediglich als Alibi für das
schlechte Gewissen des ganzen christlichen Westens gegenüber
den Juden. Wo kämen wir hin, wollten alle Völker 2000 Jahre alte
Rechte geltend machen?
Hätten
die Siegermächte nach dem Weltkrieg beschlossen, Bayern zu räumen,
um den Juden dort eine Heimat zu schaffen, wäre das zwar nicht der
Weisheit letzter Schluß gewesen (wahrscheinlich hätten wir statt
mit einer PLO mit einer BBO - Bayrischer Befreiungsorganisation
- leben müssen), aber man hätte es doch verstehen können.
Aber
die Christen konnten mit der Gründung des Staates Israel eine Reihe
von Problemen `lösen'. Neben der Beruhigung ihres Gewissens konnte
im Nahen Osten, wo der Westen `vitale Interessen' zu verteidigen
hat, eine Polizeistation errichtet werden, die für Recht und
Ordnung sorgen konnte. Gleichzeitig ist dadurch seit über 40 Jahren
die ganze arabische Welt destabilisiert worden, ihre Vereinigung
definitiv verhindert worden. Doch das Problem der Christen mit den
Juden als den `Mördern ihres Heilands' ist nicht eigentlich gelöst,
sondern nur vor die Tür gestellt worden. Und man hat sich flugs
einen neuen Antisemitismus, den Haß auf die semitischen Araber,
zugelegt. Daß damit der Haß auf die Juden nicht verschwunden ist,
zeigen die jüngsten Ereignisse in Deutschland.
Die
Palästinenser werden ihre Unterschrift also mit größter Bitterkeit
im Herzen geben, d.h. die PLO, während andere
Befreiungsorganisationen schon angekündigt haben, daß sie das
Abkommen nicht anerkennen werden. Für die nächste Zukunft werden
wir also damit rechnen können, daß Palästinenser sich
untereinander bekämpfen werden. Abermals ist dem Westen und
Israel damit ein geschickter Schachzug gelungen: Die PLO und
Arafat, bisher wirkliche Vertreter ihres Volkes, werden geschwächt,
und der Keil in der arabischen Welt wird bis ins Herz der
Palästinenser getrieben. Nicht die Konzeption der PLO von einem
sozialistischen Palästina, in dem Araber und Juden brüderlich
zusammenleben, wird gesiegt haben, sondern die kapitalistische
Konzeption von `jeder gegen jeden'.
Fünf
Tage, nachdem ich dies geschrieben habe, steht in El País vom 4.
September 1993 ein Artikel von Robert Fisk `De Palestina a un
país imposible' (Von Palästina zu einem unmöglichen Land). Darin
zitiert er einen palästinensischen `Verleumder' Arafats in einem
schmutzigen Flüchtlingslager Beiruts: "Die Israelis machen mit
Arafat das gleiche, was sie mit den Libanesen gemacht haben. Als
sie das libanesische Gebiet von Chouf verließen, inszenierten die
Israelis einen Krieg zwischen Christen und Drusen. Als sie sich aus
Sidon zurückzogen, inszenierten sie einen Bürgerkrieg zwischen
Sunniten und Christen. Jetzt geben sie Gaza auf unter der
Kontrolle von Hamas (die militante Front des islamischen Widerstands)
und überlassen es Arafat, sich mit denen auseinanderzusetzen.
Und dann werden die Israelis sagen: `Seht ihr, wie die Palästinenser
sich untereinander bekriegen? Wie können wir ihnen Cisjordanien
überlassen, wenn sie sich in dieser Art und Weise aufführen?'
Und das wird als Entschuldigung dafür dienen, daß die
provisorischen Abkommen definitiv werden. Die Palästinenser werden
weder den Rest von Cisjordanien erhalten noch einen Teil von
Jerusalem." Und Robert Fisk, der im übrigen die
Clinton-Administration die Israelfreundlichste seit
Menschengedenken nennt, sagt Arafat das gleiche Schicksal wie
Anwar al Sadat und Michael Collins (dem Anführer des irischen
Befreiungskampfes) voraus.
Heute,
acht Tage nach der ersten Ankündigung der Unterzeichnung des
Vertrages mit Israel, erwartet man den Abschluß für den 13.
September 1993, und inzwischen sprechen alle Beobachter von
einem zu erwartenden Bruderkrieg zwischen den Palästinensern.
Die Strategen des Teufels in Tel Aviv und Washington haben also
richtig gerechnet.
Mein
Abscheu vor Gewalt, vor allem gegenüber Schwächeren, hat mich schon
auf der Schule immer wieder kopflos in Kämpfe stürzen lassen.
In der Klasse hatten wir einen Bauernsohn aus Wollbach, ein armes
Dorf 5 km außerhalb von Neustadt, von sehr zarter Statur und
außerordentlich schüchtern. Dieser Junge war eine beliebte
Zielscheibe für Hohn und Spott und Prügel seitens aller Rüpel
und Schläger. Bei einem dieser Kämpfe, in denen wir auf verlorenem
Posten standen, wurde ihm ein Bein gebrochen. Zu dritt oder viert
trugen wir ihn in das Krankenhaus, wo ich ihn mehrfach besuchte,
auch später, als er wieder zuhause war. Die Familie lebte in einem
dieser winzigen Bauernhäuser, eher Katen, in sehr armen
Verhältnissen. Um so größer war die Herzlichkeit dieser
Menschen. Ich glaube, damals spürte ich zum ersten Mal die
Bewunderung einfacher Menschen für den Städter, den `Studierten',
was ich als sehr peinlich empfand. Von dem Vater erfuhr ich erstmals
etwas über die harte Arbeit in einer Bauernwirtschaft. Über
Pflügen, Düngen, Fruchtfolgen und auch das fränkische Erbrecht,
das alle Söhne gleichermaßen bedachte. Das hatte die unglaublich
zerstückelte Felderlandschaft zur Folge. Beim Antritt jeder neuen
Generation wurden die Äcker längs geteilt, so daß viele
gerade handtuchbreit waren. Stets wurde ich bewirtet, was meinen
Eltern nie im Traum einfiel, und stets gaben sie mir zum Dank etwas
mit, ein paar Äpfel oder Kartoffeln, Pflaumen oder einen
Maiskolben.
Durch
diese Familie erlebte ich auch das erste Kirmesfest, das
gleichzeitig Erntedankfest war. Es wurde oberhalb des Dorfes am
Waldrand gefeiert. Lange Holzbänke und -tische waren aufgestellt,
eine Blaskapelle war da und ein Bierausschank. Es wurde gescherzt,
getrunken und getanzt. Ich war der einzige Städter und fühlte mich
reichlich deplaziert. Ich nahm mein Bier, ging etwas abseits und
setzte mich unter die Bäume, von wo ich weit über das Land bis nach
Neustadt schauen konnte. Ein paar junge Besoffene torkelten in den
Wald, um sich auszukotzen, was mich mit Ekel erfüllte. Das
konnte aber nicht die Freude trüben, die sich von den Tischen mit
den frohen lachenden Gesichtern und den ausgelassen Tanzenden
auf mich übertrug. Eine Freude, die wie alle Freuden mit etwas
Trauer vermischt ist. `Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was
ich leide' - diese Melodie hätte meinen Gemütszustand wohl am
besten ausgedrückt. Und wie ich dort saß und über die endlos
aneinandergereihten Felder und winzigen Äcker blickte, einige schon
frisch gepflügt, manche noch mit Mais oder Rüben bestanden,
hatte ich zum ersten Mal das klare Bewußtsein, daß irgendetwas in
unserer Gesellschaft total schief laufe, daß irgendetwas zutiefst
ungerecht sei. Wie kann es angehen, daß mein Vater, der so wenig
arbeitet, im Luxus lebt, während die meisten dieser Leute hier, die
von früh bis spät schuften, in Armut leben? Zumal sie eine
gesellschaftlich wichtige Arbeit, die wichtigste überhaupt,
verrichten? Dieses Unrecht machte mich derart bedrückt, daß mir die
Tränen kamen und ich mich tiefer in den Wald zurückzog. Dort verlor
ich endgültig meine politische Unschuld.
Nach
diesen Fragestellungen machte ich mir Gedanken, wie dieses
Unrecht abgestellt werden könnte. Ich kam zu dem Ergebnis, daß
nicht soziale Stellung und willkürliche Bewertung in Geld Grundlage
des Verdienstes sein können, sondern als Grundmaß die Stunde
geleisteter, gesellschaftlich notwendiger Arbeit sein müßte, deren
Wert einheitlich festgelegt werden müßte. Ich habe dazu sogar ein
Papier angefertigt, das aber verloren gegangen ist.
Eine
weitere Frage, die mich in den frühen 50-er Jahren stark
beschäftigte, war der Friede, angeregt durch Kants "Vom ewigen
Frieden". Inwieweit mich die beiden großen Kriege jener Zeit,
die Chinesische Revolution und der Koreakrieg dazu gebracht haben,
kann ich nicht sagen, weil ich nur dunkle Erinnerungen daran habe.
Aber ich weiß, daß ich auf der Seite der Schwächeren war. Und
mit Sicherheit setzten im Alter von 14 oder 15 Jahren die
Nachwirkungen meiner Kriegserlebnisse ein, die sich u.a. in ständigen
Alpträumen äußerten. Ich glaube, daß es noch früher war, denn
ich entsinne mich eines kindlichen Traums, in dem ich Stalin
aufsuchte und ihn dazu bewegte, uns die Heimat wiederzugeben.
Die
einzige Person in Neustadt, mit der ich derlei Fragen diskutieren
konnte, war Dieter Lenk. Er war mein Klassenkamerad, ein Riese von
einem Kerl, wie aus einem großen Holzblock grob zugehauen. Aber
innerlich war er ein sensibler, gutmütiger und humorvoller Mensch
und wenn er lachte, dann verzog sich sein breiter, schmallippiger
Mund von einem Ohr zum anderen. Seine wässrig-blauen Augen hatten
einen klugen Ausdruck, der durch die Lachfältchen einen skeptischen
Touch erhielt. Er war ebenfalls ein Flüchtlingskind und
gläubiger Protestant, was in Bad Neustadt nicht ganz so schlimm war
wie ein Heide. Auch er liebte die kleine Schrift Kants und wir
diskutierten stundenlang ihre Durchführbarkeit. Außerdem
teilten wir die Liebe zur Poesie, aber so weit ich weiß, habe ich
nicht einmal ihm anvertraut, daß ich Gedichte schreibe oder ihm
gar eines vorgelesen.
Damit
erschöpften sich schon meine intellektuellen Kontakte in jenem
verdammten Nest. Dazu kommt der hundsmiserable Unterricht am
Gymnasium, obwohl es zu einem der besten Bayerns zählte. Die
Geschichte blieb in der Weimarer Republik stehen, die Literatur bei
Goethe, Schiller und Lessing, und Musik- und Kunstunterricht waren
unter aller Sau. Derart `gebildet', trat ich also 1955 ins Leben ein.
Allerdings
gab es da ein Problem. Was ich werden oder studieren wollte,
darüber hatte ich mir nie die geringsten Gedanken gemacht. Seit dem
15. Lebensjahr schrieb ich Gedichte, was außer mir niemand wußte.
Und für mich war klar, daß ich eines Tages ein großer Dichter sein
würde. Wozu sich also Gedanken über so profane Dinge wie Studium
und Beruf machen? Also rasch etwas finden, denn von meinem Schreiben
hätte ich meinem Vater zuallerletzt etwas gesagt. Da ich das Abitur
in Zeichnen mit summa cum laude gemacht hatte, dachte ich an die
Kunsthochschule. Nur hatte ich überhaupt nichts auf Lager, weil ich
mich außerhalb der Schule nie mit Zeichnen und Malen beschäftigte.
Die Zeichnung in der Schule hatte ich quasi mit links aus der hohlen
Hand gemacht. Ich pfuschte flink etwas zusammen, schickte es
irgendwohin und bekam den Quatsch natürlich postwendend zurück.
Die
nächste Idee war Landwirtschaft. Das wäre etwas Solides, das seinen
Mann nähren würde, für den beinahe undenkbaren Fall, daß das mit
den Gedichten vielleicht doch nicht so gut liefe. Aber da hatten die
Götter vor den Lohn den Schweiß gesetzt. Bevor man in eine
landwirtschaftliche Universität eintreten konnte, mußte man
ein Jahr als Volontär auf einem Gutshof vorweisen können. Der
Hof war bald gefunden. Er gehörte einem kinderlosen Ehepaar, das
lose mit der Ludendorff - Sippschaft verbunden war. Er lag ganz
in der Nähe von Coburg und war über 60 ha groß. Das war damals und
vor allem für süddeutsche Verhältnisse außerordentlich viel.
Eines
Tages trat ich also mit dem Raderl die 80 km lange, recht bergige
Strecke nach Coburg an. Der Hof gefiel mir sehr gut, weil er
außerordentlich diversifiziert war. Es gab Kühe, Schweine, Hühner,
Gänse, Enten und Pferde. Der Besitzer züchtete Stiere, hatte
eigenen und gepachteten Wald, Wiesen und Weiden, Obst- und
Erdbeerplantagen, baute Getreide, Mais und Zuckerrüben an. Mit mir
arbeiteten ständig 12 Leute dort. Ich lernte, Unkraut hacken, was
ich zuhause bereits zur Genüge getan hatte, mit der Fräsmaschine
umgehen, Doppelzentnersäcke mit Getreide steile Treppen auf den
Kornboden hochzuschleppen, Bäume fällen und die Stämme mit Pferden
aus dem Wald zu ziehen, Hühner- und Schweineställe
auszumisten, die Pferde zu striegeln und was halt sonst noch so alles
anfällt. Und das alles von 5 Uhr in der Frühe bis 22 Uhr in der
Nacht und für ein mickriges Taschengeld. Abends fiel ich wie ein
Sack ins Bett, bis ich am Morgen von der Frau des Besitzers, eine
Norddeutsche, die im übrigen hervorragend kochte, durch lautes
Klopfen an meine Tür geweckt wurde. Ich kam weder zum Lesen, noch
zum Gedichte schreiben, noch gab es Musik oder sonstige geistige
Anregungen. Zwar mochte ich die Arbeit gerne, aber nicht siebzehn
Stunden am Tag. Alle vierzehn Tage hatte ich einen Sonntag frei. Am
Samstag abend durfte ich bereits nachhause radeln, was ich
notgedrungen und ungern deshalb tun mußte, um meine Wäsche
auszuwechseln.
Am
Ende von drei Monaten, wir waren gerade dabei, die Kartoffeln
durch die Sortiermaschine zu jagen, d.h. das Tempo hing davon ab, wie
schnell ich die Handkurbel bediente, als ich zu der festen
Überzeugung gelangte, daß ich nicht mein Leben lang die Handkurbel
einer Kartoffelmaschine drehen wollte. Zum großen Leidwesen
meines Vaters, der schon Pläne und wohl auch Absprachen getroffen
hatte und sich schon als Gutsbesitzer mit Reitpeitsche und
Lackstiefeln gesehen hatte, warf ich den ganzen Krempel hin.
Ich
tat meinen festen Entschluß kund, Philosophie und Sprachen zu
studieren. Ich überlegte nur kurz, welche Universität am weitesten
von zuhause entfernt lag - das war Hamburg - trat die Reise an und
langte gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Wintersemesters `56 an.
Bei
meiner damaligen Dummheit war das - ursprünglich als Notlösung
gedacht - gar kein schlechter Entschluß. Jedenfalls habe ich ihn nie
bereut. Als erstes erwartete mich aber in Hamburg eine herbe
Enttäuschung. Am zweiten Tag stellte ich mich vor den Eingang des
alten Universitätsgebäudes mit der stolzen Aufschrift `DER
FORSCHUNG DER LEHRE DER BILDUNG'. Ich schaute mir genau die Gesichter
all der Studenten und Studentinnen und der Herren Professoren
und Lehrenden genau an und dachte nur eins: Verdammt, das sind ja die
gleichen Idioten, wie ich sie gerade eben in Bad Neustadt a.d. Saale
hinter mir gelassen zu haben glaubte. Statt neugieriger,
wissenshungriger, lebendiger, lebensfroher Gesichter, las ich in
ihnen, mit wenigen, zu wenigen Ausnahmen, nur Stumpfsinn, Langeweile,
Karrieresucht, Eitelkeit und Intrigantentum, Überheblichkeit und
Rachsucht, Feigheit und Duckmäusertum und Arschkriecherei. Vor allem
das: Arschkriecherei. Von der Sorte Mensch sollte ich an der Uni
wahrhaftig mehr als genug kennenlernen. Es empörte mich bis in
die Eingeweide, diese Speichellecker zu sehen, wie sie um die
Professoren, Dozenten und Assis herumschlichen und mit dem Schwanz
wedelten. Aber noch mehr empörte mich, daß all diese Herren sich
das gefallen ließen, es offenbar sogar noch genossen, anstatt dieses
ganze Gesockse mit Fußtritten zum Hörsaal hinauszubefördern.
Eigentlich
hatte ich an jenem Tag schon genug von der Uni. Wäre an jenem Tag
jemand zu mir getreten und hätte gesagt: Wie findst'en das? Vergiß
diese Scheißer und komm mit. Ich wäre mitgegangen und hätte mit
ihm auf einem Schiff angeheuert und wäre Vagabund und Abenteurer
geworden. Es ist niemand zu mir getreten und ich fühlte mich
hundeelend und verdammt allein. Ich erledigte einige Formalitäten
und ging zurück in meine Bude, die ironischerweise in der
Himmelstraße lag.
Die
ersten beiden Semester kam ich nicht groß zum Nachdenken, denn ich
war vollauf damit beschäftigt, die Scheine zu liefern, die für mein
Stipendium notwendig waren. Zum Glück änderte sich das bald. Es
wurde mir trotz meiner guten Arbeiten gestrichen, weil mein
Vater die Behörde durch falsche Angaben zu seinem Einkommen
beschissen hatte. Ich weigerte mich, von ihm Geld anzunehmen und es
kam zum Bruch, der leider nicht der endgültige sein sollte.
Aber
endlich war ich frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte.
Frei, frei, frei. Und frei bin ich bis zum heutigen Tag geblieben.
Das hieß von jenem Spätsommer '57 an: Auch frei von jeder müden
Mark. Und so wurde ich Mitglied jener großen Schar von
Werkstudenten, die sich ihr Studium durch Arbeit verdienen mußten.
Obendrein mußte damals noch der Platz an der Universität teuer
bezahlt werden, was in etwa dem Monatsgehalt eines Arbeiters
entsprach.
Trotzdem:
Was ich in den kommenden 12 Jahren in zahllosen Berufen gelernt
habe, überwiegt das, was ich der Uni zu verdanken habe bei
weitem. Ich möchte sogar wie Gorki sagen, daß das meine eigentliche
Universität gewesen ist. Damit will ich nicht behaupten, daß unser
Leben als Werkstudent nur im entferntesten so hart,
entbehrungsreich und bitter wie Gorkis Leben gewesen ist. Das war es
nicht. Es waren die Jahre des Wirtschaftswunders und man konnte
eigentlich an jeder Ecke einen Job bekommen.
Hier
in Spanien hat das Tauziehen um den sogenannten Sozialpakt
begonnen. Es ist ekelerregend, mit welch monotoner Regelmäßigkeit
die Regierungen, ob konservativ oder sozial oder liberal, den Griff
in die Kiste oller Klamotten tun. Die Löhne möchte man am liebsten
einfrieren, scheut aber davor zurück, weil das zu sehr an die
Franco-Zeit erinnern würde. Also macht man einen Winkelzug und läßt
sie nicht über die Inflationsrate steigen, was einer Lohnkürzung
gleichkommt. Und das möchte man gleich für die nächsten drei Jahre
festschreiben. Sind je die Unternehmer hinsichtlich ihrer Profite zu
einem Nullwachstum, wie es so schön heißt, aufgefordert worden oder
gar zu einem Minus-Wachstum? Arbeitslosenhilfe und -geld will man
natürlich auch kürzen und überhaupt am sozialen Netz
herumschnippeln, das ohnehin um einiges löchriger ist als bei uns.
UGT und CCOO wehren sich natürlich, aber ihr Widerstand wird
einigermaßen lahm sein, da der Arbeiterschaft der Kampfeswille
fehlt. Kürzlich wunderte sich José, daß in den USA die
Ankündigung Clintons, den wahnsinnig niedrigen Benzinpreis um
ein paar Cent anzuheben, einen Sturm der Entrüstung hervorrufe, und
hier der Benzinpreis alle paar Monate angehoben werde und kein Mensch
nur den geringsten Laut von sich gäbe. In den 8 Monaten - seit ich
hier bin - ist er um 17 Peseten gestiegen, d.h. etwa 25 Pfennige. Und
dies ist ja nur ein Beispiel unter vielen.
Auch
die Arbeitslosigkeit von fast 20 % wird mit einer beispiellosen
Gleichgültigkeit hingenommen. Allerdings mit einem entscheidenden
Unterschied zu Deutschland: Arbeitslose, die sehr viel weniger Geld
als bei uns bekommen, machen daraus kein Staatsgeheimnis und gehen
nicht an selbstquälerischen Anklagen und Grübeleien zu Grunde.
Allein in unserem Petanca - Club gibt es ein knappes Dutzend
Arbeitslose, die entweder mit ihrem wenigen Geld zufrieden in den Tag
hineinleben oder aber sich kleine Nebenverdienste beschaffen und dann
besser leben als ein Arbeiter mit seinem normalen Einkommen.
Die
Heuschreckenwolken der Touristen haben das Land endlich wieder
verlassen. Als ich vor zwei Tagen zum Strand hinunterradelte,
war er vergleichsweise menschenleer. Dort, wo Fabiola ihren
Sommersitz hat, ist das Meer eigentlich immer sauber gewesen, aber
diesmal habe ich schleunigst die Füße wieder aus dem Wasser
gezogen, als ich überall die braunen Scheißefäden herumschwimmen
sah. Ich weiß nicht, ob die anderen Leute das nicht sehen oder zwar
sehen, aber sich keine Gedanken darüber machen. Vor einiger Zeit war
ich mit Freunden am Strand neben dem Hafenbecken verabredet. Und was
ich dort im Wasser schwimmen sah, konnte einem den Magen
umdrehen. Neben Plastiktüten, Plastikflaschen, Essensabfällen gab
es da schön gedrehte Kackwürste und jede Menge Präservative
zu sehen, was die Menschemenge aber nicht daran hinderte, mit
Kind und Kegel im Wasser herumzuplanschen. Wenn ich früher über
vergleichbare Zustände an italienischen Stränden las, wo die
deutschen Touristenhorden sich im Wasser vergnügten, hielt ich
das immer für eine maßlose Übertreibung der Journalisten. Glauben
die Leute, das spiele keine Rolle, weil sie eh in der Scheiße
steckten?
Dieser
Tage sind die Morgen so mild und samten wie die schönsten
Herbsttage bei uns. Erst gegen Mittag wird die Sonne so heiß, daß
es keinen Zweifel geben kann, wo man sich befindet. Auch die Vögel
kehren zurück oder tauchen wieder auf, die in der größten
Hitzeperiode vor allem tagsüber sich unsichtbar hielten. Heute
morgen kreiste auch wieder ein Adler über dem Berg, ein Fischadler,
dem hellen Kopf nach zu urteilen, aber selbst durch das Glas konnte
ich es nicht genau erkennen. In der Vega hat die Aussaat und das
Pflanzen für die zweite Ernte begonnen, das Gemüse, das im Winter
dann zu uns kommt. Und das Zuckerrohr, dessen Säson erst vor zwei
Monaten zu Ende ging, steht schon wieder mannshoch.
Dabei
fällt mir ein, daß ich die Jahre meiner Studentenzeit in Hamburg
fast ausschließlich in der Stadt zubrachte. Für Jahre vergaß ich
die Natur und auch die Berge vergaß ich. Ich gewöhnte mich derart
an die flache norddeutschte Landschaft, daß ich vom Auftauchen der
Berge völlig überrascht wurde, als ich beinahe zwei Jahre später
wieder nach Süden fuhr. Sicher machte ich mit Freunden oder
Freundinnen mal einen Ausflug zum Baden an das Meer oder wanderte ein
paarmal an den Großen See, aber die Natur hatte ihre Bedeutung für
mich verloren - zeitweise.
Wichtig
wurden mir zum ersten Mal die Menschen. Von ihnen lernte ich genauso
viel wie durch die Arbeit. Von den Spaniern ich die Großzügigkeit,
von den Italienern die Leichtigkeit, von den Iranern und Türken,
allesamt überzeugte Kommunisten, die Herzlichkeit und das Einmaleins
sozialer Fragen. Und ich lernte erstmals auch die wirklich wichtige
Literatur kennen. Durch Paco den Garcia Lorca, durch Marie- Louise
das `Große Testament' von François Villon, durch die deutschen
Freunde die Bücher von Musil, Broch, Jahnn, die Stücke von Brecht
und Dürrenmatt. Das kam nicht auf einen Schlag, sondern ganz
allmählich nach und nach. Mit der Zeit entwickelte ich ein
feines Sensorium dafür, was für mich wichtig sein könnte, je
nachdem, wer mir etwas erzählte und wie. Ich lernte unterscheiden,
ob man von etwas in dem Sinne sprach, daß `man' es gelesen haben
müßte, aus Bildungs- oder beruflichen Gründen oder wie auch immer
oder deswegen, weil der Schriftsteller etwas zu sagen hatte, was uns,
mich, alle anging. Durch einen glücklichen Zufall hatte ich sehr
früh den Mut gefunden, Bücher einfach zuzuklappen, wenn sie mir
nicht gefielen, egal wie `wichtig' sie waren. Auf diese Weise ist mir
der größte Teil der deutschen Nachkriegsliteratur erspart
geblieben, die Böll und Johnson und Walser und wie sie alle heißen.
Bücher, ohne Saft und Kraft und Feuer und inneres Anliegen
geschrieben, nur um halt was zu Papier zu bringen, so wie ein
drittklassiger Schauspieler seine Stunden auf der Bühne runterreißt.
Aber mit dem lächerlichen Ernst eines Oberguru vom Himalaya, was ja
überhaupt die Deutschen auszeichnet. Ihr Bierernst.
Ach
ja, die Deutschen. Gerade lese ich, daß Kohl an die `traditionellen
Werte der Arbeit und Sparsamkeit' erinnert, an die `Tugenden der
Gründer der Republik' und die Deutschen auffordert, mehr und
länger zu arbeiten, später in Rente zu gehen und früher mit dem
Arbeitsleben zu beginnen. Außerdem kündigt er neue Steuern an und
die weitere Privatisierung von Bahn und Post. So viel Unverfrorenheit
grenzt schon an Mut oder ist es nur der Mut zur Unverfrorenheit?
Diese Typen, die sich im Parteienfilz dick und fett wie die
Maden gefressen haben, auf Kosten aller Steuerzahler natürlich,
fordern die ärmsten Schweine der Republik auf, den Gürtel enger zu
schnallen und mehr zu arbeiten und verschleudern obendrein die
staatlichen, ebenfalls mit den Geldern aller Steuerzahler
geschaffenen Reichtümer für einen Pappenstiel an die ohnehin
verhätschelten Privatkapitalisten. Das alles ist machbar, so lange
die Deutschen, geduldig und fromm wie die Schafe, es einfach
hinnehmen.
In
die Hamburger Studentenzeit fielen auch meine ersten, so mühsamen,
von Angst geprägten Erfahrungen mit Frauen. Meine Mutter hatte es
nicht lassen können, mir auf den Weg in die Freiheit den Satz `Wenn
man mit Frauen geht, wird man krank' mitzugeben. Ihr Beitrag zu
meiner Aufklärung gewissermaßen. Zwar wußte ich durch meine
Schwestern und durch Zufall entdeckte halbpornographische Hefte
meines Vaters über das Aussehen von Frauen Bescheid, aber was und
vor allem wie man es mit ihnen anfängt, das war für mich ein
Mysterium. Schon in Bad Neustadt hatte ich ein paar platonische
Liebschaften, bei denen es über Küsse nicht hinausging. Selbst eine
verheiratete Frau, mit der ich mich unter konspiratorischen
Bedingungen hin und wieder in dunkler Nacht traf, hat mich - leider -
nicht verführt.
In
Hamburg wiederholten sich diese Art Beziehungen drei Jahre lang nach
immer gleichem Muster. Ich kannte die schönsten Frauen und alle
hielten mich für einen großen Verführer und nichts war weiter von
der Wahrheit entfernt. Küsse und höchst `zufällige' Berührungen
der Brüste, so lange, bis die Frauen von diesem dummen
Einfaltspinsel genug hatten. Bis eines Tages, d.h. Nachts, eine
um etliche Jahre ältere Frau die Sache in die Hand nahm, im
wörtlichen Sinne. Ich hatte sie im `Campari', einem
italienischen Café der Innenstadt kennengelernt. Auf dem
Nachhauseweg hat sie auf einer Bank in einem kleinen Park meinen
Pimmel ausgepackt, sich einfach draufgesetzt und ihn halb zuschanden
geritten. Zu meiner üblichen Angst kam die Nervosität wegen eines
Typen, der mit der Taschenlampe Regenwürmer suchte und immer
engere Kreise um unsere Bank zog, was sie aber nicht zu stören
schien. Nach dieser brutalen Entjungferung brannte mir der
Schwanz wie nichts Gutes. Als wir endlich vor ihrem Haus
angelangt waren, zog sie mich ins Treppenhaus und gab nicht eher
Ruhe, bevor sie die Prozedur auf den Stufen wiederholt hatte. Und als
ein Spätheimkehrer zur Haustür hereinkam, schien sie das
wieder nicht zu stören, während ich wohl bis zu den Arschbacken rot
geworden bin.
Am
folgenden Tag schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich erklärte,
daß ich sie nicht liebe und deshalb auch nicht wiedersehen
möchte, worauf sie gewiß auch keinen gesteigerten Wert legte. Acht
Tage lang tat mir der Pimmel weh und ich schwor mir, nie wieder Liebe
ohne jedes Gefühl zu machen. Ich habe diesen Schwur auch gehalten,
d.h. mit ganz wenigen Ausnahmen, die ich immer bedauert habe. Ich
glaube, es ist ein wichtiges Prinzip, das aber in den allermeisten
Beziehungen nicht beachtet wird. Es gibt wunderschöne
`Onenightstands' voller Zärtlichkeit, Zuneigung und Sex und
beide wissen, daß es bei dieser einmaligen Begegnung bleiben
wird. Das finde ich völlig in Ordnung. Nur darf man nicht einen
guten Fick mit Liebe verwechseln oder umgekehrt. Und man sollte auf
keinen Fall Beziehungen eingehen, wo sowohl das eine als auch das
andere fehlt.
Und
eines habe ich nie verstanden: Wie man zäh und verbissen hinter
jemandem hersein kann, der keinerlei Interesse für einen zeigt.
In den Fällen, wo der oder die `Verfolgte' dem unermüdlichen
Werben nachgibt - in der Regel sind das Frauen - fällt er oder sie
furchtbar auf die Schnauze. Es rächt sich einfach, wenn man nicht
seinem Instinkt gehorcht. Der ist ohnehin schwach entwickelt und
wird durch unsere Erziehung zusätzlich verbogen. Zahllos sind
die Geschichten, die mir Frauen erzählten, in denen es genau um
dieen Punkt geht. Eigentlich hatten sie in ihrer frühen
Kindheit einen ganz anderen Typ Mann geliebt. Aber die Umstände
verboten jedweden Kontakt oder wenn es dazu kam, wurde es entdeckt
und hart sanktioniert. Das Ergebnis war, daß sie am Ende einen ganz
anderen Typ wählten, was einfach unglücklich enden mußte. Derlei
Geschichten passieren, wenn man nicht eisern an seinen Träumen, den
Träumen der Kindheit festhält, sondern sie verrät. Das
zuzugeben, fällt sehr schwer. Und die meisten Männer und Frauen
haben irgendwann sogar ihre Träume vergessen.
Als
ich einer Frau, mit der ich zufällig im Café ins Gespräch gekommen
war, die mir die Leidensgeschichte ihrer gerade beendeten Ehe
mit Kindern und allem erzählt hatte, dies auf den Kopf zusagte,
verharrte sie in langem Schweigen. Am Ende sagte sie: Du hast Recht,
ich habe meine Träume verraten. Ich will versuchen, es wieder
gutzumachen. Und mir war bei diesem Geständnis zum Heulen elend
zumute.
Was
die Liebe angeht, leben wir in einer beispiellosen Unkultur oder
besser noch, mitten in atavistischer Barbarei. Nun ja, es ist das
getreue Spiegelbild unserer Unkultur insgesamt. Gefühllos, herzlos,
rücksichtslos, unsolidarisch. Barbarisch ist eigentlich ein völlig
falsches Wort, ein frühes Beispiel rassistischer Überheblichkeit
eines `Kulturvolkes', das die Hellenen für ihre Nachbarn erfanden.
Wenn ich lese, wieviel Zärtlichkeit und Mitgefühl die letzten
Steinzeitmenschen auf der Erde, die Aborigines in Australien, die
Bewohner Neuguineas oder die Indianer am Amazonas für Mensch
und Umwelt aufbringen, dann ist das Wort Barbaren zutiefst ungerecht.
Dann kann man nicht umhin, das, was wir gemeinhin darunter verstehen,
auf uns anzuwenden, auf alle sogenannten Kulturvölker, ob das
die Chinesen, die Inder oder, erst Recht, die Völker des
christlichen Abendlandes sind. Da hat Lundquist absolut Recht
mit seinem Buch `Die Barbaren sind wir', das er nach langjährigem
Aufenthalt auf Neuguinea geschrieben hat.
Da
muß ich an Bertil Ericsson denken, einen Förster in Schweden,
bei dem ich 1961 als Holzfäller gearbeitet habe. Im vergangenen
Jahr traf ich ihn nach 15 Jahren wieder, inzwischen pensioniert und
seinen Lebensabend auf dem wunderschönen väterlichen Bauernhof
verbringend. Ich bat ihn, mit mir zusammen in jenen Wald
hochzufahren, den ich damals mit 120 anderen Männern abgeholzt
hatte. Es war ein regnerischer Herbsttag und als wir durch den
inzwischen wieder hoch gewachsenen Wald gingen, bemerkte ich
seine Traurigkeit und fragte ihn: Bertil, du hast doch ein erfülltes
Leben gehabt, hast eine nützliche Arbeit geleistet und gut
obendrein, wie ich denke. Bist du nicht zufrieden? Und er
antwortete: Tja, schon, wenn da nur nicht die Dinge wären, die man
nicht getan hat. Und er erzählte mir, was er mir damals, als er noch
jung verheiratet war, nicht gestanden hatte, vielleicht, weil es in
zu frischer Erinnerung war.
Er
hatte bei eben jenem Eric Lundquist, Professor für
Forstwissenschaften, studiert und natürlich auch alle seine
hinreißenden Bücher gelesen und war durch ihn auf den Gedanken
gebracht worden, einige Jahre in den jungen Staat Indonesien zu
gehen, wo dringend Förster gesucht wurden. Er war Feuer und Flamme
und Lundquist erledigte alle Formalitäten, bis auf eine, die
Bertil nicht umhin konnte, selbst zu erledigen. Er mußte nach
Stockholm fahren und seine Braut schonend von seinen Absichten
unterrichten. Und die gestand ihm, daß sie schwanger wäre. Aus und
vorbei waren alle Träume von Indonesien und er mußte alles
rückgängig machen, denn seine spätere Frau war nicht bereit, ihm
in das fremde Land zu folgen. Und dieses Versäumnis nagt heute noch
an ihm als altem Mann.
Auch
in Hamburg schrieb ich weiter Gedichte, allerdings wie immer nach dem
Lustprinzip. Was das Schreiben anging, war ich ein fauler Hund.
Erstens hatte ich nie einen Stift bei mir und auch neben dem Bett
hatte ich nie Papier und Bleistift liegen. Und es waren immer die
Spaziergänge und die Zeit vor dem Einschlafen, wo ich die
besten Einfälle hatte. Da hatte ich fertige Zeilen, Verse, ja
ganze Gedichte im Kopf und ich vertraute darauf, sie am nächsten
Tag auch noch zu wissen. Von wegen, sie waren weg. Sie werden
wiederkommen, dachte ich. Aber sie kamen auch nicht wieder.
Irgendwann
war ich mir vollkommen darüber im klaren, daß ich ernsthaft
arbeiten müßte, wenn ich wirklich gut werden wollte. Und ich fragte
mich gewissenhaft, ob ich das wolle. Tag und Nacht einen Stift bei
mir zu haben, alles aufzuschreiben, was immer mir durch den Kopf
ginge, jeden Furz und Quatsch und dann aussortieren, überarbeiten,
feilen und nochmals feilen, nichts anderes mehr denken, als Verse und
Gedichte und nochmals Verse, bis ich tatsächlich in Versen zu
denken begänne. Und ich habe mich dagegen entschieden. Ich wollte
leben und lieben. Ich wollte nicht in einem Elfenbeinturm sitzen,
weit entfernt von der Welt wie Rilke, dessen Verse ich übrigens sehr
bewundere, und ich wollte kein Schmarotzer sein wie er. Er war als
Mensch ein Versager und als Liebhaber ebenfalls, wie die Goll
berichtet. Ich wollte nach Lust und Laune meine Gedichte schreiben,
für mich, meine Freundinnen und Freunde. Und ich habe diese wohl
überlegte Entscheidung niemals bereut.
Sehr
viel später, im Verlauf der 68-er, als ich mich stärker den
unmittelbaren politischen Fragen zuwandte, hörte ich mit den
Gedichten allmählich ganz auf. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Um
ein politischer Mensch zu werden, fehlten mir vorerst alle
Grundlagen. Mir fehlte es an allem: Bildung, Bewußtsein und
Erfahrung in jeder Hinsicht. Oft hatte ich das intensive Gefühl,
die ersten 18 Jahre meines Lebens nicht gelebt zu haben. Und in
gewisser Weise war das auch so. Ich war ständig krank, hatte
sämtliche, nur denkbaren Kinderkrankheiten bis hin zur Gelbsucht,
hatte mit einem Jahr meine erste Operation wegen einer
Mittelohrentzündung, mit fünf Jahren wurde mir der Blinddarm
herausgenommen, die Polypen und die Mandeln kurz darauf. Mit 15
Jahren hatte ich einen komplizierten Beinbruch bei einem Sportunfall,
ein Jahr darauf eine mysteriöse Krankheit im anderen Bein,
weshalb ich insgesamt 1 1/2 Jahre nicht zur Schule gehen konnte. Ich
schaffte die Abschlüsse trotzdem mit Hilfe eines Schülers, der
selbstlos Tag für Tag mir die Aufgaben brachte und alles erklärte.
Ich fiel von Bäumen, hackte mir mit der Axt ins Bein und meine
schwersten Unfälle hatte ich mit dem Fahrrad.
Sehr
viel später wurde mir klar, daß alle diese Unfälle und Krankheiten
zu über 90% psychischer Natur gewesen waren. Eine Reaktion auf die
kranke Situation zuhause. Ich funktionierte irgendwie, aber leben,
leben konnte man das nicht nennen. Es war eher ein Vegetieren, ein
Dahindämmern wie eine Schnecke in ihrem Schneckenhaus, das ich nur
verließ, wenn niemand in der Nähe war und das war in der Einsamkeit
der Natur. Und kaum hatte ich das Elternhaus verlassen, bin ich nie
mehr krank geworden.
Ich
mußte mir also über vieles erst einmal im klaren werden, über mein
ganzes früheres Leben, über meine Beziehung zu den Eltern, über
das, was ich will. Mehr Verständnis für das, was zuhause abgelaufen
war, brachte mir ein Gespräch mit der Großmutter
mütterlicherseits. Wir trafen uns in Hamburg in `Planten un
Bloomen'. Ihre Tochter sei eine lebenslustige Göre gewesen, die
das Pech hatte, mit 13 Jahren meinen Vater kennenzulernen, den
sie mit 17 oder 18 heiratete. Schlag auf Schlag bekam sie Kinder. Das
erste starb nach wenigen Monaten, das zweite ebenfalls. 1937 wollte
sie sich, 21 Jahre alt, von meinem Vater trennen. Da hatte der
einen Verkehrsunfall, bei dem er ein Bein verlor, und gleichzeitig
merkte sie, daß sie wieder schwanger war. Und zwar mit mir.
Damit waren alle Träume von Trennung und Freiheit ausgeträumt. Und
daß ich unter diesen Umständen nicht geliebt werden konnte,
war mir dann auch klar, ebenso wie meine Reaktion darauf. Meine
Großmutter konnte meinen Vater nicht leiden und sie hatten ewig
Krach miteinander, aber daß sie die Trennung befürwortet
hatte, obwohl mein Vater eine gute Stellung hatte, habe ich ihr hoch
angerechnet. Ansonsten hatte ich für sie nicht viel übrig und
es war auch unser letztes Treffen.
Nach
dem Verlust meines Stipendiums konnte ich frei auswählen, was mir
gefiel, mußte nicht mehr in vorgeschriebenen Fächern blöde Scheine
schreiben. Petriconi, dem damaligen Chef des romanistischen Seminars,
habe ich viele Einblicke in die romanische Literatur zu
verdanken. Er war ein kritischer Geist und Atheist, dessen
Vorlesungen geistreich, scharf und witzig waren, weshalb der
Hörsaal regelmäßg völlig überfüllt war und die Studenten sich
noch in den Fluren drängten. Er hatte sogar den Mut, uns zu sagen:
Leute, vergeßt die Sekundärliteratur und geht zu den Quellen. Das
sagt kein mieser Staubbeutel von einem Professor, der zutiefst
beleidigt ist, wenn man seine Werke nicht studiert hat.
Am
besten gefiel uns, wenn Petriconi den bornierten
katholisch-französischen Provinzialismus eines Montherlant,
Bernanos, Maurois oder Claudel gnadenlos verriß und dem die Größe
eines Camus oder Sartre oder die Weitherzigkeit, den Humor und die
Weltoffenheit etwa eines Jean Giono gegenüberstellte, obwohl
der kaum jemals seine geliebte Provence verlassen hat.
Eine
Schwäche hatte ich auch für Borinski, den Chef des anglistischen
Seminars. Er war der Sohn eines Maurers und so sah er auch aus: Ein
vierschrötiger, großer Kerl, der aber außerordentlich
kompetent war und einen feinen Sinn für Humor hatte. Außerdem
gefiel mir seine einfache und direkte Art.
Zeitweise
hörte ich philosophische Vorlesungen, u.a. bei dem eitlen Fatzke
Weizsäcker, die mir aber zu nichtssagend und langweilig waren. Da
las ich lieber für mich zuhause den Kant, Fichte oder Schopenhauer,
einige meiner damaligen Lieblinge. Hegel zu studieren, gab ich nach
mehreren Anläufen auf; mich ärgerte maßlos, daß man jeden Satz
vier oder fünf Mal lesen muß, bevor man verstand, was er eigentlich
meint.
Aufschlußreich
für mein damaliges politisches (Un)Bewußtsein und das allgemeine
Klima in der Adenauerzeit ist folgende Anekdote. Ich war Mitglied
einer Studentenbühne und für den jährlichen Uni-Abschlußball im
Viersternehotel Atlantic hatten wir eine Reihe von Sketchen
einstudiert. Da ich etwas russisch gemacht hatte und den Akzent gut
drauf hatte, fiel mir einer der damals so beliebten typischen
Anti-Russen-Sketche zu, was ich keineswegs absonderlich fand. Wir
hatten weder eine Probe im Saal noch vor den Mikrofonen gemacht, so
daß ich maßlos vor meiner eigenen Stimme erschrak, als ich zum
ersten Mal in meinem Leben vor einem Mikro stand, noch dazu vor
einer riesigen Menschenmenge und dem ganzen versammelten Lehrkörper.
Ich fing mich jedoch schnell und erntete stürmischen Beifall. Wer
sich kaum mehr einkriegen konnte, auf mich zugestürmt kam, mir
kräftig auf die Schulter hieb und mich zum Sekt einlud, war der
damalige Unirektor und spätere Wirtschaftsminister Karl Schiller.
Das waren unsere geistigen Führer!
Aber
so entstehen Karrieren. Ich hätte nur in dieser Richtung
weiterzumachen brauchen, wäre dann, wie so viele meiner Freunde
beim Aufbau des Fernsehens mit eingestiegen und wäre ein gemachter
Mann gewesen. Hätte `ein Häuschen mit Garten' gehabt, wie Neuß
gesungen hat, und viele niedliche Kinderchen gehabt und eine Frau,
die mir mit Sicherheit bald zum Hals herausgehangen hätte - und ich
ihr - und natürlich hätte ich ein dickes Auto und Bankkonto gehabt.
Und ich hätte beim Wiedersehen mit einem Vogel wie mir beim
zweiten Bier Tränen in den Augen gehabt und gesagt: Ja, siehst du,
du bist frei und kannst tun und lassen was du willst. Und hätte von
dem angefangenen großen Roman gesprochen, der zuhause in der
Schublade liegt, und von dem ich genau wüßte, daß er nie vollendet
werden würde. Naja, diese Klippen habe ich jedenfalls glücklich
umschifft, ohne die Ohren mit Wachs verstopfen zu müssen.
Stattdessen
malochten wir weiter, im Hafen oder bei Reemtsma, dem Tabakgiganten,
bei der Alstermilch oder der Schultheiß-Brauerei. Für einsfuffzig
die Stunde und verdienten im Monat so etwa 350 DM, ein Drittel
dessen, was die Fernsehleute halbtags verdienten, ohne sich die
Knochen kaputt zu machen. Diese Jobs nahm man begreiflicherweise nur
im Notfall an. Alle Tricks und Kniffe waren recht, um an die
lukrativeren und nicht so harten Jobs heranzukommen. Und das war
nicht einfach. Der Chef des Studentenwerks war ein alter, gerissener
Fuchs, der seine Lieblinge hatte, die er immer zuerst versorgte,
obwohl wir damals schon das schwedische Nummernsystem hatten.
Eines Tages kam ich mit zwei Freunden mal wieder zu spät. Es waren
schon ca. 50 Leute vor uns da. Ich ging nach unten in das
Telefonhäuschen, legte mein Taschentuch über den Hörer, rief das
Studentenwerk an und meldete mich mit Dr. Schäfer vom Norddeutschen
Rundfunk. Ob 50 Leute greifbar wären für eine Geräuschkulisse.
Fünf Mark die Stunde. Aber schnell müßte es gehen. Und beim
Pförtner melden.
Oben
beobachteten wir amüsiert das einsetzende hektische Treiben und
bald brachen 50 Studenten unter Führung meines Erzrivalen zum
Rundfunk auf. In der Zwischenzeit erhielten wir feine Jobs für
den nächsten Tag, gingen aber nicht nachhause, sondern wollten den
Erfolg unseres Tricks abwarten. Es dauerte endlos lange, so daß wir
schon befürchteten, die Jungs hätten womöglich doch einen Job
bekommen. Aber nein, nach zwei Stunden kamen sie angetobt. Die
hatten so lange gebraucht, um den Pförtner zu überwältigen, das
ganze Haus nach einem Dr. Schäfer abzusuchen und endlose
Telefonate zu führen. Mein Intimfeind hatte den Braten gerochen
und schon beim Hochstürmen der Treppen schrie er: Der Schlereth war
das, der Schlereth. Nur beweisen konnte er nichts.
Am
beliebtesten waren Jobs beim Film. Hamburg war eine Filmstadt
und immer wieder wurden Statisten gesucht. Aber es war verdammt
schwer, da ranzukommen, weil diese Jobs meistens unter der Hand
verschoben wurden. Wenn man gar eine Minirolle als Tänzer oder
dergleichen bekam, dann schwammen wir regelrecht im Geld. Weder
vorher noch nachher hatten wir Arbeiten, bei denen wir am Ende mehr
Geld erhielten, als wir erhofft hatten. Es gab diese Zuschläge und
jene, Spesen und Diäten bei Außenaufnahmen und Fahrgeld und
Urlaubsgeld und was weiß der Teufel alles. Bei den Aufnahmen zu den
`Buddenbrooks' hatten wir besonderes Glück. Wir hatten am Morgen
sogleich ein Schachtischchen entdeckt, das nun einmal zu den
Requisiten in großbürgerlichen Häusern gehörte, und mein Freund
und ich fingen umstandslos zu spielen an. Irgendein Idiot von
einem Regieassistenten, die sich immer besonders wichtig nahmen,
fing zu toben an: Was uns denn einfiele, wer uns das erlaubt hätte
und so. Bis der Regisseur einschritt - ich glaube Käutner - und
unsere Idee ganz ausgezeichnet fand. Und so spielten wir den ganzen
Tag ungestört Schach, was wir ohnehin oft genug taten, allerdings
ohne dafür einen Haufen Geld zu bekommen.
Manche
Studenten, im Umgang mit so viel Geld nicht geübt, hauten dann
maßlos über die Stränge. Ein Albaner setzte es Kleidung aus
den feinsten Läden am Jungfernstieg um- was an seinem bäurischen
Aussehen nicht das Mindeste änderte - oder kaufte pfundweise
Backwaren, andere steigerten den Umsatz auf der Reeperbahn, aber den
Vogel schoß ein Typ namens Schlemmermeyer ab - ein Spitzname, den er
nicht ganz zu Recht trug, weil es ihm bei seinen Schlemmereien
weniger auf Qualität denn auf Quantität ankam. Er hatte für eine
kleine Rolle 800 DM verdient, am Tag, was damals unermeßlich viel
Geld war. Als er nachts um 23 Uhr auf dem Nachhauseweg am Flughafen
vorbeikam, hörte er die Ankündigung für einen Flug nach Stockholm.
Er sauste hinein, kaufte ein Ticket, flog nach Stockholm, aß dort am
Flughafen ein paar Würstchen und flog mit dem nächsten Flugzeug
zurück. Das Geld war restlos weg, so daß er am nächsten Tag
wieder Bierkisten schmeißen mußte, für einsfuffzig die Stunde, wie
er uns glücklich grinsend erzählte.
Ich
hatte mir einen bescheidenen Lebensstil angewöhnt, so daß ich immer
ein wenig Geld auf die Seite legen konnte, um in den Semesterferien
ins Ausland fahren zu können, wo ich in der Regel auch einen Job
annehmen mußte. Das war mit vielen Umständen verbunden: Man
mußte die Bude aufgeben - um das Geld zu sparen - seine Klamotten
irgendwo unterstellen, und bei der Rückkehr begann wieder die elende
Sucherei nach einer neuen Bude. Und nicht selten kam ich völlig
abgebrannt wieder in Hamburg an. Ich achtete allerdings immer darauf,
wenigstens 50 Pfennige übrig zu behalten, mit denen ich die
Straßenbahn zu meiner alten Tante Emma nehmen konnte, um dort eine
Portion wundervoller Bratkartoffeln zu essen, wie nur sie sie machen
konnte.
Meine
erste Reise in den ersten Semesterferien ging nach Paris. Es war
März und saukalt und regnerisch. Die schönste Stadt verliert unter
solchen Bedingungen an Reiz. Zum Ausgleich wohnte ich in einer
schönen Jugendherberge, die in einer alten Villa in St. Cloud
untergebracht war, allerdings den Nachteil hatte, weit draußen zu
liegen und um 22 Uhr ihre Pforten zu schließen. Und die mit
Glasscherben gekrönte Mauer zu überklettern war nicht möglich.
Dafür war dort eine großartige Gesellschaft versammelt.
Musikgruppen aus aller Welt, die gerade von einem Festival in Moskau
zurückgekehrt waren und noch im Stadion Olympia für die
Kommunistische Partei Frankreichs auftreten mußten. Es waren viele
Indios aus Peru und Bolivien da und mehrere afrikanische Gruppen und
alle trugen sie wegen der Kälte die russischen Pelzmützen mit
heruntergeklappten Ohrschützern, die sie zum Abschied geschenkt
bekommen hatten. Das sah urkomisch aus, machte den Jungens aber gar
nichts aus.
Eine
spontane Freundschaft entwickelte sich zu den Afrikanern. Ihre
Freundlichkeit und warme Menschlichkeit nahmen mich sofort
gefangen. Mit François aus Senegal lernte ich den ersten Jazzkeller
meines Lebens kennen, in der Rue Hachette. Wenn es für die Heimkehr
zu spät wurde, nahm er mich zu afrikanischen Freunden mit, wo Musik
gehört oder gemacht wurde und wir zu später Stunde dann auf einem
windschiefen Sessel ein wenig pennten. Am besten gefielen mir damals
die Abende in der Jugendherberge, wo ständig irgendwelche
Musiker übten, für sich oder mit anderen, und ich die
wundervollsten Melodien afrikanischer und lateinamerikanischer
Volksmusik hörte. Leider war ihr Aufenthalt begrenzt und viel zu
schnell mußten sie abreisen.
Bei
jenem ersten Parisaufenthalt im Frühjahr 1957 hatte ich noch drei
wichtige Begegnungen, genau genommen zwei, weil die dritte schon
unterwegs nach Deutschland im Zug stattfand. Friedmann, seinen
Vornamen habe ich vergessen, ein amerikanischer Jude aus New
York, war die eine. Ich weiß auch nicht mehr, in welcher Sprache wir
uns unterhielten, wahrscheinlich englisch oder deutsch, denn
französisch spricht ja kaum ein Amerikaner. Jedenfalls führten wir
stundenlange Gespräche und natürlich über das Dritte Reich und
Auschwitz und all dies. Erstmals sprach da ein Betroffener zu mir mit
einer sanften, leisen Stimme. Seine Familie hatte fliehen können,
aber viele Verwandte hatten nicht das Glück gehabt. Ich glaube, er
war es, der mir die letzten apologetischen Argumente austrieb, die
selbst bei jenen Deutschen gang und gäbe waren, die sich keineswegs
mit der Elterngeneration identifizierten. Viele Deutsche wußten
nichts und nicht alle sind schuldig und sechs Millionen werden
es wohl nicht gewesen sein und wie die Argumente alle lauteten, die
man vielleicht deshalb benutzte, um der Ungeheuerlichkeit nicht ins
Auge sehen zu müssen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.
Aber so wie Eltern für ihre Kinder haften, haften eben auch Kinder
für ihre Eltern. Sonst wäre ja auch die ganze Frage der
Reparationen und Wiedergutmachung hinfällig. Warum hätten wir
Kinder Wiedergutmachung zahlen sollen?
Erst
kürzlich diskutierte ich mit einem schwedischen Freund diese Frage.
Er meinte, er hätte nie verstanden, weshalb junge Deutsche, die mit
den Verbrechen nichts zu tun hatten, ständig diese Gefühle der
Schuld hätten. Aber wir leben doch nicht im luftleeren Raum und
werden nicht anonym in vitro geboren, sondern wir haben
leibliche Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und eine
Heimat und ein Vaterland, die alle uns geprägt haben. Wir sind
aufgewachsen mit diesen Mördern, Seite an Seite, haben neben
ihnen geschlafen, sind von ihnen erzogen worden, haben sie
geliebt oder auch nicht, sind von ihnen gestreichelt oder geschlagen
worden. Und das Erbe besteht ja nicht nur aus Bankkonten und Häusern
und dergleichen, sondern eben auch aus all diesen immateriellen
Dingen.
Wir
Söhne und Töchter jener Deutschen tragen also sowohl Verantwortung
als auch Schuld. Und die Ablösung der Schuld besteht ja in der
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, im Stellungbeziehen, im
Kampf gegen eine Wiederholung solcher Dinge (was zur gleichen Zeit
ein Eingeständnis der Schuld ist, sonst wäre das alles ja
überflüssig). Wir tragen Schuld, wie im weiteren Sinne alle Weißen
Schuld an den ungeheuerlichen Verbrechen der vergangenen 500 Jahre an
den Völkern der ganzen Welt tragen. Und wir als Kommunisten tragen
auch die Schuld an den Verbrechen, den Fehlern und Versäumnissen,
die im Namen des Kommunismus oder von Marxisten begangen worden sind.
Da kommen wir nicht drum herum. Eh bien, und den Keim dieser
Überlegungen habe ich Friedmann zu verdanken, den ich nie
wiedergesehen habe.
Die
zweite Begegnung fand mit einem jungen deutschen Arbeiter statt, der
ständig im Blaumann herumlief und in der Jugendherberge
irgendwie deplaziert wirkte. Er war ein hagerer, hoch aufgeschossener
Kerl mit Brille. Er erzählte mir, daß er aus der Bundesrepublik
geflohen sei wegen der Verfolgungen der Kommunisten durch Adenauer.
Von Freunden, die ins Gefängnis geworfen worden seien, vom Verbot
der Partei, ihrer Zeitungen und Organisationen, von Schlägen und
Folter durch die Polizei. Mir hat sich das deshalb so eingeprägt,
weil ich kein Wort davon glaubte, sondern ihn für einen Spinner
hielt, der ganz einfach unter Verfolgungswahn leidet. Gewiß hatte
ich von dem Verbot der KPD gelesen, aber ohne mir etwas Besonderes
dabei zu denken, genausowenig wie beim Verbot der Ludendorffer. Von
demokratischem Bewußtsein konnte man also damals noch nicht
sprechen. Hiermit möchte ich Abbitte leisten, junger Freund, der du
nicht mehr jung bist, vor allem, weil ich wegen meiner Ungläubigkeit
auch nicht an Hilfe dachte, der du vielleicht bedurft hast.
Die
dritte Begegnung fand, wie gesagt, auf dem Rückweg nach Deutschland
im Zug statt. Im Coupé mir gegenüber saß eine Französin, eine
ältere Dame, so damenhaft streng, wie es nur Französinnen sein
können. Wir kamen ins Gespräch, das sich um die Deutschen, meine
Erlebnisse in Frankreich und den Krieg drehte. Kurz vor der Grenze
mußte sie den Zug verlassen und zum Abschied gab sie mir die Hand
und sagte: J'ai confiance en Vous. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Mit
Tränen in den Augen sah ich ihr nach und fragte mich, womit ich das
Vertrauen verdient hätte. Und ich kann sagen, daß ich fortan auch
dafür lebte, mir dieses Vertrauen zu verdienen, diesem Vertrauen
gerecht zu werden.
Um
Vertrauen ging es auch, allerdings in ganz anderem Sinne, als ich
mich im Frühjahr 1958 beim Direktor der Brüsseler Weltausstellung
vorstellte, um einen Job zu bekommen. Eine Studentin in Hamburg war
mit ihm bekannt oder verwandt oder was weiß ich, jedenfalls gab sie
mir seine Adresse. Von Paris aus kommend, hatte ich mich zuerst in
die Jugendherberge begeben und sodann diesen Herrn aufgesucht.
Mir schlug beim Betreten seines Büros eine so offene und
arrogante Feindseligkeit entgegen und gleichzeitig schlug er einen
derart scharfen Ton mir 20-jährigem gegenüber an, daß ich kaum ein
Wort herausbrachte, schon gar nicht in korrektem Französisch. Es war
wohl eher ein Gestammel. Und da legte dieser ältere Herr erst recht
los. Höhnisch sagte er: Soso, du hast die Studentin benutzt, um dich
bei mir ins Vertrauen zu schleichen, ohne eine Wort französisch zu
können. Welch eine Unverschämtheit! Raus! Na, das brauchte er mir
nicht zweimal zu sagen. Tief beschämt wegen seiner infamen
Unterstellung und wie betäubt stand ich auf der Straße und fragte
mich, was eigentlich passiert wäre. Nichts anderes als meinem
Klassenkameraden Bremauer auf dem Gymnasium, der vor
versammelter und grölender Klasse an der Tafel stand und vom
Mathematik- und Biologielehrer vorgeführt wurde: Also Bremauer, ganz
von vorn, was ist eins und eins? Und Bremauer stand da mit offenem
Maul und herausquellenden Augen und brachte keinen Ton heraus.
Und das Grölen der Klasse schwoll zum Orkan an. Ich schwor mir, daß
mir so etwas nicht noch einmal passieren sollte, daß ich meine Angst
vor Autoritäten unbedingt ablegen müßte.
Nach
und nach hatte ich durch direktes Angehen alle meine Ängste
verloren. Als kleiner Junge hatte ich Angst vor den großen Kerlen,
die mich verdroschen. Ich stellte mich ihnen und wurde verdroschen,
aber ich hatte mich gewehrt. Und die Schmerzen waren nicht so schlimm
wie die Angst. Ich hatte Angst vor Spinnen und ich nahm sie in die
Hand. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit und ich ging in den Wald und
schlief auf einem Lager, das ich mir in einem Baum gemacht
hatte. Am Morgen wäre ich fast heruntergefegt worden durch einen
starken Wind, der sich plötzlich erhoben hatte.
Und
nun galt es also meine letzte Angst zu verlieren, die vielleicht die
größte von allen ist. Die Angst vor dem Vater, vor der Gewalt des
Vaters, vor seinem Terror. Als ich den showdown mit ihm hinter mir
hatte, war es wirklich, als würden schwere Felsen von meinem Herzen
gewälzt. Angst lähmt, Angst macht krank und unfrei, Angst macht
Sklaven. Deswegen leben wir ja in einer Untertanen-Gesellschaft, weil
die große Mehrheit in ständiger Angst lebt. Angst vor dem
Gerede der Leute, Angst vor dem Alleinsehen, Angst vor der Nacht,
Angst vor dem Nachts-auf-die-Straße-gehen. Aber die Angst vor dem
Boß, die Angst vor der Zukunft, die Angst vor dem Tod, das sind wohl
die drei Hauptängste mit ihren tausend Nebenängsten, die aber immer
irgendwie mit diesen zusammenhängen.
Trotzdem
war mit diesem Paukenschlag zuhause noch nicht alles vorbei. Noch
zehn Jahre lang nach meinem Weggang plagten mich furchtbare
Alpträume. In ihnen ging es immer um die zwei großen Themen
meiner Kindheit: Die elterliche Gewalt und der Krieg. Es kamen die
Bomben vor, die Tieffliegerangriffe, die Toten und die Sirenen vor
den Luftangriffen, wildgewordene Pferde, die Schläge meiner Mutter
oder meines Vaters, Stürze von den allerhöchsten Bäumen und in die
allertiefsten Schächte. Es war ein Inferno. Aber je mehr ich
mich mit dem Krieg und dem Elternhaus auseinandersetzte, umso mehr
verlor dieses Inferno seinen Griff über mich, rückte es immer
größere Ferne. Und als ich mit 28 Jahren meine große Liebe
getroffen hatte und mit ihr in Schweden, meiner Wahlheimat, lebte, da
verschwanden die Alpträume völlig.
Wieso
Schweden meine Wahlheimat wurde? Durch einen der wenigen glücklichen
Zufälle meiner Kindheit. Mein Vater war aus seiner Leipziger
Studienzeit mit einem schwedischen Kunstmaler befreundet. Worin diese
Freundschaft bestanden hat, ist mir immer ein Rätsel geblieben.
Egal, jedenfalls beschlossen die beiden Väter gleichaltriger Söhne,
diese in den Schulferien auszutauschen. 1952, die Währungsreform lag
gerade 4 Jahre zurück und das Wirtschaftswunder steckte in der BRD
noch in den Anfängen, fuhr ich also nach Linköping. Die Reise
dauerte damals eine halbe Ewigkeit, über 70 Stunden. Die Belohnung
war das Paradies. So und nicht anders habe ich das Land erlebt, eine
Erfahrung, die sich mit der anderer junger Menschen deckt, die zu
jener Zeit in schwedische Familien geschickt wurden, um aufgepäppelt
zu werden. Ich wurde von der ganzen Familie mit dem Taxi, einem jener
riesigen amerikanischen Schlitten, wie sie damals üblich waren,
abgeholt und wir fuhren mitten in den Wald, wo sie ihr
Sommerhäuschen hatte. Es war einer jener wunderschönen schwedischen
Sommer, wie ich sie später noch oft erleben sollte. Wir badeten und
radelten und ruderten und wanderten und morgens beim Aufwachen konnte
ich durch das Fenster den Eichhörnchen bei ihren Sprüngen in den
Fichten zuschauen.
Am
meisten beeindruckte mich die Wärme und Herzlichkeit, die in jener
Familie herrschten, und ihre Gastfreundschaft. Mit Jerker, dem Sohn,
verstand ich mich prächtig und auch mit seiner viel jüngeren
Schwester. Nicht ein einziges Mal gab es Zank oder Streit. Und es gab
wundervolle Gerichte - Jerkers Mutter war eine sehr gute Köchin, was
ich Jahrzehnte später bestätigt fand. Sie waren also nicht nur
deshalb gut, weil wir im Hunger-Deutschland nicht gerade verwöhnt
waren.
Anschließend
reisten wir zu ihren Freunden, denen eine ganze Insel in den Schären
von Karlskrona gehörte. Der Mann war Admiral und nur seinem
Einfluß war es zu verdanken, daß ich 15-jähriger Ausländer eine
Sondererlaubnis für jenes streng geheime Sperrgebiet erhielt.
Später sollten sich genau dort ganz zufällig russische U-Boote
`verirren'.
Die
letzte Station in Schweden war Annelöv bei Lund, wo Jerkers
Mutter Lehrerin war. Ihr Haus hatte einen riesigen Garten mit dem
wundervollsten Obst und mitten drin stand das Atelier des Vaters.
Darüber befand sich ein kleines Zimmer, das nur über eine Leiter zu
erreichen war, wo Jerker und ich schliefen. Es war auch eine Art
Rumpelkammer mit Kisten alter Bücher und - Briefmarken, die zu
sortieren wir ganze Nachmittage verbrachten.
Und
je mehr ich durch das Land gereist war mit seinen endlosen Wäldern,
den unzähligen Seen, den ochsenblutfarbenen Häusern (dem Falun-Rot)
aus Holz mit den weiß gestrichenen Fensterrahmen, umso mehr
liebte ich es. Dabei spielt selbstverständlich eine Rolle, daß es
so sehr meiner Heimat in Westpreußen ähnelt. Noch heute geht es mir
so, daß ich, sobald ich schwedischen Boden betrete und diese
Häuser erblicke, die schon von außen so wohnlich aussehen, ich
verrückt vor Freude werde und am liebsten tanzen möchte. Viel
später merkte ich, daß es nicht nur ein Paradies ist, sondern auch
ein Land der Einsamkeiten, der Schwermut, der Trauer ist.
Gleichwohl liebe ich es so intensiv, wie man eine Frau liebt.
Ich
glaube, in Schweden habe ich auch am häufigsten den Traum von einem
eigenen Häuschen geträumt, einem jener phantastischen Blockhäuser
mitten im Wald und dicht an einem See, wenngleich ich diesen Traum
auch in anderen Ländern hatte. Dabei geht es mir nicht
eigentlich um Besitz - nie wollte ich etwas besitzen - sondern
meinetwegen um eine Art Wohnrecht in einer Höhle, wo man seine
sieben Sachen lassen kann, kommen und gehen und reisen kann, ohne
dafür ein Vermögen bezahlen zu müssen. Hunderttausende habe ich
schon diesen verdammten Haus- und Wohnungsbesitzern in den
unersättlichen Rachen geworfen und besitze nicht einen Stein. Es ist
mir unbegreiflich, wie die Menschen eine solche Ordnung der Dinge
einfach hinnehmen können. Auch hier in Andalusien wollte ich mich
nach einem Häuschen umsehen angesichts der ins Unermeßliche
steigenden Mieten bei uns und der desolaten Lage freier
Schriftsteller. Denn hier kann man in den Dörfern der Alpujarras für
20-30 000 DM durchaus noch etwas bekommen, was für mich gerade noch
erschwinglich wäre. Und wieder habe ich mich, wie so oft zuvor,
gegen den Besitz entschieden. Genauer gesagt: Es wäre für mich, da
ich nicht so viele Optionen habe, eine endgültige Entscheidung. Ich
wäre dann sehr weit weg von Deutschland und Schweden, die beiden
Länder, an die ich halt emotional sehr gebunden bin. Deshalb habe
ich immer dann, wenn ich mich konkret für etwas entscheiden
soll, das Gefühl, als würde ich mir damit eine Bleikugel ans Bein
binden wollen. Und ich denke auch, daß ich die paar Jahre, die mir
noch bleiben, auch noch besitzlos hinter mich bringen kann.
Kurioserweise
hat übrigens Spanien den höchsten Prozentsatz an Eigenheimbesitzern
in Europa und die Schweiz den niedrigsten. Das ist auch der Grund
dafür, daß die vielen Arbeitslosen mit den knapp 50 000 Peseten
(keine 500 DM), die sie als Stütze erhalten, ganz gut über die
Runden kommen, ebenso wie die Arbeiter, die erheblich weniger
als bei uns verdienen, dafür aber nicht ein Drittel ihres Gehalts
für Miete bezahlen müssen.
In
Hamburg lernte ich 1958 durch Peter, einen Freund aus Meldorf,
den Spanier Paco kennen. Paco stammte aus Orihuela und war Millionär,
der sein Geld mit Orangen und ihrer Verschiffung nach Hamburg
machte. Paco war blond mit blauen Augen und etwas gehbehindert und
hatte nicht im geringsten die Allüren eines reichen Mannes.
Stundenlang saßen wir in den italienischen Kneipen,
diskutierten über Gott und die Welt und wenn er in Laune war, trug
Paco Gedichte von García Lorca vor, von denen er sehr viele im Kopf
hatte.
Durch
ihn erhielt Peter einen Wahnsinnsjob: Einen Mercedes nach Südspanien
fahren, wofür er 300 DM plus Spesen plus drei Wochen
Spanienaufenthalt plus Rückfahrkarte für den Zug bekommen
sollte. Doch Peter hatte gerade auch einen lukrativen Job in Hamburg,
den er gerne zu Ende bringen wollte. Aus der Zwickmühle erlöste ihn
Paco, der inzwischen noch einen Mercedes gekauft hatte, der
ebenfalls nach Spanien sollte. Peter bot mir also `seinen', den
ersten Wagen an. Wunderbar, das Problem war nur, daß ich keinen
Führerschein hatte und der Abfahrtstermin sehr knapp war. Wie der
Teufel sauste ich zur nächsten Fahrschule, schrieb mich ein, ja, ja,
ich könne schon fahren, was glatt gelogen war, ließ mir von einem
Freund genau alle Hand- und Fußgriffe beschreiben, setzte mich ins
Auto und es ging unter äußerster Konzentration wunderbar. Und in
vier Wochen hatte ich meine beiden Führerscheine, für Auto und
Motorrad.
Und
wenige Tage später ging es los, das Auto mit Paco und drei weiteren
Spaniern voll geladen, von denen keiner einen Führerschein
hatte, außer Paco, der aber wegen seiner Behinderung nur seinen
automatischen Studebaker fahren konnte. In 75 Stunden brausten
wir bis Orihuela durch, nur mit Kaffee- und Essenspausen, ein
völliger Irrsinn. Autobahnen gab es nur ein paar Teilstücke bei uns
und die Straßen in Spanien, die spotteten jeder Beschreibung.
Hinzu kam, daß in Spanien nachts unzählige Eselskarren ohne jede
Beleuchtung von Dorf zu Dorf trotteten, aber auch Autos, Motor- und
Fahrräder meist auf Beleuchtung jedweder Art verzichteten. Trotz
aller Hindernisse kamen wir heil und ganz in Orihuela an.
Paco
quartierte mich in einem kleinen Hotel in Alicante ein, wo ich Peters
Ankunft abwarten wollte, um mit ihm zusammen die Rückreise
anzutreten. Es vergingen eine, zwei, drei Wochen und Peter tauchte
nicht auf. Schließlich fuhr ich alleine nach Hamburg zurück.
In
der alten Villa in der Hochallee war nicht einer der vielen Studenten
zuhause. Ich klingelte ganz oben, wo ein Ehepaar mittleren Alters
wohnte, mit dem wir immer gut zurecht gekommen waren. Die Frau
öffnete mir, sah mich und brach in einen Schreikrampf aus. Ich
wollte sie beruhigen und sie wich schreckensbleich zurück. Nach
einer Weile beruhigte sie sich und ich erfuhr den Grund ihres
merkwürdigen Verhaltens: Peter hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit
mir, aber Peter hatten sie am Tag zuvor beerdigt. Ich war völlig
fassungslos.
Nach
und nach erfuhr ich den Hergang: Peter hatte vor der Abfahrt in
der Villa ein rauschendes Fest gefeiert, hatte sich dann allein in
den Wagen gesetzt und war losgebrettert. Er kam bis an die
französische Grenze bei Kelheim, wo man ihn auf Grund irgendwelcher
Mängel an seinen Papieren nicht durchließ. Er rief noch in Hamburg
an, drehte ohne Pause um und fuhr zurück. Ohne ein Auge voll
Schlaf. Und bei Karlsruhe donnerte er mit voller Fahrt unter einen
Lastwagen. Er war auf der Stelle tot. Er hinterließ eine junge Frau,
die bereits hochschwanger war. Wie leicht hätte mich das gleiche
Schicksal ereilen können, der ich genauso einen Schwachsinn
gemacht hatte, allerdings ohne vorher zu saufen. Christian und
ich, Peters beste Freunde, hatten durch dieses Ereignis von der Villa
und von Hamburg die Nase voll.
Christian
war es, der Freiburg/Bg als die richtige Universität für uns
aussuchte. Vorher mußte ich allerdings erst noch einen Mercedes nach
Spanien fahren, da der zweite Wagen ja durch Totalschaden ausgefallen
war. Ende November 1961 fuhr ich im Zug dann nach Freiburg, wo
Christian inzwischen eine Bude für uns gefunden hatte.
Ein
paar Monate später gelangte ein Einschreiben in meine Hände,
das auf dem Umweg über mein Elternhaus dort geöffnet worden
war, was allein mich schon auf die Palme brachte. Und erst der
Inhalt: Ich war in Spanien in Abwesenheit wegen unerlaubten
Imports eines Mercedes 220 S zu der damals unvorstellbaren Summe von
20 000 DM Geldstrafe verurteilt worden. Das war natürlich ein
gefundenes Fressen für meine Eltern und der Beweis dafür, daß ich
auf die schiefe Bahn geraten sei.
Ich
nahm den nächsten Zug nach Orihuela, was Christian unbedingt
verhindern wollte. Er glaubte, ich würde von den Spaniern erstochen,
gevierteilt und in den Fluß geworfen werden. Als er mich nicht
von meinem Vorhaben abbringen konnte, ließ er es sich nicht nehmen,
mich mit Totschlägern und Schlagringen auszurüsten. Ich kam am
Vormittag in Orihuela an, sah den nagelneuen Mercedes bei der Brücke
stehen, den ich kurz zuvor hinuntergebracht hatte, daneben einen
deutschen Studenten, den ich flüchtig kannte, und der als Chauffeur
angestellt worden war. Ich nahm als erstes den Wagenschlüssel
an mich, ging dann hinüber zu Paco, der mit Freunden auf der
Terrasse eines Cafés in der Nähe saß. Natürlich regte er
sich darüber auf, daß ich den Schlüssel hatte, willigte dann aber
ein, die Angelegenheit zu regeln. Es stellte sich heraus, daß die
notarielle Übertragung des Wagens in Spanien von meinem auf Pacos
Namen nur eine Farce gewesen war, d.h. null und nichtig. Wir mußten
zum Gericht und dort bezahlte Paco die Geldstrafe und er bekam den
Autoschlüssel zurück. Er und seine Bande haben trotzdem noch ein
enormes Geschäft gemacht. Für den Wagen hatten sie 15 000 bezahlt
plus 20000 Strafe (sie enthielt die Zollgebühren) plus meinetwegen
5000 sonstige Unkosten, zusammen 40000 DM. Verkauft haben sie das
Auto für sage und schreibe 80000 DM. Ich war jedenfalls mit einem
blauen Auge davongekommen; ich erfuhr von anderen Studenten, die
deswegen ihr Studium aufgeben mußten. Ich war empört, daß man die
Naivität und Leichtgläubigkeit von Studenten für diese dunklen
Machenschaften ausnutzte. Und Paco, den ich so sehr geschätzt hatte,
sah ich danach nie wieder.
Der
Anstand reicher Leute reicht halt immer nur so weit, wie ihre
materiellen Interessen nicht tangiert werden. Sie können
liebenswert, charmant und eventuell auch großzügig sein, können
ihre Bildung herauskehren, so weit vorhanden, aber irgendwann
kommen immer ihre Wolfszähne zum Vorschein. Aber sie reißen
immer nur dort, wo sie die stärkeren zu sein glauben, denn ihre
Feigheit ist ganz außerordentlich. Zeigt man ihnen die Zähne,
scheißen sie sich ins Hemd.
Einen
typischen Fall erlebte ich ich Freiburg. Ich arbeitete auf einer
Tankstelle, mit dessen Chef ich mich ausnehmend gut verstand. Neben
dem Auftanken machten mir Ölwechsel, Abschmieren, Reifenwechsel
u. dgl. Nach 17 Uhr war ich meist allein bis zum Schluß um 20 Uhr.
Die
Tankstelle gehörte dem Privatbankier Krebs, einem der reichsten
Männer Freiburgs, ein Widerling, wie er im Buche steht, der einen
seinen Söhne bereits in den Tod getrieben hatte. Ich war gerade
dabei, die Garage zu schließen, als er zwei Minuten vor 20 Uhr mit
seinem dicken Mercedes zum Tanken auf den Hof gefahren kam. Ich wußte
zwar, wer er war, da er mir aber nie vorgestellt worden war, kannte
ich ihn offiziell nicht. Er sah mich rauchen, was uns in der Garage
erlaubt war, und brüllte mich an wie ein Ochse. Damit war er bei mir
an den Richtigen geraten. Vor den letzten Kunden machte ich ihn
fertig: "Was fällt dir altem dreckigen Schwein ein, hier
so rumzubrüllen. Wer bist du Scheißer überhaupt? (Dabei
klappte ihm schon der Kiefer herunter.) Wenn du nicht sofort dein
Maul hältst und verschwindest, dann hau ich dir eine in die Fresse,
daß du rüber in deine alte Mistkarre fliegst." Und er, ein
Bulle von einem Kerl, machte einen Satz rückwärts, flitzte zum Auto
und war wie der Blitz verschwunden, unter dem Gelächter der Kunden,
die diesem stadtbekannten Ekel auch nicht wohlgesonnen waren.
Am
nächsten Morgen kam ich zur gewohnten Stunde auf den Hof und, wie
groß war mein Erstaunen, mein Chef, der freute sich diebisch. Er war
natürlich von Krebs sofort angerufen worden, der meinen umgehenden
Rauswurf verlangt hatte. Aber mein Chef dachte nicht daran, was ich
ihm hoch anrechnete. Schließlich konnte ich mich darauf berufen, den
Flegel überhaupt nicht gekannt zu haben.
Ähnliches
spielte sich, ebenfalls mit einem Bankier, in Hamburg und mit
einem Großkapitalisten in Stockholm ab, die beide glaubten, ihre
Untergebenen wie ein Stück Dreck behandeln zu können. Droht man
ihnen Prügel an, dann treibt ihnen ihre Feigheit den Angstschweiß
auf die Stirn. Sie rächen sich dann auf ihre Weise, indem sie ihre
Machtmittel spielen lassen und einen rausschmeißen. Aber das war es
mir immer wert, denn das, was sie von mir zu hören bekommen haben,
das haben sie weder vorher noch nachher gehört und das kauft ihnen
kein Schwein mehr ab.
Zu
meiner großen Zufriedenheit habe ich diesen Angstschweiß auch
einmal auf der Stirn des Herrn Genscher gesehen, zumal ich daran
nicht unbeteiligt gewesen bin. Zur 700-Jahrfeier der Universität
Tübingen, das mit einem großen Symposium über Südostasien
unter Anwesenheit der Außenminister aller ASEAN-Staaten
verbunden wurde, schickte man mich vom NDR mit einem Ü-Wagen hin.
Gleichzeitig fand eine Gegenveranstaltung der indonesischen
Studenten statt, zu der ich als Gastredner eingeladen war.
Da
zu allen öffentlichen Auftritten der Außenminister von den
Studenten Demonstrationen angekündigt waren, verlegten die Deutschen
schlauerweise ständig die Termine. Aber siehe, die Demo war jedesmal
zur Stelle. Es war wie die Geschichte vom Hasen und dem Igel: Ich bün
oll da. Da die Journalisten natürlich von diesen Verschiebungen
unterrichtet wurden, konnte ich das immer gleich weitergeben. Und
beim großen Empfang aller geladenen Außenminister durch Genscher in
der Stadthalle hatte sich auch wieder eine kleine Demonstration
eingefunden, die völlig friedlich verlief, lediglich Schlagworte
gegen Malik, den Vertreter des faschistischen Indonesien schrie. Die
Studenten durch die Polizei wegknüppeln zu lassen, hätte
schlecht ausgesehen. Also bahnten sich die Herren den Weg durch die
Menge und schweißgebadet gingen sie an uns Journalisten, die wir
drinnen warteten, vorbei. Ich gönnte es ihnen von Herzen.
Im
Verlauf der ganzen Feier ereigneten sich noch ein paar Dinge,
die nicht der Pikanterie entbehrten. Beim Festakt hieß irgendjemand
die hohen Herren willkommen. Genscher ganz vorne, rechts neben ihm
der indonesische Außenminister Malik und links ein Mann, den ich
nicht kannte. Ich fragte einen Kollegen, ob das, so wie der
aussieht, ein Geheimdienstmann sei. "Wo denkst du hin, das ist
der Verleger Erdmann!" Soso, da hatte ich mich wohl getäuscht.
Am
letzten Tag der Feierlichkeiten nahm mich ein Kollege von der
dortigen Presse in einer Kneipe auf die Seite. "Weißt du, wer
der Erdmann eigentlich ist?" Nein, ich kannte ihn nur als Chef
eines florierenden Verlages, der recht aufwendig gemachte Bücher
verlegte, Länder-Anthologien und Reprints bedeutender deutscher
Forscher und Entdecker. Und ich wußte, daß er am Zustandekommen des
Südostasien-Symposiums einen entscheidenden Anteil hatte. "Nun,
ich will es dir erzählen. Wir können hier darüber nichts
schreiben, sonst sind wir sofort unseren Job los, aber vielleicht
kannst du ja etwas draus machen." Erdmann war ehemaliger
SS-Mann, hatte sich nach dem Krieg eigenmächtig einen Doktortitel
zugelegt, weswegen er verurteilt wurde, war dann zum Chef der
Ostspionage mit ihrer Zentrale in Berlin aufgestiegen, hatte
irgendwann dann den Verlag gegründet, der durch die staatlichen
Garantieabnahmen, die ihm seine Kumpane Kiesinger & Co.
zuschanzten, außerordentlich florierte. Der Kollege gab mir auch
gleich noch einige Dokumente mit auf den Weg. Nun, ich machte was
draus. Ich breitete mein Wissen genüßlich aus, was ein
wütendes Protestschreiben Erdmanns an den NDR-Chef zur Folge hatte,
in dem er versuchte, mir am Zeug zu flicken, was aber leicht zu
entkräften war. Die Formulierung des Antwortschreibens wurde im
übrigen mit überlassen.
Bald
danach wurde Erdmann auf dem Flughafen Stuttgart wegen
Steuerhinterziehung in Millionenhöhe verhaftet und verschwand hinter
Gittern. Daraufhin hörte ich nur noch, daß der Verlag verkauft
worden sei. Möglicherweise sind ja durch meinen Beitrag auch
die Blicke der neugierigen Herrn vom Finanzamt auf diesen sauberen
Herren gelenkt worden. Aber vielleicht bilde ich mir das ja auch bloß
ein.
Auf
dem Rückweg von meiner ersten Spanienreise fand eine für mein
weiteres Leben entscheidende Begegnung statt. Ich nahm den Umweg über
die Schweiz und besuchte in Zürich eine Frau, die ich mit 16 Jahren
in München kennengelernt hatte. Beim Besuch der Pinakothek war sie
mir aufgefallen und ich war sprachlos angesichts ihrer Schönheit.
Ich wartete draußen neben meinem Raderl, um sie noch einmal zu
sehen, denn nie im Leben hätte ich gewagt, sie anzusprechen. Als
hätte sie genau gewußt, daß ich warte, kam sie lächelnd die
Treppe herunter, direkt auf mich zu und sprach mich an. Wir machten
einen kleinen Spaziergang, weil sie mit ihrem Mann verabredet
war und nicht viel Zeit hatte. Als sie ging, blieb ich versteinert
zurück, als hätte sie, die vor Vitalität und Sinnlichkeit sprühte,
alle meine Lebensgeister mit sich fortgenommen. Ihre Klugheit, ihre
hinreißende Stimme, ihr Selbstbewußtsein hatten mich in ihren Bann
geschlagen. Seit jener Zeit schrieben wir uns regelmäßig. Aber erst
mit 21 Jahren brachte ich den Mut auf, sie zu besuchen.
Sie
war tatsächlich zuhause und als ich endlich vor ihrer Villa
stand und klingelte, klopfte mein Herz bis zum Hals. Und dann öffnete
sie und lachte und wir fielen uns in die Arme und es war, als hätte
es die fünf Jahre Zwischenzeit nie gegeben. Sie nahm mich bei der
Hand, führte mich in das Haus und mit ihrer so wohlklingenden,
zärtlichen Stimme stellte sie mich ihrem Mann vor. Ein wunderbarer
Typ und eine ebenso starke Persönlichkeit wie sie, den ich sofort in
mein Herz geschlossen habe. Besonders liebte ich ihn, wenn er
Musik machte oder dirigierte. Durch äußerste Disziplin sah sein
Gesicht wie in Granit gemeißelt aus, wodurch dessen Schönheit noch
mehr hervorgehoben wurde. Und er machte keine Mätzchen, wie das
allzu viele Dirigenten so gerne tun.
Irgendwann
führte mich meine Freundin in ihr Schlafzimmer und wir liebten uns
bis in die frühen Morgenstunden, mit einer Leidenschaft und
Besessenheit, wie ich sie selten erlebt habe. Und sie erzählte mir
von ihrem Konzept des Zusammenlebens, das sie gemeinsam mit ihrem
Mann entworfen hatte. Einander in tiefer Liebe zugetan,
vermieden sie dennoch, sich gegenseitig Fesseln anzulegen. Dadurch
hatten sie es auch nicht nötig, einander zu betrügen und zu
belügen. Durch die Freiheit, die sie dem anderen ließen, wurden sie
selbst frei. Und ihre Liebe wuchs. Als ich diese Frau 33 Jahre später
wiedertraf und sie nach ihrem Mann fragte, sagte sie spontan und aus
tiefem Herzen: Oh, ich liebe ihn jeden Tag mehr.
Hier
hatte ich endlich das Modell des Zusammenlebens gefunden, das mir
immer vorgeschwebt hatte. Mir war seit langem klar, daß die
Institution der Ehe versagt hatte - in welchem Ausmaß und in welch
gewaltigen Zeiträumen, das wurde mir erst später deutlich. Ich habe
nie verstanden, wieso die Menschen angesichts eines solch eklatanten
Versagens nicht nach neuen Modellen suchten. Es ist, als würden sie
Häuser bauen, die bei jedem Windstoß umfallen, aber eisern an dem
festgelegten Haustyp festhalten. Natürlich weiß ich, daß die
Ehe oder monogame Kleinfamilie, wie sie heute in Mode kommt, vor
allem der Kirche und dem Staat nützlich ist. Trotzdem ist es
erstaunlich, daß die Menschen, obwohl sie bis zum Hals in der
Scheiße stecken, nicht versuchen herauszukommen. Aber zu Anfang,
wenn sie jung sind, glauben ja alle, daß sie selbst etwas ganz
Besonderes seien, daß sie die große Ausnahme sein würden und
es bestimmt schaffen würden. Später schlagen sie
schicksalsergeben die Augen auf und sagen: "Naja, wir sind ja
auch mal jung gewesen und haben unsere spinnerten Träume
gehabt. Aber das legt sich mit der Zeit." Diese miesen Scheißer!
Zweimal
lebte ich über längere Zeiträume mit Frauen zusammen und zweimal
scheiterte ich letztendlich, wobei man bedenken muß, daß sich einer
solchen Beziehung eine unendliche Zahl gesellschaftlicher Widerstände
entgegenstellen. Trotzdem kann ich sagen, daß diese Gemeinschaften
jedes Mal von unendlich mehr Liebe und Zärtlichkeit und
Aufrichtigkeit und Solidarität geprägt waren, als alle Ehen
zusammengenommen, die ich je kennengelernt habe,
Die
68-er Generation hat ja etwas Ähnliches versucht, aber das glitt
ganz schnell in Libertinage ab, womit man nach der Oktoberrevolution
in Rußland auch zu kämpfen hatte. Theoretische Gleichheit schafft
noch lange keine praktische Gleichheit, vor allem nicht nach ein paar
tausend Jahren Patriarchat. Deshalb waren trotz der liberalsten
Sexualgesetze in der damaligen Sowjetunion die Frauen die
Leidtragenden. Die Typen schnulzten den Weibern was vor, schwängerten
sie und waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Und das
passierte hunderttausendfach. Als dann das Pendel zurückschlug und
Stalin wieder bürgerliche, d.h. reaktionäre Ehegesetze
einführte, war bei uns natürlich die Schadenfreude groß. Da
sieht man mal wieder, daß alles andere nicht funktioniert,
lautete der Refrain. Genau wie nach dem Scheitern der 68-er
Experimente.
Derlei
Experimente sind heute in den Zeiten von Aids, dieser vom Papst
herbeigebeteten und von bigotten oder zynischen Wissenschaftlern
womöglich herbeiexperementierten `Lustseuche', unendlich viel
schwieriger, wenn nicht gar unmöglich geworden. Man kann also
getrost zur Tagesordnung übergehen und für die nächsten 1000 Jahre
weiter im Ehesumpf herumstampfen. Auch wenn bald gar nichts mehr
funktioniert, nicht einmal mehr das Zeugen und Gebären von Kindern.
Aber man scheut nicht vor den ekelerregendsten Praktiken wie der
künstlichen Insemination, in vitro-Geburten und Leihbäuchen zurück.
Jede moralische Depravation und Verkommenheit läßt sich halt
von unserer christlichen Gesellschaft immer wieder mühelos
übertrumpfen.
Zu
meinem Lebenskonzept gehörte auch, daß ich mich sehr früh für das
einfache Leben entschied, d.h. mit einem Minimum auszukommen, um
Zeit für andere Dinge und für das Reisen zu gewinnen. Ich
wollte mich nicht in den Konsumstrudel hineinziehen lassen.
Viele Leute sind der Meinung, daß ich asketisch lebe. Ich selbst
habe nicht das Gefühl, daß mir etwas Wesentliches entgangen
ist. Als ich 1962 aus dem nordschwedischen Urwald kam, wo ich drei
Monate lang als Holzfäller gearbeitet hatte und mitten im Wald in
einer einfachen Holzbaracke an einem Bach gelebt hatte, lief ich
durch Stockholm und schaute mir verwundert all die Geschäfte an. Ich
fragte mich: Brauchst du irgendetwas davon? Nein, ich brauchte nichts
und wollte nichts. Und so geht es mir heute noch. Ich kann mich
durchaus an schönen Dingen erfreuen, ohne sie besitzen zu müssen.
Die einzigen größeren Anschaffungen in meinem Leben waren immer
Bücher und Schallplatten und gebrauchte Autos. Auch den Kauf von
Klamotten habe ich immer auf ein Minimum beschränkt. Eigentlich
habe ich stets bedauert, daß es keine Kleidung gibt, die ein Leben
lang hält. Kaum hat man sich an ein Kleidungsstück gewöhnt,
schon ist es kaputt und man muß was Neues kaufen.
Für
Afrika hatte ich mir zwei paar gleiche Hosen und zwei hellblaue,
leichte indische Leinenhemden gekauft. Ich war also scheinbar immer
gleich angezogen. Der große Vorteil war der, daß ich jeden Tag
gezwungen war, mein Hemd durchzuwaschen und sich keine Wäscheberge
anhäuften. Als wir ein paar Wochen bei einem arabischen Freund
mitten in Tanzania verbrachten, nahm er mich eines Abends beiseite
und bot mir aus seinem umfangreichen Vorrat an Hemden einige zur
Auswahl an. Ihm hatte sich unlogischerweise im Kopf die Idee
festgesetzt, daß ich nur ein paar Hosen und Hemden hätte.
Wir
wehrten uns auch lange gegen jede Art von Maschinen im Haushalt,
selbst gegen Waschmaschinen. Erst Mitte der 70-er Jahre kam eine
solche ins Haus, d.h. sie war schon da. Die Vormieter hatten sie im
Garten stehen lassen. Aber ich mußte sie erst reparieren und ich war
mächtig stolz, sie zum Laufen gebracht zu haben, ohne jemals in
meinem Leben so ein Ding angefaßt zu haben und ich habe ihren Nutzen
seither eingesehen. Allerdings sind wir die beiden Jahre in
Afrika auch ohne ausgekommen. Jeder in der Familie wusch seine
Klamotten von Hand und das tue ich hier in Spanien auch wieder seit
einem Jahr. Die Waschmaschine hat uns jedoch nicht dazu verführt,
unsere normale Reinlichkeit ins Maßlose zu übertreiben. Leute, die
noch vor 20 Jahren alle 7 Tage ihr Hemd gewechselt haben, müssen das
heute alle 7 Stunden tun, auch wenn alle zwei Tage unter normalen
Bedingungen völlig ausreichend ist. Auch von sogenannten Grünen
wird auf diese Weise maßlos mit Wasser, Energie und Waschmitteln
umgegangen. Sie trösten sich damit, daß das Waschmittelpaket den
grünen Punkt trägt.
Auch
die ganzen Elektromaschinen, die man im Haushalt haben muß - wir
hatten sie nicht. Geschirrspülmaschinen, die ganz besonders die
Umwelt verschmutzen, besonders viel Wasser und Energie verschwenden,
wir brauchten sie nicht. Ich mache auch heute noch jede Wette, daß
ich jeden Abwasch schneller, ökonomischer und sauberer von Hand
mache. Nun ja und ein Fernseher kam sowieso nie in Frage. Ich habe
die Dinger von der ersten Stunde an gehaßt. Als ich in den 50-er
Jahren zu einem Freund kam, prunkte da so ein Monster mitten in der
guten Stube, mit der ganzen Familie drumherum versammelt und alle
machten `Pssst! Psst!'. Und eine Unterhaltung kam nicht zustande. Nie
mehr habe ich jenes Haus betreten.
Auch
präfabriziertes Fressen kam bei uns nicht auf den Tisch. Selbst das
Müsli machten wir uns jeden Morgen selbst. Wir kauften immer
frisches Gemüse und zwar säsongemäß, d.h. keine grünen Bohnen im
Winter oder Erdbeeren im Herbst. Ein Mittagessen läßt sich in
einer halben Stunde aus frischen Sachen herstellen, ein Essen, das
schmeckt und gesund ist. Ich konnte nie verstehen, wie man tagtäglich
den Saufraß von Fertiggerichten hinunterschlingen kann.
Natürlich
spielt der Zeitfaktor eine Rolle. Es dauert etwas länger, Gemüse zu
putzen als eine Dose zu öffnen. Eine Hose zu stopfen als eine neue
zu kaufen. Selbst einen Kuchen zu backen als um die Ecke zum Bäcker
zu rennen. Die Waschmaschine oder das Auto oder das Fahrrad selbst zu
reparieren als es in die Werkstatt zu bringen. Aber alles neu zu
kaufen oder in die Werkstatt zu bringen, das kostet ja auch und zwar
täglich mehr. Und täglich müssen die Leute mehr schuften und
rackern und mehr Überstunden kloppen, um ihren `Standard' halten zu
können. Und ich bin überzeugt, daß die Menschen sich selbst
dadurch sinnlicher Erfahrungen berauben und auch der
Erfolgserlebnisse.
Freiburg
wurde für mich die Stadt der Liebe. Ich halte den alemannischen
Frauentyp für etwas ganz Besonderes, wie man ihn im übrigen Europa
nicht wiederfindet. Abgesehen von der Schönheit der Frauen
haben sie großes Selbstbewußtsein und Klugheit, gepaart mit
Sinnlichkeit und Zärtlichkeit. Und Mut. Sie lehnen sich gegen die
Autoritäten der Schule und selbst der Internate auf, gegen Behörden
und Chefs, und auch gegen die Eltern, wenn die sich ihrer Liebe
entgegenstellen. Ich könnte mir denken, daß es in jener Gegend sehr
viel Hexenverbrennungen gegeben hat. Denn es ist der Frauentyp,
den die Pfaffen fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
In
Freiburg traf ich zum ersten Mal eine Frau, mit der ich zusammenleben
wollte. Dazumal war es allerdings für ein unverheiratetes Paar
nicht einfach, eine Bude oder Wohnung zu finden, zumal in dem
erzkatholischen Freiburg nicht. Wurden wir doch schon angepöbelt,
wenn wir schmusend und eng umarmt durch die Straßen liefen. Nun, wir
fanden immer irgendetwas und lebten einige Jahre zusammen, auch
in Schweden, in der Schweiz und in Spanien. Aber wir waren zu jung,
zu dumm und unerfahren, als daß dieser unser beider erster
Versuch von Dauer hätte sein können. Die Trennung war für
beide Teile sehr schmerzlich und endete für mich in einem
mißglückten, weil schlecht geplanten Selbstmordversuch. Ich kann
wirklich nicht sagen, ob ich das bedauern soll oder nicht.
Ein
großes Problem war es, in der Beamten- und Rentnerstadt Freiburg
einen Job zu bekommen, und wenn, dann wurde er ganz außerordentlich
mies bezahlt. Das Studentenwerk war ein Sauladen, so daß man
bei der Arbeitssuche auf sich allein gestellt war. Wenn die Situation
zu schlecht war, und das war sie häufig, mußte ich nach Hamburg auf
Jobsuche gehen. Meine interessanteste Arbeit in Freiburg war ohne
Zweifel in der Kerzenfabrik Birmelin. Der alte Birmelin hatte sich
auf Altarkerzen spezialisiert und ein Patent entwickelt, durch
das die teure Kerze selbst erhalten wurde. In ihrem hohlen Inneren
steckte ein Alumuniumrohr mit Feder, in das billige Stearinkerzen
gelegt werden konnten, die an Stelle der großen, teuren Prachtkerzen
abbrannten. Irgendetwas gab es dort immer zu tun, entweder an den
Drehbänken der Fabrik oder im angeschlossenen Sägewerk oder wir
lieferten die Kerzen aus, bevorzugt nach Frankreich, Belgien und
Oberbayern. Auf diese Weise lernte ich das ganze nördliche
Frankreich, von Metz bis Rouen, von Orléans bis Dünkirchen
kennen, Dorf für Dorf und Stadt für Stadt.
Und
natürlich die Geistlichkeit, vom kleinen Landpfaffen bis zu den
Bischöfen. Wie wenig ganz einfache Menschlichkeit war da
anzutreffen. Boshaftigkeit, Verlogenheit, Geschwätzigkeit, Eitelkeit
und Unsauberkeit und - Geiz, haarsträubender Geiz. Man hatte die
Ware geliefert, montiert, den alten Schrott abmontiert, und wenn
es ans Bezahlen ging, dann sträubten sie sich wie Katzen, die ins
Wasser sollen. Es gab oft stundenlange Diskussionen mit
Drohungen, heiligen Schwüren und Versprechungen. Am Ende einer
solchen Marathonsitzung brachte es etwa der Bischof von Rouen fertig,
einige Säcke voll Münzgeld aus der Kollekte anzuschleppen, das der
heilige Mann und ich stundenlang zählen mußten.
Als
die Kerzenfabrik zum dritten Mal völlig niederbrannte, war ich
arbeitslos. Der einzige Ausweg war, den Taxischein zu machen, da
Taxifahrer ständig gesucht wurden; die Rotation war sehr groß, weil
die Bezwahlung besonders schlecht war. Man war darauf angewiesen, den
Boss und die Gäste zu bescheißen, um einigermaßen auf die Kosten
zu kommen. Ein beliebter Trick war, bei nächtlichen Fahrten nach
außerhalb, dieselbe Strecke rückwärts zurückzufahren, weil die
Uhr dann ebenfalls rückwärts lief und man auf diese Weise eine
Fahrt für die eigene Tasche frei hatte. Allerdings mußte man
dann einen Kollegen bitten, einem den Kopf wieder
zurechtzurücken.
Mein
prominentester Fahrgast war Heidegger. Eine miese kleine Ratte, für
den ein Taxifahrer weniger als Luft war. Hätte mir das Taxi gehört,
hätte ich liebend gerne zu ihm gesagt: Einen alten Nazi wie Sie
fahre ich nicht spazieren. Aber seinetwegen den Job zu verlieren, war
mir die Sache nicht wert.
Die
Uni sah ich zu jener Zeit immer seltener von innen. Außer dem
berühmten Romanisten Hugo Friedrich, der aber ein Lackaffe und von
jeder Menge Arschkriechern umgeben war, dessen Vorlesungen mich
außerdem langweilten, hatte die Uni mir nichts zu bieten. Nach
reiflicher Überlegung entschloß ich mich, sie ohne Abschluß und
akademischen Grad zu verlassen, was ich nie bereut habe.
Viel
wichtiger waren mir damals eine Gruppe von Künstlern, etablierten
und weniger etablierten Malern und Bildhauern, angehenden Dichtern
und Schriftstellern, um die sich immer eine Menge Bürger mit einem
Hang zum Bohemienhaften sowie Halbwelttypen scharten. Unter den
Künstlern gab es einige, die der alten KPD vor ihrem Verbot angehört
hatten, und etliche, die später in der DKP, der Neugründung, eine
Rolle spielen sollten. Da die meisten Freunde sehr viel älter waren
und über entsprechend mehr Lebenserfahrung verfügten, habe ich
ihnen durch die endlosen Diskussionen über Kunst, Literatur und
Politik außerordentlich viel zu verdanken. Wir alle waren sehr
radikal und das Wenigste konnte in unseren Augen bestehen. Wir
machten so ziemlich alles nieder. Dennoch war ich eigentlich ständig
unzufrieden. Immer nur diskutieren, quatschen und kluge Reden
halten, das konnte nicht alles sein. Da fehlte irgendetwas. Es
dauerte noch Jahre, bis ich dahinter kam, was: Die Praxis.
Die
Praxis lernte ich in Schweden kennen, durch eine Kette glücklicher
Umstände. Meine Freundin und ich beschlossen 1966, für ein paar
Wochen nach Schweden zu fahren, das Land, das wir beide von früheren
Begegnungen her kannten und liebten. Nun, aus den paar Wochen wurden
zwei Jahre, und als wir nach Deutschland zurückkehrten, waren wir
nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt, da im Allmänna BB in
Stockholm unsere Tochter zur Welt gekommen war.
Schweden
kannte 1966 noch nicht die rigiden Bestimmungen, wonach ein
Ausländer vor dem Betreten des Landes einen Nachweis für seinen
Unterhalt oder eine Beschäftigung erbringen mußte, d.h. man konnte
sich im Land einen Job suchen. Auf diese Weise lernte ich zwei große
Betriebe kennen, Skogaholms Bröd und Gustafsberg.
Zur
selben Zeit befand sich die schwedische Vietnambewegung auf ihrem
Höhepunkt. An den Demonstrationen und den Diskussionen in der
Innenstadt beteiligte ich mich aktiv und lernte dadurch die
unterschiedlichsten Leute kennen, Alte und Junge, deren Solidarität
und Herzlichkeit tiefen Eindruck auf mich machten. Einen
entscheidenden Anstoß erhielt ich von einem jungen Studenten, dessen
Namen ich völlig vergessen habe, falls ich ihn je gewußt habe, mit
dem ich mehrere Diskussionen in einem Café der Innenstadt hatte und
der mich überzeugte, der `Clarté' beizutreten, der studentischen
Organisation der KFML.
Damit
trat ein neues Problem auf. Ständig stieß ich auf den Namen Marx
und kannte nichts von ihm. Da ich mich mit den Zitatbrocken
nicht zufrieden gab, besorgte ich mir das `Kapital'. Und damit begann
für mich eine der aufregendsten Entdeckungen meines Lebens. Wir
hatten eine kleine Stuga in Saltarö gemietet und ich arbeitete schon
in Gustafsberg. Schichtarbeit am Fließband. Und anschließend begann
ich mit 30 Jahren eine Art zweites Studium. Ich las Zeile für Zeile
des Kapitals, alle drei Bände, rechnete jede einzelne Gleichung nach
und kontrollierte die Angaben, las ganze Absätze meiner Freundin vor
und diskutierte sie mit ihr. Außerdem erlebte ich tagtäglich die
Probe aufs Exempel in der Fabrik. Das Kapital war für mich der
Kommentar zu meiner Schufterei, wie er aktueller nicht sein
konnte. Das glasklare Denken von Marx, sein unübertrefflicher,
geradezu moderne Stil, seine beißende Ironie und sein Humor
nahmen mich sofort gefangen. Wenn ich später las, wie Hopper &
Co Marx widerlegten, konnte ich immer nur lachen. Entweder hatten sie
ihn nicht gelesen oder nicht verstanden oder - was wahrscheinlicher
ist - wollten ihn nicht verstehen.
Ich
erweiterte meine Kenntnisse durch die Lektüre von Lenin, Trotzki,
Lassalle, Landauer, Bakunin, Luxemburg, Liebknecht, Bebel, Stalin und
Mao. Und erst bei Mao fand ich ein tiefes Verständnis, eine echte
Geistesverwandtschaft zu Marx. Beide, sowohl Marx als auch Mao,
veränderten mein Leben.
Dies
war der eine Strang. Der zweite waren all die großartigen
schwedischen Schriftsteller, denen ich enorm viel zu verdanken habe.
Schweden hat eine ganz einzigartige proletarische Literatur, mit
Strindberg als Portalfigur. Hierzulande kennt man ja hauptsächlich
den `verrückten' Strindberg mit seinen Eheproblemen (wer hat
die eigentlich nicht?). Der Strindberg von `Der Sohn einer Magd',
`Unter französischen Bauern', `Das rote Zimmer', `Die gotischen
Zimmer', `Schwarze Fahnen' etc., der ist hier weithin unbekannt. Und
das ist der eigentliche Strindberg, der politische Strindberg, der
Aufrührer, der ständig gegen den Stachel lökte, der sich mit Gott
und der Welt anlegte, vor allem mit der Obrigkeit, der aber vom Volk
über alles geliebt wurde.
Strindberg
also und Moberg, der große Ivar Lo-Johansson, der in der ganzen Welt
gelesen wird, außer bei uns, weil seine 80 oder 90 Romane,
Erzählungen, Essays und Streitschriften bei uns nicht zu haben sind.
Kjellgren, Lundquist, Jonson und Moa Martinsson, die Frau von Harry
Martinsson, die ich für wesentlich besser halte. Und Fridegard
und Ekelöf und der so jung verstorbene Dan Andersson. Und die
modernen wie Bunny Ragnerstam, Augustsson etc. Und natürlich
Jan Myrdal, der in der schwedischen Literatur eine Sonderrolle
einnimmt. Seine `Reise nach Afghanistan' war für mich ein eminent
wichtiges Buch. Da reiste ein Europäer mit offenem und
vorurteilsfreiem Blick, dessen Sympathien immer auf Seiten der
Unterdrückten waren, der mit seinem überragenden Intellekt die
Herrschenden scharfzüngig attackierte. Außer Jan Myrdal, von
dem vor allem Ende der 60-er einige Bücher erschienen, sind all
diese Dichter bei uns weitgehend unbekannt. Hier hat man stets den
saft- und kraftlosen Aufguß verlegt, früher den Heidenstam, Gejer
etc. und heute den Gustafsson.
Wieder
einmal muß ich meine Arbeit unterbrechen und flüchten, weil der
Gestank unerträglich wird. In Sichtweite, etwa ein Kilometer
Luftlinie, liegt eine Mülldeponie, die eigentlich ständig vor sich
hin kokelt. Meistens wird der süßliche Leichengeruch vom Wind
in die Stadt hinuntergetragen, aber hin und wieder bekommen wir hier
oben am Berg auch unser Teil ab. Dort wird alles verbrannt, was
anfällt. Von Autoreifen, Ölabfällen bis hin zu Nahrungsresten
und allen Arten von Plastik. Zwar gibt es seit einigen Monaten in
einigen Bezirken getrennte Container für organische,
anorganische Stoffe, für Papier und Glasabfälle, aber die
Entsorgung ist noch keineswegs geregelt. Außerdem bestehen
Pläne für eine moderne Verbrennungsanlage für den gesamten
Kreis, aber mangelnde Geldmittel werden den Bau wohl noch einige
Jahre hinauszögern. So lange wird die Bevölkerung noch den
giftigen, sicher mit Dioxin gut angereichertem Qualm einatmen
müssen. Was heißt müssen! Würde sie sich entschieden wehren,
fände sich auch eine Lösung. Einstweilen wird nur gemault,
wenn man den Dreck richtig dick in die Nase bekommt.
Ein
Freund schickte mir `Im Schatten des Granatapfelbaums' von Tariq Ali.
Das Buch schildert die Zeit kurz nach der Eroberung Granadas durch
die christlichen Könige aus arabischer Sicht. Es ist kein großes
literarisches Werk, aber gut geschrieben und für mich, der ich quasi
im Zentrum der damaligen Ereignisse lebe, hochinteressant. Tariq
Ali spricht auch ein Problem an, über das auch ich oft nachgedacht
habe und vor langer Zeit sogar ein Theaterstück angefangen habe.
Hätten die Mauren die Christen mit der gleichen eisernen Faust
angefaßt, wie diese umgekehrt, wäre Spanien heute noch moslemisch.
Ihre Toleranz ist ihr Untergang gewesen. Andererseits hätte es dann
nie jenes kulturell so hochstehende, tolerante und aufgeklärte
maurische Spanien gegeben, in dem Mauren, Juden und Christen
friedlich nebeneinander gelebt haben.
Die
Reconquista ist wohl das erste Beispiel in der Geschichte, wo ein
unterworfenes Volk vollkommen ausradiert und verjagt wurde, um sich
in den Besitz seiner ungeheuren Reichtümer zu bringen. Das haben
weder die Hunnen, noch die Mongolen, noch sonst irgendein
Eroberervolk fertiggebracht. Dabei haben die Christen in ihrer
grenzenlosen Borniertheit den größten Schatz, den sie eroberten,
vernichtet: Die riesigen Bibliotheken, in denen ein großer Teil
des Wissens des Abendlandes, des Morgenlandes und des klassischen
Altertums gespeichert war. Aber darin hatten die Christen ja Übung,
nachdem sie ein paar Jahrhunderte früher schon die größte
Bibliothek der Welt in Alexandria verbrannt hatten. Und sie führten
diese Tradition fort in Amerika und jüngst im Herzen Europas, in
Deutschland. Und damals wie heute schauten die braven Untertanen, ein
durch die Kirche verblödetes und feige gemachtes Volk, seelenruhig
dem Verbrennen der Bücher und der Menschen zu. Nicht ein Volk, nicht
ein Bataillon, nicht eine Kompanie, die rebelliert und sich an die
Seite der Verfolgten gestellt hätte, um für Recht und Gerechtigkeit
zu kämpfen, weder bei den Morisken-Aufständen hier in den
Alpujarras, noch in Mexico, noch im Warschauer Ghetto, von den
barbarischen Gemetzeln in den `Kolonien' ganz zu schweigen. Und da
gibt es Leute, die behaupten, wir hätten aus der Geschichte etwas
gelernt. Wer wir? Die Christen bestimmt nicht.
Die
Menschen tun sich schwer damit, aus der Geschichte zu lernen.
Mein Vater ist dafür ein gutes Beispiel. Das Ende der Hitlerei war
auch das Ende seiner Karriere als Hauptschriftleiter, wie
Chefredakteure dazumal genannt wurden. 1945 zählte er gerade 36
Jahre. Hätte er da nicht umdenken und lernen können? Begreifen
können, daß er den Verlust der Heimat, seines gesamten Besitzes,
seines Postens dem Herrn Hitler zu verdanken hatte? Daß Hitler
mit seinem Krieg ein nicht zu beschreibendes Elend über die
Menschen gebracht hatte, von den unermeßlichen Zerstörungen
nicht zu reden. Nein, er blieb bis zum Ende seines Lebens stolz
darauf, daß ihm der Göring als jüngstem Chefredakteur die
Hand gedrückt hatte. Er war überzeugt, daß die anderen die Schuld
hatten, daß die Sache der Deutschen gerecht war, daß die Niederlage
nur einer Kette unglücklicher Umstände zu verdanken war. Daß es
das nächste Mal besser ausgehen würde. Aber er war feige
genug, bei Nacht und Nebel mit Kind und Kegel abzuhauen und dem
Dienstmädchen die Obhut des Hauses zu überlassen. So ein sehr gutes
Gewissen hat er wohl nicht gehabt, um sich den Russen zu stellen. Das
eine oder andere muß er ja wohl gewußt haben, wie die Deutschen mit
jenen Untermenschen umgesprungen sind. Schließlich standen ihm
andere Informationsquellen zur Verfügung als Hinz und Kunz. Wir
hatten zuhause sogar ein richtiges großes Radio, mit dem man die
ganze Welt empfangen konnte, und nicht einen ordinären
Volksempfänger, der mur auf Berlin eingestellt war. (Flucht-Gedicht)
Ich
kann nicht sagen, ob er zuhause jemals einen anderen Sender
hörte. Dazu war ich noch zu jung. Als wir im Januar 1945, einem der
härtesten Winter seit 100 Jahren, im Wagen meines Vaters, den er als
Versehrter behalten durfte, die Flucht antraten, war ich gerade
acht Jahre alt geworden. Das war wohl das einzige Mal, daß er sich
der Insubordination schuldig gemacht hatte. Hitler hatte alle
Brücken sprengen lassen, damit die Leute nicht abhauen konnten. Aber
der harte Winter durchkreuzte diese Pläne. Die Leute warfen
Stroh in die Weichsel, damit sie schneller zufror, und ab ging es
über das Eis. An das Gefühl im Bauch kann ich mich heute noch
erinnern. Das Eis schwankte bei der Überfahrt des schweren PKW wie
Wellengang, aber es hielt. Die Böschung auf der anderen Seite kamen
wir jedoch nicht hoch; ein LKW mußte uns hochziehen. Und alles mußte
in absoluter Finsternis vonstatten gehen. Eine glimmende Zigarette
konnte die sofortige standrechtliche Erschießung zur Folge haben.
Weil mein Vater wegen der Dunkelheit und des Eises an den
Scheiben kaum etwas sehen konnte, fuhr er Schritt. Außer ihm saßen
in unserer Karre meine hochschwangere Mutter, meine Schwester,
Großmutter und ich. Statt der Sitze gab es zusammengerollte
Federbetten und auf dem Dach befand sich ein riesiges Paket, das mit
Stricken festgezurrt war, die durch einen Spalt der Fenster liefen,
weshalb es im Auto genauso eisig wie draußen war. Er fuhr also
Schritt, mein Vater, während er und meine Mutter ständig die
Scheibe rieben, um ein Guckloch freizuhalten. Er muß wohl irgendwann
etwas schneller gefahren sein und einen Panzer übersehen haben. Auf
jeden Fall krachte es plötzlich ganz fürchterlich und ich flog
gegen einen dieser Stricke, die durch den Wagen liefen und brach
mir das Nasenbein. Das Auto hatte sich auch einiges gebrochen, so daß
es nicht mehr in der Lage war, aus eigener Kraft weiterzukommen.
Von
dem Panzer oder einem LKW wurden wir durch den Korridor bis Stargard
geschleppt, wo der Schaden behoben wurde. Von dort an bis zur Ankunft
Ende März auf Schloß Bristow in Mecklenburg habe ich nur die
unterschiedlichsten Bilder in Erinnerung. Schnee und Eis und die
Leichen von Pferden und Menschen links und rechts der Straße. Die
Pferdefuhrwerke der Flüchtlinge - sie waren das
Haupttransportmittel - endlose Truppentransporte, Übernachtungen
in Hotel- oder Bahnhofshallen, dampfende Gulaschkanonen. Vor allem
aber die Bomben- und Tieffliegerangriffe auf die
Flüchtlingskonvois, auf die sich die amerikanischen Flugzeuge
spezialisiert hatten. Rausspringen aus dem Auto, in einem Graben, im
Wald oder an einer Hauswand Zuflucht suchen, und nach der Entwarnung
wieder rein in den Wagen. Oft mehrmals hintereinander in kurzen
Abständen. Ich erinnere mich: Eine Hausfrau, die uns üble
Schimpfworte nachschrie, weil wir das Gartentor nicht
geschlossen hatten, nachdem wir an ihrer Hauswand Schutz gesucht
hatten. Und in der Ferne war der Donner der russischen Artillerie zu
hören.
Oder:
Menschen, die versuchten, aus den zu Eis erstarrten Pferdeleichen mit
der Axt ein Schnitzel herauszuhacken. Oder: Wir alle in einem Graben,
gegenüber auf freiem Feld ein Haus, die Straße verstopft mit
Flüchtlingsfahrzeugen, und eine Frau, die mit ihrem Kinderwagen über
ein verschneites Feld rannte, während ein amerikanischer Tiefflieger
über uns hinwegraste und die Frau zu treffen versuchte. Oder ein LKW
direkt vor uns, der von der SS zur Kontrolle angehalten wurde. Am
Steuer saß eine Frau, die aussteigen und die Plane hinten lösen
mußte. Sie hatte den Wagen voller Kriegsgefangener. Alle wurden
sofort heruntergezerrt, die Frau wurde angebrüllt und gezwungen,
auf der Stelle umzukehren und Flüchtlinge zu holen. Heute wundert es
mich, daß sie nicht umstandslos erschossen wurde.
Bis
auf wenige Ausnahmen habe ich aus jenen drei Monaten kaum Worte und
Geräusche in Erinnerung, auch nicht von meinen Eltern, nicht
von Großmutter, auch nicht von meiner Schwester. Doch, mir fällt
ein, daß sie einmal im Wald, in dem wir bei einem Angriff Schutz
gesucht hatten, ihr Püppchen verloren hatte und furchtbar heulte.
Alle Menschen und Dinge sind wie Schatten hinter Glas. Ich weiß
nicht, was wir redeten, was wir im einzelnen taten, was wir aßen.
Ich weiß nicht, ob jemals blauer Himmel war. Ich habe nur
Dunkelheit, Schnee und Eis in Erinnerung. Als hätte ich unter Schock
gestanden. Oder eine Art Trance, was weiß ich. Jedenfalls müssen
mich diese Ereignisse sehr aufgewühlt haben, sonst hätte ich
nicht bis zum 28. Lebensjahr fürchterliche Alpträume gehabt.
Erst
von der drei-monatigen Pause auf Schloß Bristow habe ich wieder mehr
Erinnerungen. Landschaftlich war es eine Idylle, direkt am Teterower
See gelegen, mitten in Mecklenburg. Der Frühling kam; Krokusse
blühten und Schneeglöckchen und Veilchen und auch an
Bärenkraut, das wir im Wald fanden, kann ich mich gut erinnern. Es
ist wilder Schnittlauch und schmeckt auf Butterbrot wunderbar.
Und
fast wäre ich dort abgesoffen. Ich mußte ausprobieren, ob das Eis
auf dem Dorfteich noch hält, wozu ich mich umgedreht auf die Knie
gelassen hatte und mit dem Schuh auftrat. Es war kein Eis, sondern
nur Graupeln. Ich rutschte ab, konnte mich gerade noch an
irgendwelchen Grasbüscheln festhalten und hing bis zum Hals im
Eiswasser. Meine Schwester rannte nachhause, um meinen Vater zu
holen. Der zog mich raus und verabreichte mir die obligatorische
Tracht Prügel. Die hat mich wohl so erwärmt, daß ich nicht einmal
eine Erkältung bekam.
Jeden
Morgen stapften wir durch knöcheltiefen Morast auf der
ungepflasterten Dorfstraße in die Zwergschule, wie sie Lübke so
liebte. Eine winzige Bude für die `Leibeigenen' des Herrn Grafen,
die für die vielen Flüchtlingskinder natürlich nicht ausreichte,
weshalb wir im Flur und auf der Treppe bis in den ersten Stock
standen und saßen. Nun ja, Ordnung muß sein, Kinder müssen in
die Schule, auch wenn ringsumher Kanonen und Granaten krachen und
V2's herumfliegen.
Den
Rest der Flucht, von Anfang Mai 45 bis zum Herbst, als wir in
Bischofsheim in der Rhön ankamen, habe ich auch nur wieder
bruchstückweise in Erinnerung. Zum Beispiel eine Bahnhofshalle am
späten Abend, die brechend voll mit Menschen waren, die überall auf
der Erde lagerten. Plötzlich wurde am anderen Ende die Tür
aufgerissen und zwei Russen kamen rein, schauten sich um und kamen,
leicht angetrunken, schnurstracks auf uns in der entferntesten Ecke
zugesteuert, wo wir, mein Vater, meine Mutter mit dem Säugling
im Arm und wir strohblonden Kinder, meine Schwester und ich,
schreckensbleich hockten. Denn wir wußten ja alle, daß die Russen
Bestien waren. Bei uns angelangt, streichelten sie meiner Schwester
und mir über die Köpfe, gaben uns jedem ein Stück Schokolade,
bahnten sich wieder vorsichtig zwischen all den herumliegenden
Menschen einen Weg und verschwanden. Die Lügenpropaganda der Nazis
hatte einen ersten und ernsten Knacks erhalten.
Oder:
Plötzlich hieß es, weiter vorn seien die Amerikaner. Übergabe. Und
wen sie mit Waffen erwischen, der wird gleich verhaftet. Aus allen
Karren und Autos flogen Waffen in den Graben, auch mein Vater warf
seine Pistole zum Fenster hinaus. Und wirklich tauchten bald darauf
Amerikaner auf, die alle Waffen in den Gräben einsammelten. Aber bis
zur Übergabe dauerte es noch endlos. Und plötzlich kam eine
ganze Einheit Tigerpanzer, der letzte Schrei der deutschen
Waffentechnik, so schnell angebraust, daß die Leute kaum auf die
Seite springen oder fahren konnten. Unser Wagen wurde von vorn bis
hinten aufgeschlitzt, weil die Panzer sich nicht schnell genug
übergeben konnten.
Der
Checkpoint lag am Fuße eines weiten, flachen Hügels, der schon bis
oben hin mit PKW's vollgeparkt war, die von den Amis konfisziert
wurden. Auch mein Vater mußte in die in der Mitte freigehaltene
Gasse hineinfahren, aussteigen und einem Ami Platz machen, der die
Karre einparken wollte. Nun hatte das Auto aber eine
Spezialausrüstung, weil mein Alter ja nur ein Bein hatte. Damit kam
der Ami nicht zurecht. Es ratschte und krachte und schließlich stieg
er fluchend aus und forderte uns zum Weiterfahren auf. Auf diese
Weise hat mein Alter seinen Wagen noch bis 1956 fahren können.
Oder:
Wir kamen in das Zentrum einer Stadt gefahren, ich glaube, es
war Schwerin, der voller englischer Panzer stand, mit geöffneten
Luken und der Besatzung, die sich sonnte und Vesper machte. Irgendwo
platzte ein Reifen - selbst wir Kinder hörten, daß es sich um
einen Reifen handelte - und wie die Wiesel flitzten alle in die
Panzer und schlugen die Luken zu. Sie glaubten, es würde scharf
geschossen.
In
Schwerin blieben wir einige Wochen und ich weiß noch, wie meine
Mutter mir immer, wenn sie mich zum Einkaufen losschickte,
einschärfte, beim Betreten des Ladens `Guten Tag' zu sagen und bloß
nicht `Heil Hitler' zu brüllen.
Über
all dies wurde zuhause niemals mehr ein Wort verloren. Es war, als
hätte es all das nie gegeben. Ich glaube auch nicht, daß meine
Eltern untereinander je darüber sprachen. Das Tabu war so strikt,
daß auch ich mich nicht darüber hinwegzusetzen wagte. Ich vergaß
den Krieg, aber er vergaß mich nicht, sondern war ständig in
meinen Träumen präsent.
Erst
Jahre später erfuhr ich, daß Millionen Deutsche von dem Krieg
herzlich wenig mitbekommen hatten, außer Einschränkungen im Konsum.
Dazu gehörte praktisch die gesamte Landbevölkerung und die Bewohner
der Kleinstädte, die nicht bombarbiert worden sind. In dem Städtchen
Bad Neustadt wußten die doch gar nicht, wovon man sprach, wenn vom
Krieg die Rede war. Ja, man hatte die Bomber zwar gehört, aber sich
auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Natürlich hatte
es in den Familien Tote und Vermißte gegeben, aber das war weit weg
geschehen. Sie hatten nicht den Schlamm und den Dreck, die Toten und
ihre zerfetzten Gliedmaßen, den Rotz und die Tränen gesehen. Die
Wirklichkeit des Krieges war für all diese Menschen unfaßbar,
abstrakt.
Und
zu denen, die den Krieg ebenfalls nur aus sicherem Abstand erlebt
haben, gehörten auch die hohen Herren der Industrie und Verwaltung
und die Parteibonzen sowieso. Der Oberbürgermeister von Freiburg/Bg.
etwa und der Erzbischof, SS-Mitglied von der ersten Stunde an,
schauten sich das Feuerwerk vom Schauinsland aus an, nachdem sie die
Ungeheurlichkeit begangen hatten, Freiburg nicht zur offenen Stadt zu
erklären. Und genau dieses Gesindel stand nach dem Krieg wieder auf
der Matte - in der ersten Reihe. Das wurden die treuesten Anhänger
von dem Lügenmaul am Rhein. Zusammen mit Adenauer betrieben sie
den Wiederaufbau der Armee und der Rüstungsindustrie, die heute
wieder eine der größten der Welt ist. Und wieder haben sie alle an
jedem einzelnen der 100-200 Kriege verdient, die seit Ende des großen
Krieges weltweit geführt wurden. Und sie verdienen noch, ob am
Golfkrieg oder dem Balkankrieg. Einen RAF-Fritzen mit seiner Kanone,
den erwischen sie, aber wenn ganze Schiffsladungen mit Waffen
kreuz und quer verschoben werden, dann läßt sich das nur schwer
kontrollieren und noch schwerer beweisen, daß es sich wirklich
um Waffen handelt. Aber wir stehen fest auf dem Boden der FRGO,
der freiheitlich- rechtlichen Grundordnung.
Das
Fatale an dem Irrwahn meines Vaters war ja, daß er seine ganze
Familie mit hineingerissen hat, d.h. alle krank gemacht hat. Nicht
nur ich war ständig krank, sondern alle. Meine älteste
Schwester starb mit 26 Jahren an einer schweren Zuckerkrankheit,
die sich mit 12 zugezogen hatte. Der Vater selbst mit 58 Jahren an
einem halben Dutzend unheilbarer Krankheiten. Meine Mutter, die ein
Leben lang krank war, so krank, daß sie meist nicht arbeiten konnte
und ich die Hauptlast tragen mußte, wurde fidel und gesund und
steinalt, als ihr Alter erst einmal tot war. Ich wurde dank meiner
Trennung von zuhause gesund, aber meine beiden jüngsten Schwestern
konnten die Bande einfach nicht durchtrennen und zogen sich
schwere chronische Erkrankungen zu.
So
etwas ist eigentlich nur in dem System der Kleinfamilie möglich, wo
die Kinder, diese armen Schweine, auf Gedeih und Verderb allein zwei
Erwachsenen ausgeliefert sind. Wen wundert es, daß Kinder immer
öfter zum Messer greifen und ihre Alten massakrieren. Auch wenn sie
es verdient haben, so sind letztlich auch sie nur arme Schweine
gewesen, die in ihrer Unwissenheit nur verinnerlicht haben, was
ihnen selbst widerfahren ist.
Aus
diesem Teufelskreis auszubrechen, könnte nur durch Erziehung,
Erziehung und nochmals Erziehung gelingen. Aber ich erinnere
mich sehr gut, wie alle unsere Medienferkel höhnisch quiekten, wenn
von den Erziehungsmethoden im China Mao Tsetungs die Rede war. Wenn
das Beispielhafte hervorgehoben und zur Nachahmung empfohlen wurde,
wenn man sich nicht wie bei uns an Mord und Totschlag berauschte,
sich nicht in Blut und Tränen suhlte. Und doch ist das der einzig
richtige Weg: Durch das Beispiel wirken. Weil sich die chinesischen
Genossen selbst nicht daran hielten, scheiterten sie. In den ersten
Jahren nach der Revolution wurden Parteikader für jedes Vergehen
doppelt und dreifach streng bestraft - bis hin zur Todesstrafe.
Und das war richtig, denn niemand wurde gezwungen, ein Kader zu sein.
Er hatte also unbedingt ein Vorbild zu sein. Aber am Ende wurde das
Beispiel nur noch vorgegaukelt, nicht mehr gelebt. Die Apparatschiks
(die Mehrzahl. Wie Hinton, Myrdal u.a. belegt haben, gab es
rühmliche Ausnahmen.) ließen es sich selbst gut ergehen und
schanzten sich gegenseitig Privilegien zu und meinten, das Volk
werde es schon nicht merken. Nun ja, wir wissen alle, wie es ausging:
Deng kam an die Macht und stärkte diesem gewissenlosen Gesindel noch
den Rücken, machte von allem, was Mao gedacht und gewollt hat, das
genaue Gegenteil, unter dem frenetischen Beifall des Westens.
Alle
Pädagogen, Soziologen, Politiker und sonstigen Klugscheißer
sind sich einig, daß den Menschen im allgemeinen und der Jugend
insbesondere heute die Vorbilder, die Beispiele fehlen. Aber wo sind
sie denn, die Vorbilder? Diese Herren im Frack, korrupt und verlogen?
Diese smarten Manager, die in jedem Menschen entweder den Käufer
ihrer Drecksprodukte sehen oder ein Ausbeutungsobjekt? Die Bankiers
und Börsianer, die in der Welt nur ein Anlageobjekt sehen, von dem
sich Coupons schnipseln lassen? Dieses ganze Gesockse! Pah!
Wie
gut läßt sich die Wut der Jugend verstehen. Weil ihr jedes Vorbild
fehlt, schlägt sie alles kurz und klein. Werden aus Kindern schon
Ganoven, die Omas die Handtasche entreißen oder harmlose
Landstreicher auf Parkbänken erschlagen. Die Autos aufbrechen und an
die Wand setzen. Die sich volldröhnen und den goldenen Schuß
verpassen. Die für einen Schuß den besten Freund verkaufen. Die
Ausländer `klatschen gehen' und deren Hütten anzünden und zu
Brandmördern werden. Die einem Erweckungspintscher aus den USA
hinterherlaufen oder einem Guru vom Himalaya.
Man
mag bedauern, daß ihre Wut so fehlgeleitet ist. Würden sie nach Art
des Robin Hood die Reichen anzapfen und deren Rolls Royce die Reifen
aufschlitzen, würden sie sich viele Freunde machen. Daß sie genau
das nicht tun, zeigt nur, daß sie selbst in ihrem anarchistischen
Verhalten noch Konformisten sind, die Respekt vor Macht und Reichtum
haben. Und das wissen die hohen Herren auch zu würdigen, in deren
Augen das Verschwinden dieser Jugendkriminalität gar nicht
wünschenswert ist. Denn im Volk wird die Wut auf diese Jugendlichen
entfacht und damit von ihnen selbst, den eigentlich Schuldigen,
abgelenkt. Also ist doch eigentlich alles in bester Ordnung.
Heute
ist offizieller Herbstanfang, doch ist der Herbst schon vor 14 Tagen
mit unglaublicher Plötzlichkeit hereingebrochen. Vor drei Wochen saß
ich noch mit Freunden auf der Terrasse, von der Hitze völlig
ermattet, darauf achtend, keine unnütze Bewegung zu machen. Oder man
kam aus dem Meer und auf dem Weg zur Dusche fing man wieder zu
schwitzen an. Und dann kamen die scharfen Winde, entweder der Levante
aus dem Osten oder der Poniente aus dem Westen. Und im Nu kühlte
sich das Meer enorm ab, so daß man kaum den kleinen Zeh ins Wasser
stecken mag. Wurden die Abende und Nächte kühl, so daß man
aufpassen muß, nicht eine Erkältung einzufangen, gerade weil es
tagsüber immer noch außerordentlich warm sein kann.
Der
Herbst geht aber nicht, wie bei uns, mit einer Verfärbung des Laubs
einher. Man hat eher den Eindruck, als ob durch die Kühle das Laub
eine neue Farbe und Frische erhält. Und obwohl es nicht geregnet hat
- die paar Tropfen waren nicht der Rede wert - fangen einige wilde
Gräser und Blumen wieder zu blühen an. Das ist ein Phänomen. Aus
dieser verbrannten und völlig ausgetrockneten Erde können sie doch
unmöglich einen Tropfen Feuchtigkeit ziehen. Genügt ihnen die
Feuchtigkeit, die der Nachttau spendet?
Heute
Nacht - war es ein echter Traum oder ein Wachtraum? -
intensiv
an Vilhelm Moberg und an seinen Freitod gedacht. Er ist ohne
Wiederkehr ins Meer hinausgeschwommen. Hat er vorher etwas genommen,
um die Qualen des Erstickens zu lindern? Ich gestehe, daß ich nach
einem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch Angst habe, es könnte
wieder danebengehen, und zweitens möchte ich Qualen vermeiden.
Selbst im Traum war ich mir sicher, daß ich nicht mehr ohne Liebe
leben möchte. Nur die Liebe hat mir die Kraft verliehen, überhaupt
so alt zu werden. Nach dem Fortgang meiner Geliebten habe ich den
Lebenswillen verloren und nichts kann mich mehr trösten. Das Leben
ähnelt jenem in meinem Elternhaus. Ich funktioniere mehr schlecht
als recht; ich lache und weine und freue mich hin und wieder, aber
alles scheint mir so blaß zu sein, wie ein schlechter Farbabzug.
Außerdem habe ich Angst, nicht vor dem Tod oder dem Altwerden (damit
bin ich bisher ganz gut fertig geworden), aber davor, hinfällig zu
werden und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Bei dem Gedanken
laufen mir kalte Schauer über den Rücken.
Eine
Freundin findet schon den Gedanken an Selbstmord schändlich.
Sie meint, man könne sich auf tausenderlei Art und Weisen
nützlich machen, sinnvolle Arbeit leisten, statt einfach das
Handtuch zu werfen. Nun ja, was ist sinnvolle Arbeit? Den armen
Schwarzen zeigen, wie man Brunnen baut? Das konnten die ein paar
tausend Jahre vor uns besser als wir. Feuchtbiotope von ein paar
Quadratmetern anlegen? Während allein in den USA jährlich
hunderttausende Hektar Feuchtbiotope vernichtet werden? Ein paar
Analphabeten in Hamburg das ABC beibringen? Während
hunderttausend neue jährlich die Schulen verlassen? Ich will
aufhören, weil es so verdammt defätistisch klingt und ich
Defätismus immer gehaßt habe.
Die
einzige Zeit, die mir sinnvoll erschien, waren die 68-er Jahre. Zum
ersten Mal in meinem Leben gab es mehr als ein halbes Dutzend
Leute, die ähnliche Gedanken hegten und dafür zu arbeiten gewillt
waren. Ich, der ewige Einzelgänger, entdeckte damals meinen Spaß an
kollektiver Arbeit. Und noch sinnvoller wäre für mich ein Kollektiv
nach Art der Kommunen in China gewesen. Gemeinsam den Aufbau planen
und in die Tat umsetzen - vom Haus- und Kanalbau bis zur
Terrassierung der Felder und der Errichtung von Werkstätten und
Schulen. Musik- und Theatergruppen in jedem Dorf. Gemeinsame
Feste mit Tanz und Gesang und gutem Essen. Das war der Weg zur
Marx'schen Vision vom allseitig gebildeten Menschen.
Doch
wie kurz war der Atem der meisten 68-er und auch der chinesischen
Genossen. Nach kurzem Aufbegehren sanken sie schlapp in die
Fernsehfauteuils zurück und widmeten sich der Aufgabe `Bereichert
euch'. Wobei Deng noch die Frechheit besitzt, dies als
sozialistischen Weg zu preisen. Schon als Deng damals in die USA
reiste und sich nicht entblödete, mit Cowboy-Hut vor den Kameras zu
paradieren, schauten Joachim Schickel und ich uns nur an und wußten,
daß das nichts Gutes verheißt. Trotzdem bin ich nach wie vor der
Meinung, daß es richtig von Mao Tsetung war, das Problem Deng
nicht einfach à la Stalin durch Genickschuß gelöst zu haben. Das
Problem `Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, die Hauptsache,
sie fängt Mäuse' hätte man vielleicht offensiver, weniger
dogmatisch, durch gründlichere Diskussionen mit mehr Witz und
Humor angehen müssen.
Dabei
fällt mir ein, daß es in den 20-er Jahren in Belgien eine Kampagne
gegen die Faschisten gegeben hat, die durch ihren Witz
vernichtend gewesen sein muß, so daß deren Partei keinen Fuß mehr
auf den Teppich bekam. Das sollte man sich gerade heute noch einmal
genauer anschauen. Vielleicht könnte man daraus etwas lernen.
Gerade
ist ein Buch über den großen schwedischen Fotografen Rune Hassner
erschienen mit einem Text von Jan Myrdal. Ein Foto finde ich
besonders anrührend: Zwei Frauen, die eine im Dessous, in die Kamera
lächelnd, die andere nackt, halb von einer Mauer verdeckt, in die
Ferne blickend. Der Titel: Das Hauptquartier der Fremdenlegion in
Sidi-bel-Abbés, 1953. Mit anderen Worten: Ein Bordell. Was aus den
beiden Schönen wohl geworden ist? Im Lande konnten sie nach der
Unabhängigkeit bestimmt nicht bleiben. Also sind sie mit den
Besiegten nach Frankreich gegangen, um dort in einem Puff
weiterzumachen, wenn sie nicht längst vorher von Krankheiten
dahingerafft worden sind. So sah die Zivilisation aus, die da
von der Grande Nation verteidigt wurde. Siphilisation, wie wir immer
zu sagen pflegten.
Wenige
Jahre nach diesem Foto, etwa 1958, fiel mir das Buch `La Gangrène'
in die Hand, dessen deutsche Fassung von der Regierung Adenauer
eingestampft wurde - im Namen der deutsch-französischen
Freundschaft. In Paranthese: Es war nicht das einzige Buch, das von
den Christdemokraten eingestampft wurde. Die Synchronoptische
Weltgeschichte von Peters, die fertig zur Auslieferung an die Schulen
in Hessen bereit lag, erlitt dasselbe Schicksal, weil Peters
auch alle Aufstände, Rebellionen und Revolutionen aufgenommen hatte.
In `Gangrène' wurden die Foltermethoden der Franzosen in Algerien
dokumentiert, die denen der SS in nichts nachstanden. Eine
entsetzliche Lektüre, die erste dieser Art, die ich neben den
Dokumenten über die KZ's in Deutschland kennengelernt habe. Dabei
drängte sich mir die Frage auf, ob die Deutschen womöglich nicht
die einzigen Ungeheuer auf dieser Welt sind, wie uns glauben gemacht
wurde.
Nach
`Gangrène' las ich im Laufe der Zeit unzählige andere Berichte, in
denen sich jeweils nur die Namen änderten. Die Invasionsarmeen in
der jungen Sowjetrepublik; die Amis in den Philippinen und später in
Korea und Vietnam; die Holländer in Indonesien; die Engländer in
Indien, Burma, Afghanistan und wo immer sie ihren Fuß hinsetzten;
die Russen bei der Eroberung Sibiriens; die Belgier im Kongo; die
Portugiesen in Angola, Guinea-Bissao und Moçambique; die spanische
Oberschicht in praktisch allen lateinamerikanischen Staaten; die
Italiener in Äthiopien; die Israelis im besetzten Palästina; und
natürlich die Deutschen in ihren Kolonien. Neben den monotonen,
ständig sich wiederholenden Methoden von Folter, Mord und Totschlag
schälte sich eine weitere Konstante heraus: Diese Verbrechen wurden
immer von weißen Christen oder von ihren bezahlten Söldlingen
verübt. D.h. die Opfer waren Schwarze, Gelbe oder Rote. Und ihre
Zahl muß nach Dutzenden von Millionen berechnet werden.
Und
das sind nur die Opfer unmittelbarer Einwirkung von Gewalt. Rechnet
man jene Opfer hinzu, die durch Hunger und Mangelernährung, durch
Ausnutzung ihrer Arbeitskraft oder durch ihren Einsatz in den Kriegen
der Weißen entstanden sind, dann sind es wohl hunderte von
Millionen. Es läßt sich also durchaus sagen, daß die weißen
Christen die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit
sind, neben der alle Seuchen, Pest und Cholera inklusive, verblassen.
Hinzu kommen der systematische Diebstahl von allem, was nicht
niet- und nagelfest war und die Vernichtung unschätzbarer
Kunstwerke. Müßten die weißen Christen das alles zurückgeben,
d.h. auch die beiden gestohlenen Kontinente Amerika und Australien,
bzw. mit Zins und Zinseszins zurückzahlen, stünden sie nackt und
arm wie die Kirchenmäuse da, die versuchen würden, die Meerenge von
Gibraltar zu durchschwimmen, um sich in Afrika einen Lebensunterhalt
zu verdienen.
Diese
Wahrheiten darf man aber nicht laut sagen, das ist ein Sakrileg. Ich
als Nichtchrist, der ein Leben lang unter der Tyrannei der Christen
hat leiden müssen, sage sie laut, auch wenn ich als Fanatiker
beschimpft werde, was immer die beliebteste Methode aller
Fanatiker war, ihre Gegner mundtot zu machen. Tyrannei? Wie
denn, wo denn, was denn? Ja, es ist genau so, wie mir
schwarz-amerikanische Freunde immer gesagt haben: Die Weißen, selbst
die Wohlmeinendsten, merken gar nicht, wenn sie die Rechte und
Gefühle der Schwarzen mit Füßen treten. Und die Christen merken
genausowenig, wenn sie Minderheiten unterbügeln.
Das
fängt doch schon bei Kleinigkeiten an, etwa mit dem Glockengebimmel,
das einen zu nachtschlafender Zeit weckt. Oder all die Buden, aus
denen man rausgeflogen ist (Morgen ist für Sie der erste!), weil ein
Mädchen zu Besuch war. Diesen Miststücken von Vermieterinnen
(es waren tatsächlich immer Frauen) genügte nicht die saftige
Miete, die sie verlangten, sondern sie mischten sich auch stets in
das Sexualleben ihrer Untermieter ein.
Und
die Prügel, die ich von dem Leiter eines Sommerlagers bekam,
als ich in meiner Unschuld zwischen den Beinen eines Mädchens
saß, das wohlgemerkt Hosen anhatte, und verspielt den Kopf
zurückfallen ließ. Ich wußte damals nicht und weiß es bis heute
nicht, was sich der Typ dabei gedacht hatte. Er muß wohl eine extrem
dreckige Phantasie gehabt haben.
Und
die Zensur der Filme und Radioprogramme. Jahrzehntelang nach dem
Krieg wurde doch jeder nackte Busen überklebt oder weggeschnitten,
jede Kritik an der Kirche ausgeblendet. Aber Gewalt ohne Ende. Das
schadet den Kindern ja nicht, wenn sie sich frühzeitig dran
gewöhnen. Aber einen Fick sehen, das schadet der Seele. Mir dreht
sich der Magen um, wenn ich nur die Gewaltvideo-Spiele in all den
Spielhöllen sehe, die voller Kinder sind.
Und
die Zensur in den Schulbüchern. Die Kinder werden gezwungen,
lauter Lügen zu lernen, möglichst auswendig. Das Allerwenigste
ist wahr, aber schließlich dient das ja einem heiligen Zweck.
Und
die Abtreibungen. Damals, in den frühen 60-er Jahren. Das war ein
Vergnügen. Natürlich gab es immer und überall, selbst in dem
erzkatholischen Freiburg, Ärzte für die Reichen, die ein kleines
Mißgeschick behoben. Entsprechend waren ihre Honorare.
Unerschwinglich für die kleinen Leute und auch für Studenten.
Wir mußten bis nach Berlin fahren, um einen Arzt zu finden, der
einem nicht das letzte Hemd auszog.
Von
den permanenten politischen Einflußnahmen der Kirche ganz zu
schweigen. Und von der Politik der christlichen Politiker war schon
genug die Rede. Nur einen Punkt möchte ich noch berühren, den
ich besonders empörend finde. Mit Steuergeldern werden die
Sozialdienste der Kirchen zu einem außerordentlich hohen Prozentsatz
bezuschußt. Die Leistungen schreibt sich die Kirche dann
hundertprozentig selbst zugute und besitzt außerdem noch die
bodenlose Frechheit, von Leuten, die in ihren Sozialdiensten arbeiten
wollen, den Kircheneintritt zu verlangen.
Widerliche
Beispiele von Tyrannei der christlichen Kirchen habe ich auch in
Tanzania erlebt. Aber ich habe sie nicht einmal in meinem Buch
über Tanzania niedergeschrieben, weil kein Mensch das glauben würde.
Man muß das einfach gesehen und erlebt haben.
Von
einem Rechtsstaat, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten
haben (was auch die gleichen Rücksichtnahmen auf alle seine
Mitglieder bedeuten würde), sind wir also himmelweit entfernt.
Selbst unter den Christen soll es ja schon immer welche gegeben
haben, die etwas gleicher als die anderen gewesen sind.
Die
spanische Großfamilie, die einerseits ein Instrument strikter
sozialer Kontrolle und Einschränkung des Individuums ist, bietet
andererseits allen ihren Mitgliedern ein Maximum an Geborgenheit und
Sicherheit, und ist auch die Garantie dafür, daß die
Verbindung zum Heimatdorf nicht verloren geht. Bei uns will der
jüngst zum Städter avancierte Bauer nach Möglichkeit nicht an
seine Vergangenheit erinnert werden. Hier haben die Jungen aus
Respekt und Verehrung fast immer die Eltern bei sich, wodurch
auch die Vergangenheit lebendig gehalten wird. Viele meiner
hiesigen Freunde erzählen voller Stolz, daß sie unter ärmsten
Verhältnissen in gottverlassenen Dörfern aufgewachsen sind, zu
denen es vor 20 Jahren noch nicht einmal eine Straßenverbindung gab.
Zwei
solcher Dörfer sind Lagos und Los Tablones. Beide Dörfer sind heute
beinahe menschenleer. Höchstens ein halbes Dutzend Leute lebt noch
dort. Die meisten Bewohner haben die Dörfer in den 50-er und 60-er
Jahren verlassen, nicht nur das Dorf, sondern auch ihre Heimat,
auf der Suche nach Arbeit. Viele sind nach Katalunien oder ins
Ausland gegangen. Ein Großteil dieser Leute sind heute als
Pensionäre zurückgekehrt, wobei einige ihrer Söhne und Töchter
zurückgeblieben sind, weil sie im Ausland Familie gegründet
haben.
Juan
gehört zu ihnen. Er verbringt vier Tage der Woche in Lagos,
drei Tage in seinem Haus in Motril und einige Monate bei seinen
beiden verheirateten Söhnen in Frankreich. Er erzählt, welch
entsetzliche Armut in dem Dorf noch in den 50-er Jahren zur
Franco-Zeit herrschte und wie übervölkert es war. Der
Bürgermeister sei ein getreuer Franco- Anhänger gewesen und
habe das Dorf nach Kräften ausgebeutet. Und der größte Denunziant
sei er auch gewesen.
Aber
es hätte ein starker Zusammenhalt geherrscht. Wenn ein Bewohner ein
Schwein schlachtete, bedeutete das ein Fest, an dem alle teilnahmen.
Es wurde gefressen und gesoffen, getanzt und Musik gespielt, und der
Eigentümer des Schweines hatte am nächsten Tag kaum einen
Wurstzipfel aufs Brot.
Das
Dorf lebte mehr schlecht als recht von Landwirtschaft. Wo immer an
den verkarsteten Gebirgshängen eine Krume fruchtbarer Boden zu
finden war, wurde eine Terrasse angelegt, mit Hafer, Mandel- oder
Olivenbäumen. In dem winzigen Tal neben dem Dorf konnte etwas Gemüse
gezogen werden. Ziegen hatte man ebenfalls und ein paar Bienenvölker.
Und gewildert wurde natürlich auch nach Kräften. Hier ein Karnickel
gefangen, dort einen Vogel geschossen und das größte war, oben in
den Bergen eine Gemse zu erwischen. Dennoch mußten zu allen Zeiten
viele Männer andernorts Säsonarbeit verrichten.
Die
15 km lange Straße habe man auch in gemeinschaftlicher Arbeit
gebaut. Eine gewöhnliche Schotterstraße, die nicht einmal
später von der Regierung geteert worden sei. Und heute ist das nicht
mehr notwendig, weil es keine Bewohner mehr gäbe. Man muß eben nur
lange genug warten, dann erledigen sich manche Probleme von
selber.
Juan
zeigt mir auch die schlichte Schule, heute völlig verfallen,
die er noch besucht hat. Sieht man die vielen eingestürzten
Häuser in dem Dorf, könnte man meinen, daß es vor Jahrhunderten
aufgegeben worden sei. Dabei liegt es gerade 20 bis 30 Jahre zurück,
daß in jedem der winzigen Häuschen Großfamilien lebten.
Aber
viele Häuser sind gut erhalten, weil sie von ihren Besitzern
als Wochenend- oder Sommerdomizil benutzt werden. Und einmal im Jahr,
am 3. Oktober, dem Fest des heiligen Schutzpatrons treffen sich
fast alle früheren Bewohner wieder mit tausenden von Gästen.
Am
5. September fand in Los Tablones das jährliche Fest statt. Drei
Tage lang gab es einen kleinen Rummelplatz und Wettkämpfe für
Kinder, Feuerwerk, Wettkämpfe im Scheibenschießen, Kartenspiel,
im Fußball und Petanca, Pop- und Folkkonzerte, eine riesige
Tanzfläche, auf der die Nächte durchgetanzt wurden. Tanzgruppen
erwachsener Frauen und junger Mädchen führten wunderschöne
traditionelle Tänze auf und ein alter Mann trug zwischendurch
seine eigenen Gedichte vor. Junge Burschen kamen zu Pferde ins Dorf
hochgeritten, mit der Liebsten hinter sich auf dem Sattel. Aber die
meisten, viele Tausende, kamen doch mit Motorrad und Auto, was auf
der schmalen Straße zu einem Verkehrschaos führte.
Man
kann sich natürlich fragen, warum die Bewohner dieser Dörfer
nicht öfters gemeinsam Feste feiern, einfach unter sich, ohne diese
Gigantomanie, da sie doch alle melancholisch den vergangenen Zeiten
nachtrauern. Das ließe sich dort oben sehr einfach bewerkstelligen.
Ein paar Leute, die selbst Musik machen oder meinetwegen ein
Radio aufstellen, ein, zwei Krüge Wein und fertig. Es müssen nicht
wie bei uns in der Großstadt Straßen gesperrt werden, wofür die
polizeiliche Erlaubnis eingeholt werden muß, es hagelt nicht
gleich polizeiliche Anzeigen, wenn ein bißchen Musik gemacht
wird und das Wetter macht einem hier auch keinen Strich durch die
Rechnung. Auch wohnen in einer Stadt in einer einzigen kleinen Straße
schon ein paar tausend Leute, die mit Getränken zu versorgen, schon
logistische Planung erfordert. Aus diesen Gründen sind bei uns
alle Ansätze zu den Straßenfesten gescheitert. Was heute unter
diesem Namen firmiert, sind reine Geschäfts- und Konsumorgien.
Na ja, vielleicht liegt es daran, daß die Spanier gar nicht so
begeisterte Tänzer sind, wie man immer glaubt; daß sie mit Musik
allein nicht zufriedenzustellen sind. Es gehört zu einem richtigen
spanischen Fest ein Essen, viel zu essen.
Einige
Male habe ich hier oben mit den Boule-Freunden kleine Feiern gemacht
und immer mußte eine Menge Fleisch organisiert werden und Tomaten
und Zwiebeln und Brot und Öl und Getränke, möglichst eisgekühlt,
und Holzkohlen zum Grillen. Und der Einfachheit halber überläßt
man das dem `Veranstalter', der dann noch das Vergnügen hat, das
Geld einzutreiben, das Geschirr zu waschen und den Saustall wieder in
Ordnung zu bringen. Das macht man dreimal und dann läßt man es. So
einfach ist das.
Ich
weiß auch nicht, warum sich die Menschen in allem und jedem das
Leben so kompliziert machen. Vor 31 Jahren haben wir in Guardamar del
Segura, dreihundert Kilometer weiter nördlich, auch Feste gefeiert.
Wir sind in aller Frühe oder abends zum Fischfang gegangen, à la
peseta. Ein paar Mann ruderten mit dem Netz hinaus und kamen in
einem weiten Bogen zurück an Land, während die übrigen das andere
Netzende an Land festhielten. Dann wurde das Netz gemeinsam
eingeholt. Es war jedes Mal mehr als genug für uns drin.
In
einem Garten wurde ein Feuer gemacht und ein großer Kessel
hingestellt, in den nach bestimmten Regeln eine Schicht nach der
anderen gelegt wurde: Öl, Fisch, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten,
Knoblauch, Fisch, Kartoffeln, Gewürze, Fisch usw. Es gab einen
großen Ballon mit Wein und fertig. Der eine oder andere hatte eine
Gitarre dabei, es wurde gesungen und getanzt und diskutiert und
gelacht. Man mußte keine Gläser haben und keine Teller - jeder
bekam einen Löffel in die Hand gedrückt und getrunken wurde direkt
aus der Flasche, nach Art der Spanier, ohne sie mit dem Mund zu
berühren.
Guardamar
del Segura war in vieler Hinsicht ein interessantes Dorf. Im
Bürgerkrieg war es rot gewesen und die Bewohner hatten mit den
Grundbesitzern so gründlich aufgeräumt und das Land aufgeteilt, daß
keiner nach dem Krieg kommen konnte, um seinen Besitz
zurückzufordern. Deshalb war es auch zur Zeit von Franco relativ
wohlhabend, zumal der Rio Segura, wie der Name sagt, ein sicherer
Wasserlieferant war, die Felder also immer bewässert werden konnten.
Aber
die Repression war haarsträubend. Nachdem wir eine Weile beäugt
worden waren, öffneten sich uns allmählich die Menschen und
erzählten uns alles, was an Schweinereien passierte. Eine beliebte
Methode der Franco-Administration war es, in der Nacht zwei Mann von
der Guardia Civil mit MP's behangen zu einem Bauern zu schicken, ihn
zu zwingen, seine direkt am Strand belegenen Felder kostenlos
abzutreten, indem er seine Unterschrift unter ein Papier setzte.
Diese Grundstücke wurden dann an Ausländer und internationale
Konsortien verscheuert und heute kann sich jeder das großartige
Ergebnis dort anschauen gehen.
Der
Haß der Bevölkerung auf Franco, auf die Pfaffen und auf die
Amerikaner war in Guardamar sehr ausgeprägt. Die Amis bauten
gerade in der Nähe eine der größten Horchstationen in Europa.
Ab und zu kamen deshalb auch Amis in unser Dorf und führten sich auf
- nun, wie Amis sich eben immer aufführen. Sie betraten eine Bar und
luden mit großmäuliger Geste alle Anwesenden zum Drink ein.
Daraufhin standen regelmäßig alle Anwesenden auf und verließen das
Lokal. Das fand ich damals enorm beeindruckend.
Das
Appartment unter uns bewohnte ein spanischer Ingenieur, der für den
Bau der Horchstation verpflichtet worden war. Ab und zu, wenn wir bei
ihm unten zu einem Glas Wein waren und das Gespräch kam auf Franco
und die Amerikaner, geriet er so in Rage, daß seine Frau wie ein
aufgeregtes Huhn um ihn herumsprang, ihm den Mund zuhielt, zum
Fenster rannte, die Läden schloß, wieder zu ihm, um ihn zu
beruhigen. Aber zum Glück gab es in dem Dorf wohl sehr wenig
Denunzianten.
Einer
meiner speziellen Freunde wurde der asthmatische Wirt im Restaurant
am Strand. Irgendwann stieg er in eine Kammer unter dem Dach und
holte die verbotenen Bücher von Blasco Ibañez herunter. Auf diese
Weise lernte ich einen der großen Aufklärer und Schriftsteller
Spaniens kennen.
Die
Legende berichtete, daß das alte Guardamar durch die Sanddünen
verschüttet worden sei, weshalb irgendwann die wandernden Dünen
mit Pinien und Eukalyptus befestigt und ein
neues
Dorf gebaut worden sei. Als ich im vorigen Jahr widerstrebend
Guardamar besuchte, hatte man tatsächlich das alte, maurische Dorf
gefunden und ausgegraben und den ersten archäologischen Park
Spaniens eingerichtet.
Ich
glaube, in jener Zeit fiel mir auch durch einen Zufall das Buch `La
Chanca' von Juan Goytisolo in die Hände. Es war dies eine Art
Reisebericht und Sozialreportage, die er in der Mitte der 50-er Jahre
in Almeria gemacht hatte. Das Buch wurde augenblicklich verboten
und der im Pariser Exil lebende Autor mit Haßtiraden bedacht. `La
Chanca' und `Reise in Afghanistan' von Myrdal haben den größten
Einfluß auf mich gehabt.
Aber
nicht nur mir hat `La Chanca' ungeheuer viel bedeutet. Als ich Ende
der 80-er Jahre eine Reportage über La Chanca, das Stadtviertel der
Armen in Almeria machte, erfuhr ich von ihren Bewohnern - Sinti und
Roma und Spanier - daß das Buch im Untergrund zirkulierte und
außerordentlich dazu beigetragen habe, ihr Selbstbewußtsein zu
stärken. Das ist heute noch am Geist der Bürgerinitiative zu
spüren, die hauptsächlich von Frauen getragen wird, und die La
Chanca bewohnbar gemacht hat. Almeria zeigte seine Dankbarkeit, indem
es bald nach Francos Tod Juan Goytisolo zum Ehrenbürger ernannte und
ein Goytisolo-Archiv einrichtete.
Bruchstückweise
trug ich so die Steinchen zusammen, die irgendwann das Mosaik meiner
Person ausmachten. Aber nach wie vor traute ich mir selbst nichts
Besonderes zu, wich ich auch gerne schwierigen Aufgaben aus. Vor
allem fehlte es mir immer an jedwedem Ehrgeiz. Wobei ich mir nicht
sicher bin, ob ich nicht irgendwann den Mangel an Selbstvertrauen
einfach durch den Mangel an Ehrgeiz ersetzt habe. Jedenfalls trat ich
immer gerne zurück, wenn irgendjemand eine bestimmte Aufgabe besser
machen konnte.
So
bin ich geradezu genötigt worden, mein erstes Buch zu schreiben. Als
wir im Mai 1968 aus Schweden zurückkehrten und mitten in die
Ereignisse in Frankfurt hineinfielen, brachte ich aus Stockholm eine
Menge Informationen über Indonesien mit. In der Bundesrepublik
wurden die ungeheuren Massaker, die das Suharto-Regime an den
Demokraten, den Nationalisten und Kommunisten angerichtet hatte,
einfach tot geschwiegen. Ich drängte daher ständig die Freunde vom
SDS, etwas zu tun, Solidaritätsveranstaltungen u. dgl. zu
organisieren. Alle versprachen stets, demnächst etwas zu
machen, aber es geschah nichts. Nun, irgendwann kam heraus, daß
keiner etwas Genaues wußte.
Ich
glaube, es war einer der Wolf-Brüder, der am Ende zu mir sagte: Wenn
du etwas weißt, dann mach' du doch was. Daraus entstand mein erster
öffentlicher Vortrag im Club Voltaire. Und aus dem erweiterten
Papier wurde die erste Broschüre, die vom SDS herausgegeben wurde.
Und aus der Broschüre wurde scließlich ein umfangreiches Buch:
Analyse eines Massakers. Es war die minutiöse Nachzeichnung der
Ereignisse vom September 1965 und der Beweis, daß der Staatsstreich
von langer Hand und tatkräftiger Unterstützung des CIA vorbereitet
worden war. Selbst bürgerliche Kritiker mußten zugeben, daß meine
Beweisführung hieb- und stichfest war. Allerdings war ich auch
durch viele indonesische Freunde mit ausgezeichnetem Material
versehen worden.
Aber,
weder mein erstes Buch noch die folgenden Publikationen haben
verhindert, daß bis heute sämtliche Medien, von den
renommiertesten Zeitschriften bis zum Fernsehen, sowie die
Herren Professoren an den Universitäten die Version der
faschistoiden Suharto-Clique verbreiten. Zehn Jahre Arbeit also
für die Katz.
Und
dieses Resümee kann ich eigentlich aus allen meinen Tätigkeiten
ziehen. Jene, die die Solidarität mit Vietnam in dem Moment
aufsagten, als Laos und Kambodscha okkupiert wurden, waren plötzlich
`Verräter'. Eine der ersten Dritte-Welt-Gruppen organisierte in
Frankfurt die Solidarität mit Moçambique und als wir gegen den Bau
des Cabora-Bassa-Staudamms vor dem Battelle-Institut protestierten,
bezogen wir Prügel von der Polizei. Aber ein paar Jahre später
verweigerte man mir die Einreise nach Moçambique, weil man sich dort
inzwischen stark nach Moskau hin orientiert hatte (und die DKP, wie
alle Bruderparteien der KPdSU, brüderliche Spitzeldienste
leistete). Zehn Jahre Solidaritätsarbeit für die Volksrepublik
China und ihre Anerkennung machte aus uns allen am Ende eine persona
non grata. Jahre der Solidaritätsarbeit mit Afghanistan brachte uns
die Beschimpfung durch alle `Linken' der Republik ein und nach
Afghanistan würde ich heute lieber nicht reisen wollen, weil die
Wahrscheinlichkeit groß wäre, von einem der Fundis ein Pfund Blei
in den Bauch zu bekommen.
Trotzdem
bereue ich nichts. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß unsere
Solidarität mit Vietnam, mit Indonesien, mit den afrikanischen
Ländern, mit China und mit Afghanistan richtig und notwendig war.
Nicht wir sind es, die unsere Prinzipien verraten haben.
Außerdem
habe ich nie etwas in Erwartung einer Belohnung getan wie die
Christen, die ihre guten Taten nur vollbringen, um einen Platz zur
Rechten Gottes zu erhalten, um dort dann bis ans Ende aller Tage
Hallelujah schreien zu dürfen. Allerdings, und das gebe ich gerne
zu, stört es mich heute noch, wenn man am Ende offene Feindschaft
erntet, nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch privat. Das
ist eine Erfahrung, die ich immer häufiger mache. Reiß dir für
Freunde oder Bekannte ein Bein aus - das meine ich wörtlich, nicht
mal eben das Auto verleihen oder eine Kiste auf den Dachboden
schleppen, sondern ein oder zwei Wochen richtig schuften für einen
Freund - und du kannst sicher sein, eines Tages als baziger Lump und
selbstsüchtiger Schuft bezeichnet zu werden, den man nicht mehr mit
dem Arsch anschaut. Denn die meisten Leute glauben, daß du glaubst,
sie müßten Dankbarkeit zeigen. Und dieser Gedanke ist ihnen
wohl so unerträglich, daß sie nicht anders reagieren können. Sei's
drum. Auch daran gewöhnt man sich mit der Zeit.
Die
meisten Menschen sagen dann: Er hat mich getäuscht, er hat mich
enttäuscht, ich bin enttäuscht. Aber ich glaube, man täuscht sich
nur immer selber. Meistens weiß man doch schon Bescheid, wenn die
Leute den Mund aufmachen. Und wenn ich mich richtig anstrenge, dann
weiß ich es schon, bevor sie den Mund aufmachen. Ich brauche sie nur
eine Weile zu beobachten, die Bewegungen ihres Mundes, ihres
Gesichtes, ihrer Hände zu sehen, und ich kann sagen, was an
ihnen dran ist. Meist ist es nicht positiv. Wie oft hat das
Freundinnen in Rage gebracht: Du bist arrogant. Du hast nichts als
Vorurteile. Du kennst den oder die gar nicht. Hast gar nicht mit
ihnen gesprochen. Wie kannst du so etwas sagen? Aber es verging oft
nicht allzu viel Zeit, bevor ich Recht erhielt. Manchmal allerdings
dauerte es etwas länger, einmal 15 Jahre. Ein Student, den ich an
der Uni kennengelernt hatte, hatte ich sofort als Menschen
eingestuft, dem man kein Vertrauen schenken dürfe, auf den kein
Verlaß sei. Aber er erwies sich als gebildet und kameradschaftlich
und ich glaubte am Ende, ich habe mich in meinem Urteil getäuscht.
Und erst viele Jahre später hat sich gezeigt, daß ich Recht hatte.
Das hat mir wahrhaftig niemals Genugtuung bereitet.
Und
warum täuscht man sich selbst? Nun, jeder weiß, daß man im Leben
höchstens ein halbes Dutzend Freunde hat. Würde man sich auf sie
beschränken, müßte man sich ständig abschotten und man würde
sehr allein sein. Also nimmt man all die anderen mit in Kauf, und mit
der Zeit, weil doch alle sooo nett sind, täuscht man sich selbst,
sieht in ihnen mehr, als sie selbst jemals für möglich halten
würden.
Und
um wie vieles leichter täuscht man sich, wenn es um Frauen geht, und
gar, wenn sie ein hübsches Frätzchen und einen süßen Body haben
(bei Frauen spielen andere Kriterien eine Rolle).
Laut
einer UNO- Untersuchung stehen bei ihnen überwiegend und weltweit -
mit Ausnahme eines einzigen und zwar afrikanischen Landes - Geld und
Macht an erster Stelle. Eine Bekannte etwa brachte es auf den
einfachsten Nenner: Sie nannte nur immer die Automarke. Ich habe
einen GTI oder einen Porsche kennengelernt.). Dabei sollte man
im Gegenteil gerade dann sehr genau hinschauen, auch wenn es schwer
fällt.
Wie
ich zu dieser Einsicht gekommen bin, kann ich unmöglich mehr sagen.
Jedenfalls habe ich mich in Frauen nie getäuscht, konnte daher auch
nicht enttäuscht werden. Dadurch ergaben sich jahrelange
Beziehungen, die von Zuneigung und Zärtlichkeit, von
Aufrichtigkeit und Achtung geprägt waren. Vielleicht habe ich
deswegen auch viele, viele Jahre lang vor allem Umgang mit
Frauen gehabt. Sowohl intellektuell als auch emotional habe ich
ihnen viel zu verdanken, habe ich ihnen zu verdanken, daß aus
mir ein Mensch geworden ist. Mehr noch. Ihrer Liebe verdanke ich, daß
ich überhaupt noch am Leben bin. Tant pis.
Sehr gute Gedichte. Die Erinnerungen müssen vielmehr Konkretes haben. Du verstehst nicht dass dein eiegnes Leben ein encyklopedie is wo die meisten ein dünnes Buch haben. Schrieb das auf!
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